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Da auch ihm der schwere Wein einige Hemmungen genommen hatte, wollte François von Colette wissen, was er noch nie zu fragen gewagt hatte: Wieso sie 1977 nach Paris zurückgekommen war und eine Art ‚Omerta‘ über Johannes verhängt hatte, die in den vergangenen vierzig Jahren unausgesprochenes Gesetz für alle geworden war.

Colette atmete tief.

„Ich hoffe, du hast Zeit, Francesco. Ich habe das alles noch nie erzählt. Also außer meinem Therapeuten. Und es gibt eine Menge dazu zu sagen, das kannst du mir glauben, denn seit vierzig Jahren denke ich darüber nach. Ich schlage dir vor, wir holen uns noch irgendwo eine Flasche Wein und dann kommst du mit zu mir. Deine Nacht wird lang oder kurz, je nachdem, von welcher Warte aus man es betrachten mag.”

François ließ sich nicht anmerken, dass durchwachte, durchquatschte Nächte nicht mehr zu seinem Lebensstil gehörten. Colette hatte eine beneidenswerte Vitalität. Die Aussicht aber, nun endlich einen Einblick in den Teil der Biografie Colettes zu bekommen, den sie verschlossen hielt wie die Büchse der Pandora, war verlockend. François nickte.

„Okay. Lass uns gehen.”

Arm in Arm, ‚wie in alten Zeiten‘ schlenderten die beiden erst den belebten Boulevard Sébastopol hinunter, bogen dann in Richtung Centre Pompidou ab.

In einem, spät abends noch offenen kleinen Supermarkt kaufte Colette zwei Flaschen Rotwein und drei Tafeln Schokolade.

„Falls ich rückblickenden Liebeskummer bekomme.”

Noch während sie in der Küche die Flasche entkorkten und Colette nach Gläsern fahndete, die den edlen Wein ähnlich stilvoll präsentieren sollten, wie die Kelche beim Italiener, begann sie zu erzählen.

„Es war im Oktober. Ich bin im Oktober zurückgekommen. Auf den Tag genau zehn Jahre, nachdem Johannes und ich uns kennengelernt hatten. Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Dabei hatte alles so toll angefangen. Als wir 1973 nach Heidelberg kamen, fand ich es wirklich schön. Ich war ja einverstanden gewesen mit dem Umzug. Johannes war mit seiner Dissertation fertig, und wollte an der Uni bleiben. Ich hatte keine festen Vorstellungen, was ich machen wollte. Und meine gesamte Familie war derart negativ gegenüber Deutschland eingestellt, dass ich aus Trotz schon gehen wollte. Um ihnen zu beweisen, dass ich dort gut leben würde. Und zwar mit Johannes, den sie immer abgelehnt haben.”

Colette schnaubte.

„Für sie hätte ich ja sowieso am besten einen der Hinterwäldler aus unserem Dorf heiraten sollen. Keiner hat verstanden, wieso ich mir einen Deutschen ausgesucht hatte. Alle machten sich über ihn lustig, über seine kleinen Fehler, wenn er etwas nicht ganz verstand, selbst über seinen fast nicht vernehmbaren Akzent. Wenn sie gewusst hätten, wie Jo geackert hat, wie er stundenlang Ausspracheübungen gemacht hat, um seinen Akzent loszuwerden. Er war immer überglücklich, wenn er als Franzose durchgehen konnte, oder zumindest nicht als Deutscher ausgemacht wurde.”

François reichte Colette ein gut gefülltes Glas und schenkte sich selbst etwas weniger ein. Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste.

„Danke. Also, wir sind zum Wintersemester 73 nach Heidelberg gezogen. Unsere Wohnung war doppelt so groß wie die in Paris und kostete die Hälfte. Ich habe mich in einem Deutschkurs für Ausländer eingeschrieben und nette Leute kennengelernt, während Johannes umgehend begonnen hatte, an der Uni zu unterrichten. Bei uns gingen ständig Studenten ein und aus, und wir waren jeden Abend unterwegs – einfach eine super Zeit! Schon Anfang 74 habe ich angefangen, in einem Kinderladen zu arbeiten.”

„Was ist das denn?”, unterbrach sie François.

„Kinderläden gab es seit 1967. Sie waren selbstverwaltet, antiautoritär, kreativ und eben alles, was wir damals so gut fanden! Ich war hauptsächlich für Organisatorisches verantwortlich. Aber ich habe auch einiges mit den Kindern unternommen. Du konntest da eine Menge erfinden. Der Anfang war wirklich ein Traum. Wir hatten interessante Gespräche, weil die Eltern sich unglaublich viele Gedanken über die Erziehung ihrer Kinder machten. Sie hatten diese Ideale, weißt du. Dass man die Gesellschaft von Grund auf verändern muss, um zu verhindern, dass Faschismus aufkommen kann. Dass so etwas wie das sogenannte ‚Dritte Reich‘ nie mehr entstehen darf und dass dafür Kinder zu festen und freien Persönlichkeiten erzogen werden müssen.”

