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Kapitel Fünf

Freitag, 16. September 2016

Morgens

Am Morgen weckt Tom Meli sanft mit frischem Kaffeeduft und aufgebackenen Croissants. Da das Haus erst im nächsten Jahr behindertengerecht umgebaut wird, haben sie kurzerhand ihr anfänglich provisorisches Schlafzimmer im geräumigen Wohnzimmer belassen. Nah am Kamin mit dem herrlichen Ausblick auf den See.

»Heute ist Meli-Tag«, eröffnet Tom das gemütliche Frühstück im Bett und gibt Meli einen Kuss auf die Stirn.

»Wieso nur heute?!« Sie macht ein mürrisches Gesicht, hält die gespielte Enttäuschung aber nicht lange durch. Sie juchzt verliebt und will ein wenig hochrutschen, doch ihre Motorik in den Oberarmen ist noch nicht so ausgeprägt. Tom nimmt schnell ein paar Kissen und setzt sie geschickt auf.

»Mein privater Pflegedienst ist so wunderbar!« Meli strahlt ihn glücklich an, er lächelt kommentarlos zurück. Sie frühstücken ausgiebig. Meli hat ihr Fernglas neben sich auf dem Boden liegen und schaut ab und an hindurch. Nach dem Frühstück möchte sie das erste Mal im neuen Heim baden. Tom trägt sie in das große Badezimmer im ersten Stock. Das Ambiente zeugt von jahrzehntelanger Nutzung: giftgrüne Fliesen, teilweise mit Rissen, schwergängige Armaturen, vergilbtes Wasch- und Toilettenbecken. Und doch fühlt sie sich wohl in diesem Bad. Mit ein paar Kerzen, ätherischen Ölen und einer angenehmen Temperatur hat Tom daraus einen Tempel der Entspannung gezaubert. Langsam setzt er sie auf einem Stuhl ab, dann beginnt er, ihr den seidenen Schlafanzug auszuziehen. Sie lässt es mit sich geschehen. Seine sanften Hände auf ihrer Haut bereiten ihr ein wohliges Vergnügen. Das Wasser in der Wanne ist bestens temperiert und so gleitet sie, mit seiner Hilfe, Zentimeter für Zentimeter hinein. Auf den Boden der Wanne hat Tom eine Sitzmatte gelegt, sodass Meli nicht unter Wasser rutschen kann. Eine kleine Vorsichtsmaßnahme, obwohl er die ganze Zeit bei ihr sein wird. Mit einem weichen Schwamm rubbelt er ihr über den Rücken, die Arme und die Beine, an denen sie es allerdings nicht spürt. Mit einem kleinen Bottich lässt er Wasser über ihre langen dunklen Haare laufen und wäscht ihr dann behutsam den Kopf, spült das Shampoo wieder aus und frottiert die Haare sanft trocken. Nachdem er sie aus dem Wasser gehoben und am ganzen Körper abgetrocknet hat, zieht er ihr ihre Lieblingsklamotten an – Jogginghose, T-Shirt, ein dicker, kuscheliger Hoodie und ihre Lieblingssneaker –, trägt sie wieder nach unten ins Erdgeschoss und setzt sie in ihren Rollstuhl. Meli schnappt sich ihr Beauty-Case, rollt vor den großen Flurspiegel, legt sich eine Gesichtscreme auf und verteilt eine Kur in ihren Haaren.

»Du siehst zauberhaft aus, lass uns eine Spritztour machen!« Tom klimpert mit dem Autoschlüssel und zwinkert ihr bewundernd zu.

»Was hast du vor?«

»Wir fahren nach Templin, zwanzig Kilometer von hier, einen Kaffee trinken und ein wenig einkaufen, was meinst du?«

Aufgeregt wie ein kleines Kind nickt Meli, die von der weiteren Umgebung und vom nächsten Ort noch nichts gesehen hat. »Was soll ich anziehen?«

»Du bleibst einfach, wie du bist, das passt wunderbar!« Tom lächelt.

