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Kapitel Neun

Montag, 3. Oktober 2016

Später Nachmittag

Reglos liegt Meli in ihrem komfortablen, elektrisch steuerbaren Behindertensessel, der vor ein paar Tagen geliefert wurde. Es hat gerade angefangen zu regnen, die Dämmerung zieht auf und so wird das große Wohnzimmer zunehmend in ein unbehagliches Dunkel getaucht. Totale Stille um sie herum. Nur das Prasseln des Regens ist zu hören. Tom ist noch nicht vom Einkaufen zurück und Balu schläft friedlich in seinem Körbchen am Kamin. Selbst das leise Summen des Sessels, der Meli nun in eine sitzende Position bringt, stört ihn nicht, er bewegt nur leicht seine feuchte Nase.

Tom fragte sie noch, ob sie mit in die Stadt kommen wolle, doch sie hat Schmerzen im Rücken. Sie fühlt sich auch nicht gut, eine leicht depressive Stimmung macht sich breit, und ja, verdammt, ihr geht immer wieder die Auseinandersetzung mit den aggressiven Jugendlichen auf dem Marktplatz im Kopf herum. Meli dreht sich um und blickt unentschlossen auf den Lichtschalter neben der Tür. Sie könnte Licht machen und damit eine gemütliche Atmosphäre schaffen, doch dafür müsste sie aus dem Sessel in ihren Rolli und das wäre sehr anstrengend. Sie hat Durst, ein Glas Wasser wäre toll, doch auch das ist gerade schwer zu erreichen. Tom kommt sicher bald. Müde wendet sie ihren Blick wieder Richtung See. Plötzlich verändern sich die regendunkelbunten Farben, laufen ineinander, verbinden sich zu schwachen Konturen, werden deutlicher. Meli starrt auf die große Fensterfront wie auf eine Leinwand im Kino. Ihr Atem stockt, als vor ihrem geistigen Auge plötzlich die Bilder der Vergangenheit flimmern …

Es ist mitten in der Nacht, ein Kauz schreit. Der tief hängende Vollmond erhellt das Krankenzimmer wie eine Stehlampe. Meli liegt wach in ihrem Bett. Ihre Körperhaltung und ihr Gesichtsausdruck sind schlaff, in ihrem Kopf dreht sich alles nur um die eine Frage: Wie kann es zu Ende gehen? Seit einiger Zeit kommt täglich ein Psychologe an ihr Bett. Er hat ihr ein Antidepressivum verordnet, welches aber erst in zwei bis drei Wochen wirken wird. Frühestens. So viel Kraft, so viel Geduld hat Meli nicht mehr. Der junge Psychodoktor erklärte Meli in den letzten Sitzungen unentwegt, dass ein Schicksalsschlag eine große Chance sei und sprach auch davon, dass ein Leben im Rollstuhl ganz schön sein könne. Ja, vielleicht … kann schon sein … Aber woher wollte er das wissen? Er, der in einem gesunden Körper steckte.

Meli dreht ihren Oberkörper so weit es geht und greift dann mühsam nach dem rollenden Nachttisch, zieht ihn ans Bett heran. Es rumpelt. Meli schaut durch die Scheibe auf den Flur, alles bleibt ruhig. Im Schubfach findet sie, was sie sucht. Ihr Schweizer Taschenmesser, ein Geschenk ihres Großvaters, das sie normalerweise stets bei sich trägt. Das Taschenmesser ist nicht groß, hat aber eine scharfe Klinge. Meli schaut es sich gedankenverloren an, klappt langsam alle Funktionen aus, denkt dabei an ihren Großvater, der seinerseits immer sein Taschenmesser bei sich trug. Oft gingen sie gemeinsam in den nahen Wald, suchten sich geeignete Stöcke und schnitzten daran herum. Meli war geschickt im Schnitzen, sie hatte Talent, mit dem Messer umzugehen. Meli lächelt im Mondschein den alten Bildern verloren hinterher. Plötzlich sieht sie ihren Großvater vor sich, wie er aufgebahrt daliegt. In seinem dunklen Anzug, mit der Fliege, die sie so an ihm mochte, und seinem seligen Lächeln. Er sah aus, als freue er sich auf seine bevorstehende Reise. Bei der Beisetzung hat sie sehr geweint. Doch heute weiß sie, er hat es geschafft. Ihn trifft kein böses Schicksal mehr. Er musste nicht zeitlebens im Rollstuhl sitzen.

Meli klappt alle Funktionen des Messers wieder ein. Bis auf eine. Die scharfe Klinge. Dann schaut sie auf ihren linken Arm, fühlt im Handgelenk die Pulsader. Sie nimmt ein Taschentuch und stopft es sich zwischen die Zähne, dann setzt sie die Klinge an, sticht in das Fleisch und zieht kräftig die Klinge in der Ader entlang. Der Schmerz überwältigt sie kurz, sie beißt auf das Taschentuch. Blut spritzt. Meli lässt das Messer los, schaut noch einen Moment auf ihr Werk. Ihr Blut ergießt sich auf der weißen Bettdecke und glänzt im Mondlicht in einem dunklen, ins bläulich gehende Rot. Meli sinkt nach hinten und fühlt sich mit jedem Herzschlag, der weiteres Blut freisetzt, immer leichter und bald völlig schwerelos.

Der Unfall

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