François räusperte sich. Er war nicht gekommen, um eine Vorlesung über die pädagogischen Ansätze der Bundesrepublik in den frühen 70er Jahren zu hören.

„Entschuldige, dir mag das etwas langatmig erscheinen, aber es gehört dazu. Weil es wirklich meine Vision war, mein Ideal, was ich da gelebt habe. Wir waren eine Gemeinschaft, ohne dass der Einzelne sich darin hätte aufgeben oder sich einer Doktrin hätte unterordnen müssen. Es hatte nichts von Sekte oder von Ashram. Und da ich glücklich war, und Johannes auch, und uns endlich nicht mehr meine Familie im Nacken saß, schien alles unter einem guten Stern zu stehen.”

Colette trank einen Schluck und brach die erste Tafel Schokolade auf.

„Jetzt schon?”, warf François ein.

„Wenn du es genau wissen willst, habe ich seit vierzig Jahren Liebeskummer. Ich bin abgehauen aus Deutschland, ich habe Johannes verlassen. Aber ich habe nie aufgehört ihn zu lieben.”

François starrte seine Freundin an.

„Das meinst du nicht ernst.”

„Doch.”

Colette steckte sich ein zweites Stück Bitterschokolade in den Mund.

„Wie ich schon gesagt habe, es ging mir gut. Deshalb war ich auch nicht kleinlich. Wenn die Leute in den Geschäften so taten, als verstünden sie nicht, wonach ich fragte. Du hast – oder zumindest hattest – nämlich auch nicht unbedingt gute Presse als Ausländerin in Deutschland. Wie das zwischenzeitlich ist, weiß ich nicht. In Heidelberg mochten sie die Franzosen nicht, weil die irgendwann das Schloss abgefackelt haben. Ich habe mich immer geweigert, mir das Datum zu merken, weil mich das so nervte.”

„1693 war das. Während des Pfälzischen Erbfolgekriegs.”

„Du weißt Sachen!”

„Ich bin eben dein kluger Freund.”

„Ungelogen! Jedenfalls … ich habe in diesen Jahren sehr viel gelernt. Wir haben ununterbrochen diskutiert. Im Kinderladen, bei uns zu Hause mit Freunden und Studenten von Johannes. Immer wieder darüber, wie in Deutschland geschehen konnte, was geschehen war. Wie dieses Land in die Barbarei abgleiten konnte. Alle waren damals zwischen Mitte und Ende zwanzig, also kurz nach dem Krieg geboren. Und alle litten darunter, dass sie mit ihren Eltern nicht darüber sprechen konnten, was die in der Nazi-Zeit gedacht und was sie da gemacht hatten. Ihre Revolte ging viel tiefer als bei uns. Da war ein unglaublicher Bruch. Johannes und ich kamen uns zuerst noch näher, weil ich erst jetzt verstehen konnte, was er mit seiner Zeit in Frankreich wollte: sich von diesem Schatten lossagen. Johannes definierte sich nur noch über die Kunst, seine Forschung und …”

Colette brach ab und atmete tief:

„… und darüber, eine französische Freundin zu haben. Ich war für ihn wie ein Ausweg aus dieser deutschen Schwere. Deswegen wollte er auch nie Deutsch mit mir reden. Johannes sprach nur Deutsch, wenn andere dabei waren und selbst da streute er Sätze auf Französisch ein, egal, ob alle ihn verstanden oder nicht. Ich habe ihn oft darum gebeten, mir einen deutschen Kosenamen zu geben, aber er wollte nicht. Wollte oder konnte nicht.

