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Kapitel Zwei

Samstag, 10. September 2016

Mittags

Die Sonne steht hoch am Horizont, ihre Strahlen spiegeln sich glitzernd auf der Oberfläche des Sees, als Tom sie den leichten Hang hinunterschiebt. Aufgeregt schaut Meli auf das näher kommende, sanft wogende und unermüdlich ans Ufer plätschernde Wasser. Wasser! Wie lange ist sie nicht mehr in ihm versunken, wie lange hat sie diese Freiheit nicht mehr genossen, dieses wohlig Umschlossene um ihren Körper, die Schwerelosigkeit gespürt. Sie hat in ihrem Leben schon einige der schönsten Meere und Buchten, Strände und Pools auf dieser Welt kennengelernt, ist am Great Barrier Reef den bunten Fischen hinterhergetaucht, auf Bali geschnorchelt, an Costa Ricas schönsten Stränden in azurblaues Meer gerannt. Sie schwamm mitten in der Wüste Namib in einer Oase im Hotelpool und ließ sich auf Sansibar und Mauritius treiben. Wasser ist immer ihr Element gewesen. Und wenn sie nicht auf Reisen war, entspannte sie sich in ihrer Badewanne mit ätherischen Ölen und dem Blick auf die Frankfurter City oder zog ihre Bahnen im Pool des besten Fitnessclubs der Stadt.

Mit einem leichten Ruck, der die Räder in den lockeren Sand bohrt, kommt Melis Sport-Rollstuhl zum Stehen. Der See ist nur noch wenige Schritte entfernt. Tom zieht die Bremse an und wirft sein Handtuch, das er bis dahin um den Hals getragen hat, über die Rollstuhlgriffe. Aufgedreht springt er hinter Meli hervor, so als wolle er sagen: Los jetzt, wer als Erster im Wasser ist.

»Sind Sie bereit, Frau van Bergen?«

Meli schluckt kurz, ihr Herz pocht wie damals, als sie ihre erste Barbie zum Geburtstag bekam. Ja, sie möchte, unbedingt, aber wie soll das gehen, es ist doch nun alles so anders. Sie kann nicht mehr schwimmen, sich allein über Wasser halten, bestimmt nicht, sie braucht Hilfe. Mit dieser verfluchten Behinderung ist sie total unselbstständig geworden. Meli schaut auf den See, schaut auf den langen, morschen Steg und auf das Schwanenpärchen, das weit draußen, einer inneren Choreographie folgend, seine Kreise zieht. Zwei wie eins.

»Na?!«

Tom lächelt. Er sieht in seinen bunten, weiten Badeshorts, mit seinem Oberkörper, der ein wenig mehr Training nötig hätte, und mit seinen blonden, wuscheligen Haaren richtig süß aus. Meli wirft ihrem Mann ein verliebtes Lächeln zu. Sie spürt, dass dieser Blick gerade jetzt mehr aus ihrem Herzen als aus ihrem Verstand kommt. Noch vor einem Jahr hätte sie so einen wie ihn nicht an sich herangelassen. So einen von der Sorte Loser. Sie wollte immer einen dieser coolen und erfolgreichen Waschbrettjungs, dunkelhaarig und blauäugig. Nun schauen sie zwei braune Augen erwartungsvoll und einladend an. Also gut.

»Bereit, wenn Sie es sind!«

Sie mag diesen Spruch von Hannibal Lecter, sie liebt den Grusel von »Schweigen der Lämmer«. Die menschlichen Abgründe.

Mit leichten Handbewegungen schiebt sie den seidenen Bademantel von ihrer rechten, dann von ihrer linken Schulter. Geschickt dreht sie im Sitzen ihre Arme aus den weiten Ärmeln, stützt sich mit den Händen auf den Lehnen des Rollstuhls etwas ab und ruckelt mit ihrem Oberkörper ihr Gesäß nach vorn. Ihr edler Bikini zeugt von besseren Strandtagen, doch steht er ihr wohl auch im Sitzen noch immer tadellos, wie sie an Toms Blick befriedigt feststellt. Es kann losgehen, sagt ihr Gesichtsausdruck, den Tom mit einem Augenzwinkern erwidert.

