Читать книгу Geschichte vom Verlieren, Suchen, Finden - Anke Feuchter - Страница 19
13
ОглавлениеTypisch.
Colette füllte den Eimer mit heißem Wasser und streifte ihre Gummihandschuhe über. „Erst scheucht er mich auf. Und dann? Nichts mehr!”
Colette war wieder einmal wütend. Johannes hatte mit keiner Silbe auf ihre Antwort reagiert. Unhöflich, ungehobelt, unsympathisch – Colette schleuderte sämtliche „un”-Adjektive, die ihr einfielen, gegen die Fliesen ihres Bades. Als sie das Anti-Mantra zum wiederholten Male herunterbetete, klingelte ihr Handy.
„Hoffentlich hat nicht wieder irgendjemand meine Telefonnummer gefunden!“
Colette zog mit den Zähnen an ihrem Putzhandschuh.
Er schnellte ihr ins Gesicht.
„Allô”, bellte sie ins Telefon.
„Hallo Colette”.
Diese Stimme. Colette ließ sich auf den Rand der Badewanne fallen. „Hallo Johannes”, krächzte sie zurück.
Dann sagten beide nichts mehr.
Colette war drauf und dran, das Telefon vom Ohr zu nehmen, auf den roten Hörer zu tippen und sich vorzulügen, der Anruf sei ein Irrtum gewesen, besser, es habe einen Anruf gar nicht gegeben.
„Wir sollten uns sehen”, beendete Johannes das Schweigen.
„Wann und wo?”
„Jetzt”, erwiderte Johannes schlicht.
„Bist du hier?”
„Schau aus dem Fenster.”
Colette hatte Mühe, sich vom Rand der Badewanne zu erheben. Emotional fühlte sie sich wie siebzehn, physisch wie neunzig. In ihren Ohren sauste es, die Knie schmerzten. Das gewöhnlich hakende Rollo am Fenster beugte sich Colettes entschlossenem Zug an dessen Leine und rasselte nach oben. Unten auf der Straße stand ein Mann, der suchend mit dem Blick die Fenster der Fassade abtastete, und der durchaus aussah wie eine vierzig Jahre ältere Ausgabe von Johannes.
Colette führte das Telefon, das sie hatte sinken lassen, wieder an ihr Ohr. „Werden Zugtickets zurzeit bei euch verschenkt?”
„Wie meinst du das?”, gab Johannes verdutzt zurück.
„Nichts. Gib mir ein paar Minuten.”
Colette sauste aus dem Bade- in ihr Schlafzimmer. Musste Johannes sie mitten in einer Putzaktion überfallen, da sie ihre ältesten Wollsocken und Jogginghosen trug? Keine Zeit für Experimente: Es musste der schwarze Kaschmirrolli (eigentlich zu warm, egal) und die ebenfalls schwarze Marlene-Dietrich-Hose sein. Dazu die Silberkette, für die sie den Verdienst vieler Stunden geopfert hatte, sich ihrer Liebe zu schönen Dingen zugleich schämend wie erfreuend. Das Outfit aber war nur die Hälfte der Miete – es ging zurück ins Bad. Hier sah Colette als erstes, dass sie den edlen Rolli links herum trug – „Merde!“ – und ihr Haar noch weit davon entfernt war, als so etwas durchzugehen wie
Frisur.
Colette schnaubte. Nach einigen energischen Bürstenstrichen glätteten sich gleichermaßen Bob und Zornesfalte auf der Stirn.
Getönte Gesichtscreme, ein wenig grauer Kajal und zartbrauner Lippenstift. Wimperntusche ging nicht. Dazu zitterten die Hände ihr zu sehr.
Johannes fühlte erst jetzt die Kühle des feuchten Herbstabends.
Mehr als eine Stunde stand er bereits hier, bevor er den Mut aufbrachte, Colette tatsächlich anzurufen. Ihn fröstelte. Sein Herz klopfte wie wild.
Er heftete den Blick auf die rote Eingangstür, aus der Colette gleich auf die Straße treten würde. Wenn sie denn wirklich kam. Würde sie nicht vielleicht am Ende ihre Meinung ändern? Ihm bedeuten, er solle sich zum Teufel scheren?
Das Licht der Straßenlaterne warf einen gelblichen Schein auf die Fassade und das Trottoir davor. Johannes nahm jedes Detail mit geschärftem Bewusstsein auf. Dieser Abend würde sein Leben verändern. Und das von Colette.
Jedenfalls hoffte Johannes das so inständig wie vor all den Jahren, als er am Platz Saint-Michel vor dem Brunnen gewartet hatte. Colette nahm ihren Schlüsselbund. Tief holte sie Luft, schloss ihre Augen und stieß den Atem langsam durch die halb geschlossenen Lippen wieder aus.
Vorsichtig stieg sie Stufe um Stufe der blankpolierten Holztreppe hinab. Colette drückte auf den Türöffner. Es klickte.
Johannes zuckte zusammen. Auf der Schwelle stand Colette.
„Du”, flüsterte er. Eine Träne rann über sein Gesicht.