Ich war sein amour, sein trésor, sein ange, aber nie sein Schatz, sein Liebling oder Engel. Nach einer Zeit fing ich an zu zweifeln. Das war idiotisch von mir, ich weiß das heute. Ich wurde misstrauisch: Liebte Johannes wirklich mich oder nur‚ die Französin in mir‘? Vielleicht spielte es ja keine Rolle, wer und wie ich war. Ich war sein Ablassbrief. Und zwar sein lebendiger. Ich habe das damals ganz extrem empfunden. Du kennst mich ja, ich kann mich gut in Überzeugungen verstricken und felsenfest glauben, mit meiner Meinung recht zu haben. So war es damals auch. Ich fing an, jeden Satz von Johannes auf die Waagschale zu legen. Wenn ich vom Friseur kam und er mir ein Kompliment machte – erinnere dich, ich hatte damals so einen fransigen Kurzhaarschnitt wie Jean Seberg – hörte ich, dass er erleichtert war, kein blondes deutsches Fräuleinwunder an seiner Seite zu haben. Jede Bemerkung über Dessous und wie schön es sei, dass ich nicht die unglaublich unerotische Unterwäsche trug wie viele deutsche Frauen, wurde für mich zum Etikett ‚Französin’. Johannes wollte, dass ich mich schminkte. Verächtlich zitierte er seinen Onkel: ‚Die deutsche Frau schminkt sich nicht und raucht nicht‘, einer dieser Sätze aus der Nazipropaganda. Und ich fühlte mich wieder nur als personifizierte Revolte gegen all das, was Johannes in und an Deutschland nicht ertrug.”

Wieder setzte Colette ab.

Es nahm sie mit, über all das zu sprechen. Sie hielt François ihr leeres Glas entgegen.

„Wenn du magst, können wir auch morgen weitersprechen, Coco.”

Vehement schüttelte sie den Kopf.

„Das geht nicht, François. Ich will von all dem nichts mehr wissen. Es ist gut, es einmal jemandem anzuvertrauen und wem, wenn nicht dir. Es ist meine Beichte. Ich mache das einmal und nicht in mehreren Episoden. Halte bitte durch und hör mir bis zum Ende zu.”

François nickte. Auch in seinem Leben gab es Zeiten, an die er nicht mehr denken wollte. Vielleicht gab es das für jeden Menschen? Er hatte keine Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen.

Colette sprach weiter.

„Vielleicht wären wir aus dieser Krise wieder herausgekommen. Selbst ich alter Sturkopf hätte auf Dauer wohl begriffen, dass Johannes mich wirklich geliebt hat. Mich, nicht eine Alibi-Französin. Aber es wurde noch komplizierter: Johannes glaubte, er könne mir beweisen, dass er mich liebte, indem er ein Kind mit mir wollte. Darin sah ich nur den Versuch, mich an ihn zu ketten. Ich würde nie wieder frei sein. Wir haben Monate gebraucht, um uns nach dem entsetzlichen Streit, den wir darüber hatten, wieder einander anzunähern. Ich zog sogar ein paar Wochen zu einer Freundin und hatte eine Affäre mit einem anderen Mann. Mein Lebensgefühl und mein Selbstbild waren so am Boden durch das Misstrauen, das ich Johannes gegenüber empfand und all die Absichten, die ich ihm zuschrieb, so dass ich nicht mehr klar denken konnte.

Wie gesagt, wir bekamen all das halbwegs wieder hin. Auch wenn uns von der Leichtigkeit, die wir einmal gekannt hatten, nicht allzu viel mehr übrigblieb. Es gab zwischen uns keine Ausgelassenheit mehr. Ich war frustriert und wurde immer unglücklicher. Ich lebte jetzt seit dreieinhalb Jahren in Deutschland. Die Zeit des Entdeckens war vorbei. Ich wurde kritischer. Vieles gefiel mir nicht: Die Bemerkungen, wenn ich über eine rote Ampel ging, die Traurigkeit der Fußgängerzone am Sonntag, die Kehrwoche und die Zettel im Briefkasten von den Nachbarn, wenn man sie nicht eingehalten hatte. Dass du nichts vor die Tür stellen durftest. Und dann der Terrorismus. Die Rote Armee Fraktion, die RAF, verübte Attentate. Die Menschen begannen sich zu fürchten. Überall hingen Fahndungsplakate. Es war eine bedrückende Zeit. Auch der Kinderladen war nicht mehr die Insel der Kreativität und Freiheit. Wir stritten uns über pädagogische Prinzipien genauso wie darüber, wer wie oft den Abwasch machte oder wieder vergessen hatte, nach unseren Debatten das Licht auszuschalten. An manchen Abenden kam ich erst um elf nach Hause. Jetzt war Johannes misstrauisch, weil er mir seit meinem Seitensprung nicht mehr vertraute. Und ausgerechnet da wurde ich schwanger! Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass mich das total euphorisch machte. Nach all den Monaten, in denen ich mein Leben grau gefunden hatte, kam ein helles Licht. Ich mache es kurz: Ich habe das Kind im dritten Monat verloren. Warum, das weiß ich nicht. Es ging mir elend. Eines Nachmittags lag ich wieder apathisch unter meiner karierten Wolldecke auf dem Sofa. Johannes war an der Uni. Da flog mit lautem Krachen die Wohnungstür auf: Polizei! Ehe ich mich versah, hatte ich Handschellen an und wurde in Hausschuhen die Treppe hinuntergezerrt. Man habe mehrere Anrufe bekommen, die behaupteten, unsere Wohnung sei ein Terroristennest. Damals genügte das, um dir eine Hausdurchsuchung zu bescheren.”

