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Katrins Herz klopfte, als sie auf den Bahnsteig trat. Am Ende des Gleises stand Colette. Herzlich umarmte sie Katrin.

„Kaum zu glauben, dass wir uns vor einer Woche noch nicht kannten.” Katrin nickte. Colette stellte erleichtert fest, dass das Wiedersehen ihre Schwermut vertrieb. Katrins Freude griff auf sie über.

Bei zwei Gläsern Wein und einem Teller mit Käse und Baguette fanden die beiden Frauen nicht gleich den roten Faden für ein sinniges Gespräch – sie kannten sich bereits zu gut für Smalltalk, nicht aber gut genug dafür, weniger glatte Abschnitte aus ihren jeweiligen Biografien zu offenbaren. Katrin wusste, worauf sie hinauswollte:

„Wie lange sind François und Matthieu eigentlich schon ein Paar?”

Colette seufzte. Genau die Frage, auf die sie keine Lust hatte zu antworten.

Écoute, jetzt pass mal auf“, sagte sie etwas brüsk und nahm einen Schluck.

„Matthieu ist nicht schwul. Nur François.”

Katrin lächelte.

Gefahr im Verzug, ich wusste es, dachte Colette. Ma Chérie, verlieb dich lieber nicht!

Katrin war erwachsen. Colette beschloss, den Lauf der Dinge nicht zu beeinflussen. Stattdessen ließ sie nun doch einfach ihrer Neugier freien Lauf und fragte Katrin aus. Jetzt war es an dieser, ihre Komfortzone zu verlassen.

Sie sprach nur ungern über sich und bei ihren Antworten schoss das Blut in ihre Wangen, als ob sie löge oder etwas zu verbergen habe. Beides stimmte nicht. Nebel zog auf in ihrem Kopf, machte das Denken schwer und das Sprechen holprig.

„Lass sein!”, sagte Colette, was ruppig klang, aber sanft gemeint war. Auch Colette kannte die Momente, in denen es sich nicht gut anfühlte, wenn man Auskunft über sich erteilen sollte.

Dennoch sprach Katrin weiter, doch davon war nichts mehr zu verstehen. Aus Lautsprechern erschallte die Melodie von Joyeux anniversaire und wurde von den meisten Anwesenden begeistert mitgesungen. Die Lichter gingen aus, Kerzen schaukelten durch den Raum, und es wurde freudig geklatscht und durcheinandergerufen. Als es wieder hell, wenngleich nicht leiser wurde, schob Colette Katrin einen Zettel zu: DAS LEBEN IST EINE BAUSTELLE. Ein Slogan, dachte Katrin, aber wie wahr. Sie nahm Colette den Filzschreiber aus der Hand und malte einen Smiley aufs Papier.

Der Abend endete fröhlicher, als es einen Moment lang ausgesehen hatte: Colette und Katrin wurden an die Geburtstagstafel geladen, wo eine aufgeräumte Runde aus Freunden und Familie den fünfundsiebzigsten Geburtstag von Maxime feierte. Dieser entpuppte sich als so geistreich wie gastfreundlich. Champagner gab es reichlich, Schokoladentorte auch.

Am Ende hatte Katrin verschiedenste Komplimente und zwei Visitenkarten überreicht bekommen.

„Du gefällst!”, bemerkte Colette auf dem Heimweg.

„Das habe ich noch nie gehört”, erwiderte Katrin ungläubig.

Colette meinte mit einer Spur Sarkasmus in ihrer sonoren Stimme, es sei nicht immer einfach, deutschen Männern ein Kompliment zu entlocken. Katrin hätte gern nachgefragt. War Johannes ein solch ‚deutscher Mann‘ gewesen? Es war spät. Heikle Themen mussten warten.

Die Matratze mit der frisch bezogenen Bettwäsche lag bereits im Wohnzimmer. Erst kurz vor dem Einschlafen fiel Katrin ein, dass sie vergessen hatte, Colette ihre Geschenke zu überreichen. Morgen, konnte sie noch denken. Dann schlief sie, bis Colette mit zwei Kaffeebechern zum Wecken kam.

Never stop dreaming‘ stand auf dem Schlafshirt, das diese Woche hellblau war.

„Schaffst du das?”, fragte Katrin und wickelte sich aus der Decke, um an ihre Reisetasche zu kommen. „Was?”– „Nie das Träumen aufzugeben.”

Colette grinste. „Auf das Risiko hin, dich zu überraschen, ja. Ich kann das. Ich glaube, dass das Leben für mich noch das ein oder andere Wunder bereithält. Ob ich jetzt bald siebzig werde oder nicht.

Und ich liebe es, Geschenke zu bekommen!”, fügte sie beim Anblick der liebevoll farbenfroh verschnürten Päckchen, die Katrin ihr entgegenhielt, hinzu.