„Hast du mal ein Taschentuch?”, fragte Johannes.
Colette schüttelte den Kopf: „Nur meins”, antwortete sie und reichte es ihm. „Wie früher”, sagte Johannes.
„Werde mir nicht sentimental”, antwortete Colette ruppig genug, um nichts von ihren eigenen Gefühlen preiszugeben.
„Lass uns gehen!”
„Wohin?”, wollte Johannes wissen. – „Egal.”
Sie zogen los und wanderten lange durch die Straßen.
Schweigen und Sprechen, Fragen und Antworten, Freude, Wut, Traurigkeit, Erinnerung an gemeinsames Glück in alten Tagen.
„Warum hast du mich damals verlassen?”
„Warum kommst du erst jetzt und dann ohne Ankündigung?”
Die Fragen, auf die sich alles reduzierte: Beide stellten sie schnell.
Nichts wollten sie aufschieben. Sie hatten genug Zeit verloren, und beim ersten Anblick ihres Wiedersehens, vielleicht schon beim ersten Wort am Telefon gewusst, dass es hier nicht um einen Abend ging, sondern um einen radikalen Neubeginn in ihren jeweiligen Leben, einen zweiten Start, der einiges durcheinanderwirbeln würde.
„Bist du etwa gekommen, damit wir wieder ein Paar werden?
Wie immer kam Colette direkt zur Sache. Bis zur Brücke hinter Notre-Dame hatte sie gewartet. Hier hatte Johannes sie 1972 gefragt, ob sie mit ihm nach Heidelberg gehen wolle.
„Damals hast du einen Minirock aus Lederpatchwork getragen. Und einen gerippten Rolli mit kurzen Ärmeln.“
„Stimmt genau. Dein Gedächtnis ist hervorragend. – Soll das ja heißen?”
„Natürlich.”
So einfach. Colette fragte sich, ob sie nicht vielleicht träumte.
Johannes nahm ihre Hände und küsste sie. Dann gingen sie Hand in Hand weiter, was sich für beide so vertraut wie ungewohnt anfühlte.
Im gelblichen Schein der hohen Laternen wirkte die Île Saint-Louis wie ein Idyll auf einer Postkarte. Die Terrassen vor den Cafés waren voll plaudernd weintrinkender und dinierender Menschen. Paris-Ambiente wie auf Abruf.
„Dass ich mit dir noch mal turtelnd durch Paris ziehen würde, hätte ich ja im Leben nicht gedacht!“, spielte Colette das überwältigende Glücksgefühl in ihrer Brust herunter. „Hast Du für heute Nacht etwa noch vor, auch in mein Bett einzumarschieren?“
„Jetzt gehen wir erst mal etwas essen. D’accord?”
Katrin und Matthieu saßen auf dem Sofa, 451 km voneinander entfernt. Beide hatten ihr Tablet auf den Knien und versuchten, den jeweiligen Webcams das vorteilhafteste Gesicht zu präsentieren.
Anstrengend, so ein Flirt per Skype, dachte Katrin.
„In echt ist es schon besser, oder?”, meinte Matthieu. „Kann ich dich mal besuchen kommen?”
Katrin erschrak.
Damit hatte sie nicht gerechnet. Nicht so schnell. Matthieu und Paris waren parallele Realität. Dort gab es eine Katrin, die begann, sich schön zu fühlen, die sich sicher bewegte, die charmant sein konnte. Und bereit, das Glück zu fangen.
Hier lebte die Katrin, die den Sprung hinaus nicht tat, als es die rechte Zeit für eine Zäsur gewesen wäre. Die einem schon seit Jahren ungeliebten Job nachging, jeden Morgen auf die Waage stieg und pünktlich ihre Stromrechnung bezahlte.
Eine Katrin, der man zum dritten Mal das Fahrrad gestohlen hatte und die sich von arroganten Menschen einschüchtern ließ. Diese Katrin wollte sie Matthieu nicht zeigen.
Matthieu war irritiert über das Schweigen, mit dem sein Vorschlag aufgenommen wurde. Er hatte mit Begeisterung gerechnet. Vielleicht hatte Katrin in Wahrheit Mann und, oder, ja warum nicht, ein Kind? Vielleicht war ihrem spontanen Wochenendtrip nach Paris ein Streit vorangegangen? Jetzt schwieg auch Matthieu und spann sich in Vermutungen ein, die ihn entfernten von Katrin.
„Sicher”, beteuerte Katrin. Zu spät.
„War nur so eine Idee. Muss nicht sein.”
Katrin biss sich auf die Lippe. Sie hatte Matthieu gekränkt.
Ihre Beteuerung, er sei aufs Allerherzlichste willkommen, kam nur spröde über ihre Lippen.
Weder Katrin noch Matthieu fanden danach zur anfänglichen Leichtigkeit zurück.
Es ploppte. Matthieu war weg. Katrin blieb wie versteinert auf dem Sofa sitzen. Das konnte jetzt nicht wahr sein. Hatte sie so schnell schon alles ruiniert?