Er geht einen Schritt auf sie zu, schiebt seinen rechten Arm unter ihren linken und ergreift hinter ihrem Rücken ihre Achsel. Sein anderer Arm gleitet unter ihren Kniekehlen hindurch und mit einer tiefen Einatmung hebt er sie aus dem Rollstuhl. Ihre Arme haben längst seinen Hals umschlungen und sich in seinem Nacken getroffen. Sie schmiegt sich mit ihrem Oberkörper an ihn, ihre Beine dagegen hängen über seinem Arm wie eine Bleischürze. Ihre Füße sind einander zugewandt und ihre Zehen tänzeln bei jedem seiner Schritte über dem hellen Ufersand. Meli schaut kurz hinter sich auf das große Haus, das oben am Anfang des grünen, flachen Abhangs steht. Etwas in die Jahre gekommen, aber immer noch herrschaftlich. Ein sonniges Schlösschen für zwei, mit einer großen Terrasse, alles wird bald behindertengerecht umgebaut sein, und – und das ist unbezahlbar – weit und breit keine Nachbarn. Ja, nicht mal Wanderer oder Angler, die sich hierher verirren, so sagten es die Verkäufer. Ihre Insel mitten im Grünen.

Sie hört, wie Tom in den See stapft, wie das Wasser platscht, doch die Spritzer, die er dabei erzeugt und die sie abbekommt, spürt sie nicht. Ihre Beine bleiben das, was sie sind: taub. Ohne jegliches Gefühl. Auch als ihre Füße die Wasseroberfläche berühren, als sie einsinken in den an dieser Stelle bis zum Grund durchsichtigen See, hat sie keine Empfindungen. Erst ab dem Rücken spürt sie dieses wohlig nasse Gefühl, diese zarte Begegnung mit dem Wasser, die sie so liebt. Freudig und auch ein wenig über die frische Temperatur erschreckt, juchzt Meli auf. Tom lächelt, die Sonne strahlt, alles ist so phantastisch. Noch vor Monaten hätte sie das nicht für möglich gehalten. Meli spielt mit ihrer rechten Hand im samtigen Wasser, lässt es durch ihre Finger gleiten, dann spritzt sie Tom ein paar Tropfen ins Gesicht und lacht. Er deutet an, sie auf das Wasser legen zu wollen, und breitet sogleich seine Arme so aus, dass sie darauf zum Liegen kommt. Meli hält sich mit der linken Hand an seinem Nacken fest und versucht, sich lang zu machen. Ihre Unterschenkel und Füße hängen reglos im Wasser, ihr Oberkörper jedoch ist gerade. Und dann schwebt sie auf dem See, Toms Hände halten sie mit dem Kopf knapp über der Wasseroberfläche, die leichten Wogen bewegen sie, die Sonne wärmt seitlich ihr Gesicht. Sie riecht die Natur um sich herum, sie entspannt sich, schließt langsam die Augen, sodass der blaue Himmel über ihr verschwimmt. Das ist Frieden. Einfach wunderbar.

Völlig unerwartet überspült sie eine Welle, sie bekommt Wasser in die Nase, muss schlucken und husten. Panisch klammert sie sich an Toms Nacken fest und zieht sich hoch. Wo kommt diese Welle her, fragen ihre großen Augen. Tom zuckt mit den Schultern, während er sie weiter in der Schwebe hält. Meli beruhigt sich, macht sich erneut lang und schließt wieder die Augen. Sie spürt den Bewegungen des Wassers nach, den sanften Wellen, die Tom mit seinen Armen begleitet, und verliert sich erneut darin. Atmet mit offenem Mund tief diese Glückseligkeit ein, da überspült sie wieder eine Welle. Sie verschluckt sich, versucht krampfhaft, sich von Toms Händen aufzurichten, spuckt Wasser aus und hustet. Ihr Herz geht schnell. Mit angstvollem Blick sucht sie nach einer Erklärung.

»Was war das? Kannst du mir …?«

Kopfschüttelnd zieht Tom Meli an sich, sie umarmen sich und sie spürt die Geborgenheit, die diese Nähe auslöst. Nach einem langen Moment trägt er sie aus dem See hinaus und setzt sie sanft in den Rollstuhl.

Der Unfall

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