»Ich richte noch schnell meine Haare ein wenig, dann können wir …«

»Und ich mache derweil das Tor auf und den Wagen startklar!« Tom dreht sich um und ist schon zur Haustür raus. Mit geschickten Bewegungen bürstet Meli ihre Haare. Es ist ein Geschenk, dass ich das noch so machen kann, denkt sie, und betrachtet sich und das Ergebnis zufrieden im Garderobenspiegel. Ihre Haare sind noch immer so schön wie früher. Dann wandert ihr Blick auf dem Spiegel, der sie bis zu ihrem Bauch abbildet, nach unten. Ihren Unterkörper und den Rollstuhl sieht sie nicht. Bis dahin bin ich die alte Meli, bis dahin hat sich körperlich nichts verändert. Nur in meiner Seele …

Während die Sonne das erste, sich spätsommerlich einfärbende Laub auf der gegenüberliegenden Seeseite beleuchtet, trägt Tom Meli zum Wagen. Der baldige Herbst lässt grüßen, die Natur wird immer bunter, die Farben wollen sich gegenseitig übertreffen, der Brandenburger Indian Summer, wie schön. Jede Minute genießt sie dieses Schauspiel. Früh morgens, wenn der Nebel das Gewässer verschleiert, mittags, wenn das Schwanenpaar seine Runde dreht und so verliebt wirkt, wie sie und Tom. In der Dämmerung beobachtete sie seit ein paar Tagen einen Biber, der am Ufer entlang schwimmt und sein Revier zu inspizieren scheint.

Sie schmiegt sich an Tom, atmet die frische Luft, als plötzlich ein dunkler Schatten über ihr auftaucht. Sie erschrickt, schaut hoch und folgt mühsam der Flugbahn eines riesigen Vogels, der über dem See auf Beutezug ist. Der Greifvogel zieht ein paar Runden und verschwindet am Horizont hinter den Bäumen. Meli und Tom schauen noch eine Weile hinterher.

»Besorgst du mir ein Buch über Vögel? Ich möchte allzu gern wissen, mit wem wir es hier so alles zu tun haben.«

»Vielleicht auch ein Buch über die Wildtiere in Brandenburg«, fügt sie hinzu, denn in der letzten Nacht ist sie von einem Geräusch nahe des Hauses wach geworden. Sofort hatte sie Tom geweckt, der verschlafen aufstand und seine Taschenlampe nahm, um nachzusehen, sich dann aber schnell wieder ins Bett legte und brummte: »Keine Sorge, nur eine Rotte Wildschweine!«

Meli lag dann noch eine Weile wach und dachte darüber nach, ob es auch Wölfe hier in der Gegend gab. Wildschweine waren ja okay, aber Wölfe! Sie dachte an das Märchen von Peter und dem Wolf, die Schallplatte, die sie als Kind von ihren Großeltern geschenkt bekommen hatte. Sie mochte die meisten Instrumente sehr, besonders die Querflöte für den Vogel und die Oboe für die Ente. Wenn allerdings die Hörner erklangen und den Wolf ankündigten, gruselte sie sich jedes Mal sehr. So wie jetzt. Draußen war es dunkel und kalt, kein Mensch weit und breit. Wie gut, dass Tom, der schon längst wieder eingeschlafen war und leicht schnarchte, hier war. Schön wäre auch, wenn der Telefonanschluss ganz bald gelegt werden würde. Dann könnte sie ab und an ihre Eltern oder Anne anrufen und einfach mal quatschen. Das wäre so wunderbar, dann müsste sie sich nicht mehr nach ganz vorn auf den wackligen Steg hinausfahren lassen, um mit der Außenwelt zu sprechen. Der Steg würde das auch nicht mehr lange mitmachen, er ist verrottet und sie hat jedes Mal Angst, dass ein Brett bricht und sie mit ihrem Rolli im Wasser landet. Das hatte sie Tom schon vor Tagen gesagt und gefragt, wann denn die Telefongesellschaft das Kabel ins Haus legen wird. Bald, hatte er erwidert. Sie solle sich nicht so viele Gedanken machen, die Monteure seien schon im angrenzenden Dorf und arbeiteten zügig an dem Ausbau des Glasfasernetzes. Nur zu, sollen sie sich beeilen, denkt Meli und schläft mit dem Gedanken an ein baldiges Wiedersehen mit Google und Co. wieder ein.

Der Unfall

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