Matthieu schalt sich einen Dummkopf. Wieso musste bei ihm immer alles Feuer und Eifer sein? Schlimmer, wieso spielte er oft Leidenschaft, wo er nur eine Affäre suchte?
Gerade weil er Katrin wirklich mochte, hätte er vorsichtiger sein müssen. Galt es am Ende in Deutschland als unhöflich, sich nach so kurzer Bekanntschaft und zwei, drei Küssen einfach einzuladen? Matthieu wurde flau. Hektisch gab er Stichwörter in die Suchmaschine ein und hoffte, das Internet würde ihn klüger machen. Fehlanzeige. Colette! Wenn es jemanden gab, der wusste, ob er einen Fauxpas begangen hatte, dann nur sie.
Colette und Johannes saßen an einem Zweiertisch mit weißem Tischtuch, Kerze und entdeckten ihre junge alte Liebe wieder.
Sie fanden sich immer noch schön und konnten das jetzt auch sagen, bestanden darauf, dem anderen wiederholt kleine Häppchen auf die Gabel zu spießen und in den Mund zu schieben, lachten und wurden wieder ernst. Coco und Jo schwebten in einem Raum, der nur ihnen gehörte und einer Zeit, die nicht mit Jahreszahlen zu erfassen war.
Colettes Handy klingelte.
„Sorry, es ist Matthieu”, sagte sie und nahm das Gespräch an.
Colette hörte aufmerksam zu.
„Petit chéri, das ist kompletter Unfug. Hier ist nichts interkulturell. Mach daraus kein Drama. Fahr aber auch nicht einfach hin. Es reicht jetzt mit diesem spontanen Auftauchen von Menschen in Städten, in denen man sie nicht erwartet!”
Dabei zwinkerte sie Johannes zu.
Sie legte auf, seufzte kurz und meinte: „Matthieu und Katrin. Du und ich. Umgekehrt. Hat aber gerade erst angefangen.
Deinetwegen übrigens. Ist aber nicht gerade einfach.”
Johannes verstand nicht alles. Da es ihm völlig gleichgültig war, wer welche Probleme hatte, da er so glücklich war, wie er es nie wieder zu sein gedacht hatte, nickte er wissend und lächelte.
„Eins musst du aber für die nächsten vierzig Jahre lernen”, sagte sie streng.
Johannes hob fragend eine Augenbraue.
„Du musst mich Schatz, Liebling, Augenstern und und und nennen. Auf Deutsch!”
Johannes grinste: „Wie du meinst, liebes Ferkelchen.”
Er reichte ihr seine Serviette. Colette hatte sich beim Drohen mit dem Dessertlöffel etwas Crème brulée auf den Pullover gekleckert.
In dieser Nacht schlief keiner der vier sehr viel.
Katrin quälte sich mit dem Gefühl, sie habe mit ihrem Zögern allen Zauber aus der Romanze genommen, die ihr gerade wieder so etwas wie Lebensgefühl zurückgegeben hatte.
Matthieu marterte sich mit der Erinnerung an die Vorwürfe, die ihm seine zwei ehemaligen Ehefrauen gemacht hatten. Und, wenn er ganz ehrlich war, fast alle seine
Freundinnen, mit denen er nicht mehr als nur ein paar Nächte verbracht hatte. Das Porträt war nicht besonders schmeichelhaft: unsensibel, egozentrisch, narzisstisch. Seine Beziehungen pflegten katastrophal zu enden. Warum Katrin, der gegenüber er sich wirklich nichts vorzuwerfen hatte und mit der er, genaugenommen, noch gar keine Beziehung hatte, in ihm ein globales ‚mea culpa’ auszulösen vermochte, war Matthieu nicht klar.
Colette und Johannes hingegen erlebten die Schlaflosigkeit der Verliebtheit. Sie waren spät in Colettes Mansardenwohnung zurückgekehrt. Dort hatte Colette die Gästematratze auf dem Boden des Wohnzimmers ausgerollt. Ein keuscher Gutenachtkuss, Colette verschwand in ihrem Zimmer. Johannes rollte sich auf dem Boden in die Bettdecke. Beide starrten in der Dunkelheit auf die Tür, die sie voneinander trennte, bis Colette bei Johannes angetapst kam und ihm ins Ohr flüsterte, es sei ja nun nicht ihre erste Nacht und deswegen müsse man jetzt auch nicht groß verlegen tun.
„Wir haben ganz schöne Fortschritte gemacht”, sagte Colette später und strich zärtlich über Johannes’ Brust.
„Wie meinst du das, Liebling, Augenstern und ich weiß nicht mehr?”
„Denk mal an unsere Unbeholfenheit vor fünfzig Jahren!”
Und über die Erinnerung an ihre erste Nacht schliefen sie schließlich doch noch ein, als es draußen zwar noch dunkel war, Straßenreiniger in ihren grünen Wagen aber schon die Gehwege sauber spritzten, frühe Passanten in die Metro hinunterstiegen, und in einigen Cafés chromglänzende Espressomaschinen mit sonorem Brummen ihren Dienst aufnahmen.