„Na ja, heute genügt das oft genug auch noch, nur uns betrifft es eben nicht”, warf François ein.

„Stimmt. Ich saß drei Stunden im Schlafanzug auf der Wache und hatte Glück, dass ziemlich schnell klar war, dass ich nichts mit der RAF, nichts, aber auch gar nichts zu tun hatte. Johannes kam mich abholen. Ich bin dann erst einmal nach Hause gefahren und wollte dort nur ein paar Tage bleiben. Ich habe es dann aber immer wieder aufgeschoben, wieder zurück nach Heidelberg zu fahren.

Es wurde Sommer, ein herrlicher Sommer. Die Wiesen in der Normandie leuchteten in fettem Grün, die Kühe standen im Pulk zusammen und schleckten wohlig ihre rosa schimmernden Mäuler. Das Meer rollte in sanftem Blaugrün auf den Strand. Manchmal fuhr ich zum Fischen mit hinaus und fühlte, wie mir Gischt und Wind die finsteren Gedanken aus dem Kopf fegten. In der Abendsonne ging es zum ‚Apéro‘ mit kühlem Chardonnay in die Bar am Hafen. Paradies, oder? Ich habe gefuttert wie ein Scheunendrescher. Meine Mutter fand mich zu dünn und kochte mir alles, was ich liebte. Ich traf Freunde, wir machten Radtouren, picknickten, spielten Federball und badeten im Fluss.

Es war wie eine Wiederbegegnung mit mir selbst in unbeschwerteren Tagen. Coco als Kind, ohne diese Schrammen in der Seele.

Im August kam dann Johannes nach und wir sind an den Atlantik gefahren. Es waren wundervolle Wochen. Auf klapprigen Fahrrädern fuhren wir stundenlang durch die schattige Kühle duftender Kiefernwälder. Danach liefen wir Hand in Hand den Wellen entgegen, in die wir uns johlend warfen, bevor wir testeten, wer von uns beiden sich länger als ‚Toter Mann‘ treiben lassen konnte. Ich blinzelte in den hellen Himmel und war glücklich. Johannes und ich hatten uns wiedergefunden.“

Die erste Flasche war leer. Colette bat François, die zweite zu öffnen.

„Mach dir keine Sorgen, der Rest wird schnell erzählt sein. Wir sind fast am Ende. Anfang September waren wir also wieder zurück, braun gebrannt, mit blau-weiß gestreiften T-Shirts und Espadrilles.

Im Kinderladen konnte ich natürlich nicht mehr arbeiten.

Nach Ende meiner Krankschreibung hatte ich mich erst einfach nicht mehr blicken lassen und dann meine Kündigung auf eine Postkarte gekritzelt, die ich in Cherbourg abschickte. Dennoch fand ich für das Wintersemester einen Job am Akademischen Auslandsamt der Uni und es begann der Herbst. Johannes verwandelte sich wieder zurück in den respektablen, ambitionierten Wissenschaftler, der er inzwischen war. Es blieb nicht viel übrig von meinem lustigen Ferien-Johannes, der mir mit einem Ring vom Trödelmarkt einen Anti-Heiratsantrag gemacht hatte, dessen Nähe mir so gut getan hatte. Jetzt war er wieder ganz in der Welt, die es zu erobern gab. Publizieren, Vorträge halten, Seminare und Vorlesungen vorbereiten. Für Übermut und Albereien war kein Platz in unserem Alltag. Und in der Bundesrepublik ging der Alptraum weiter: Der Herbst 1977, der ‚Deutsche Herbst‘. Der Terrorismus war jetzt auf seinem Höhepunkt. Im Oktober haben sie den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer entführt. Du erinnerst dich, sie wollten alle elf inhaftierten RAF-Mitglieder, darunter Baader, Ensslin, Raspe, Möller, aus dem Gefängnis in Stuttgart-Stammheim freipressen. Jeden Abend sah man ein Foto von Schleyer in den Nachrichten. Und dann hat man ihn ermordet im Kofferraum eines Wagens aufgefunden. Das war am 19. Oktober 77. Ich habe es noch drei Tage ausgehalten. Mit Johannes konnte ich nicht sprechen. Er war auf einem Kongress in Berlin. Das Ferngespräch war zu teuer, um über meine ‚neurotische Angstreaktion‘ zu diskutieren.

Also habe ich gepackt. Das war’s.”

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