Beim Frühstück wollte Colette wissen, ob Katrin schon Pläne habe für den Tag. Die hatte sie. Etwas scheute sie sich zuzugeben, dass sie sich vorgenommen hatte, ins Café de Flore zu gehen. Ins Paris der Künstler und Denker wie Filmemacher, Musiker, Schriftsteller. Sich im Flore an einen Tisch setzen und sich in eine neue Identität träumen. Eine Catherine sein, keine Katrin. Catherine wie Deneuve, mit der Betonung auf der zweiten Silbe.

Colette lachte, als Katrin mit der Sprache rausrückte:

„Geh du ruhig. Das ist in Ordnung so!”

Was Colette nicht sagte, war, dass ein Espresso im Café de Flore vier Euro sechzig kostete und eine heiße Schokolade sieben. Schön, mit einem Blick für das Nicht-Alltägliche unterwegs zu sein, dachte Colette. Es wäre ihr ein Leichtes gewesen, Katrins Begeisterung zu ersticken. Sie wollte es nicht – gerade, weil sie selbst an Paris oft all das sah, was es auch war: laut und teuer, voller Kontraste und erfüllt von einem gerüttelten Maß an Aggressivität.

Laut war es auf dem Boulevard Saint-Germain allemal, als Katrin die Treppenstufen aus der Metro heraufkam. Sobald sie sich aber im Café auf die rote Ledercouch hinter dem ersten freien Tisch gesetzt hatte, schlüpfte sie aus der lärmenden in eine andere Wirklichkeit. Sie bedauerte, kein Notizheft dabei zu haben. Obwohl es ganz sicher einem Klischee entsprach, hier an einem Tisch, an dem vielleicht schon Jean-Paul Sartre oder Simone de Beauvoir gearbeitet hatten, schreiben zu wollen. Womöglich Überlegungen, derer sie sich im Nachhinein schämen würde. Es nervte Katrin, dass sie die kritische Stimme im Hinterkopf nicht einmal hier zum Schweigen bringen konnte.

Dann aber ließ sie sich ablenken von ihren Eindrücken, den Menschen, die kamen und gingen, bestellten, tranken, lachten und gestikulierend redeten. Es musste möglich sein, so zu fühlen, wie sie wirkten: präsent und eins mit sich und eins mit dem, was sie erlebten.

Colette hatte keine Pläne für den Samstagvormittag. Etwas lustlos hing sie bei einer letzten Tasse Kaffee verschiedensten Gedanken nach und beobachtete mit Missbilligung die mit viel Gegurre über das Zinkdach trippelnden Tauben. Eine Plage. Es lag nahe, irgendetwas zu putzen. Oder sollte sie sich an Katrin ein Beispiel nehmen und in einem Paris der Ideale auf Entdeckungsreise gehen?

„Vous désirez, Madame?

Der Ober war, wie er im Café de Flore sein musste: arrogant.

„Un chocolat chaud.

Ausdruckslos wiederholte er Katrins Bestellung einer heißen Schokolade, doch dann schien ihr ein Gläschen köstlichen Chablis verlockender – und in punkto Attitüde angebrachter.

„Ou, non, un chablis, s’il vous plaît.”

„Comme vous voulez”, entgegnete der Ober uninteressiert.

Seit Jahren war Colette nicht mehr am Platz vor der Sorbonne gewesen. Zu viele Erinnerungen. Illusionen, Parolen. Schönes, aber auch Bilder von umgekippten Autos, von herausgerissenen Pflastersteinen am Boulevard Saint Michel.

Colette mied die Kulisse jener Maitage. Nachdem sie Platz genommen hatte im Café Tabac de la Sorbonne, bemerkte sie, dass die Buchhandlung der Presses Universitaires de France aus- und ein trendy Food Market eingezogen war. Colette bestellte einen Espresso bei einem Ober mit auffallend hoher Stimme. Während er das Wechselgeld zurückgab, musterte er Colette.

„Ich kenne Sie” bemerkte er mehr zu sich selbst als eigentlich zu ihr. Colette sah ihn genauer an.

„Luc!”, entfuhr es ihr. „Ich bin Colette.”

Luc – wenn er denn so hieß − zuckte etwas hilflos mit den Schultern. Offensichtlich konnte er sie nicht einordnen.

„Wir haben zusammen Soziologie studiert. In Nanterre.”

Der Ober schüttelte den Kopf und antwortete, er habe nie studiert. Es war jetzt an Colette, perplex zu sein. Zu deutlich sah sie Luc vor sich, fünfzig Jahre jünger, mit mehr Haar und ohne Falten, wie er durchs Mikrofon rief, die neue Zeit brauche neue Strukturen und die Jugend, ihre Jugend, sei Garant des Besseren.

„Das kann nicht sein! Ich erinnere mich genau!”

Colette begann zu zweifeln. Luc hatte Charisma gehabt, war schlagfertig, scharf und sarkastisch gewesen.

Colette liebte seine Wortwechsel mit anderen Aktivisten.

Und hier stand ein kleines Männchen, das sichtlich zu oft „Bonjour!“, „Vous désirez?“ und „Merci!“ gesagt hatte.

Luc schien keinen Wert auf eine Fortsetzung des Gesprächs zu legen. Er legte die letzten zwanzig Cent auf den Bistrotisch, griff sich den Kassenbon und machte einen kleinen Riss hinein.

Colette trank ihren Kaffee und holte ihr Notizheft aus der Tasche.

21. Oktober 2017, Place de la Sorbonne.

Die Erinnerung ist ein automatisches Klavier. Sie bestimmt die Partitur. Du kannst zuhören oder dir die Ohren zuhalten.

Johannes war gereizt. Das verlorene Ticket machte ihm zu schaffen. Entweder musste er versuchen, François zu kontaktieren. Der hatte ihm die Nummer nur nach einigem Drängen gegeben und ihn gebeten, möglichst diskret zu bleiben. Oder er betrachtete den Verlust als Zeichen. Sollte er Colette in Ruhe lassen? Wütend trat Johannes gegen einen Stapel von Referaten, Magister- und Doktorarbeiten, die sich über den Boden verteilten. Johannes begann, sie wieder aufzusammeln und zu ordnen und schalt sich einen Oberschimpansen mit Segelohren. Eine Beschimpfung von Colette.

Mit Katrin geschah etwas an diesem Vormittag des 21. Oktober.

Sie entschied, dass sie ihr Leben ändern würde. Dass sie nachholen würde, was sie nach Abschluss ihres Studiums nicht gewagt hatte. Eine Zäsur machen. Weggehen. Etwas Neues beginnen. Es konnte dafür nicht zu spät sein. Die Stimme der Angst behauptete das Gegenteil. Aber die hatte jahrelang in ihr gemurmelt, es sei zu früh. Sie müsse mehr und härter an sich arbeiten, bevor sie einen Anspruch auf Glück und Erfolg anmelden könne.

Konnte man von einem ‚Noch nicht’ in ein ‚Nicht mehr‘ über- gehen? War es möglich, dass ihre selbstgeschaffenen Begrenzungen sie definitiv am Leben hinderten? Woher kamen sie? Wichtiger: Wie konnte sie sie lösen?

Jetzt war es aber erst mal an der Zeit, für die Party am Abend einzukaufen. Der Gedanke an Matthieu ließ ihren Magen vibrieren, was Katrin auf den ungewohnt frühen Genuss eines Glases Weißwein schob.

Colette machte sich auf den Heimweg. Sie war mit ihrer Pilgertour zufrieden. Etwas in ihr hatte an die Tage im Mai 68 angeknüpft, und dieses Etwas fühlte sich lebendig an.

Gegenüber der Sorbonne kam sie an der überlebensgroßen Bronzefigur Michel de Montaignes vorbei. Unter dem gütigen Blick des Denkers berührte sie den rechten der metallenen Spangenschuhe. Seine Spitze glänzte von den Händen, die beständig – aus Gewohnheit, Aberglauben, Brauch – über sie hinwegstrichen.

So hatte auch Colette es schon getan, als sie zwanzig war. Montaigne hatte, damals noch aus Marmor, hier gesessen und auf den eindrucksvollen Palais geschaut. Präsident De Gaulle, der ‘alte Brummbär’, so Daniel Cohn-Bendit, verehrt oder verfemt als ‚Dany le Rouge‘ hinsichtlich seiner politischen Couleur, hatte versucht, die alte Ordnung gegen die aufbegehrenden 68er zu verteidigen.

Heimlich hatte sich Colette immer ein wenig gewünscht, Johannes könne so selbstbewusst auftreten wie eben jener ‚Dany‘, der charismatische Studentensprecher der Bewegung, den sie und ihre Freundinnen für seine Vitalität bewunderten.

„Er kommt doch auch aus Deutschland!”, hatte sie Johannes eines Abends vorgehalten, als sie befand, er übertreibe es mit seiner Diskretion und Reserviertheit, die er gegenüber den Ereignissen an den Tag zu legen pflegte. Nie würde sie den Blick vergessen, mit dem er sie daraufhin angesehen hatte und ihr entgegnete:

„Die Cohn-Bendits sind 1933 aus Nazi-Deutschland geflohen. Der Vater ist gegangen, weil er seiner politischen Überzeugungen wegen Repressalien ausgesetzt war und nicht, weil sie Juden waren. Aber sie waren es, und ich muss dir nicht erzählen, was ihnen hätte geschehen können.

Dany hat seine Geschichte, und ich habe meine. Er ist hier in Frankreich geboren und aufgewachsen. Er kann öffentlich auftreten und Politik machen. Ich habe dazu kein Recht. Bitte komm nicht wieder darauf zurück.”

Kein Wort davon habe ich vergessen, dachte Colette.

Das war nicht verwunderlich, denn jedes Mal, wenn sie Cohn-Bendits fröhlich krähende Energie im Radio vernahm oder ihn im Fernsehen sah, wenn sie seinen engagierten Plädoyers zuhörte, dachte sie an jene Szene mit Johannes in der Brasserie Balzar, wo ihr die sonst so köstliche heiße Schokolade nicht mehr hatte schmecken wollen.

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