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Der Mannheimer Hauptbahnhof war nur wenige hundert Meter entfernt. Entschlossen betrat Katrin die Eingangshalle, warf einen Blick auf die digitale Abfahrtstafel, löste eine Fahrkarte am Automaten und rannte zu Gleis 5. Der Zug fuhr ein. Minuten später saß Katrin auf einem Einzelplatz im Großraumwagen. Um zwei Minuten vor neun kam der Zug pünktlich in Paris am Bahnhof Gare de l’Est an.

Etwas unsicheren Schrittes ging Katrin zum Ausgang. Dann stand sie draußen.

Busse, Autos, eine Brasserie, rechts ein Hotel. Lärm. Großstadt.

Sie nahm ihr Telefon und den Metrofahrschein aus der Handtasche und tippte die Nummer ab. Was wollte sie hier? Was, wenn dieses Handy gar nicht in Paris, sondern im Elsass, dem Jura, der Ardèche, der Bretagne oder in irgendeiner anderen Gegend Frankreichs klingelte?

Allô?”

Katrin zuckte zusammen. Ein Mann, der Stimme nach zu urteilen, nicht mehr ganz jung. Was jetzt? Sie atmete tief und verstrickte sich in Erklärungen, von denen sie wusste, dass sie nicht zu verstehen waren – wenn auch ihr Französisch ihr noch immer flüssig über die Lippen kam und, wie sie fast gegen ihren Willen befriedigt konstatierte, recht unangestrengt klang.

Als sie nichts mehr zu sagen fand, und am anderen Ende nur Schweigen zu vernehmen war, endete sie mit „Excusez-moi, Monsieur!” und legte auf.

Am Abend gab es keinen Zug zurück. Sie würde in einem der nicht sehr einladenden, dafür umso teureren Hotels dem Bahnhof gegenüber übernachten, würde am nächsten Morgen die Stadt verlassen und den misslungenen Versuch eines Abenteuers unter keinen Umständen irgendjemand gegenüber je erwähnen. Verdrängen. Vergessen.

Ihr Handy klingelte. Widerwillig nahm sie den Anruf an.

„Erstens bin ich kein Monsieur, sondern heiße Colette. Zweitens legt man nicht einfach auf, wenn man unschuldigen Menschen am Freitagabend auf die Pelle rückt!”, bellte es aus dem Telefon.

„Ich habe gesagt, dass es mir leidtut.“

„Ich habe keine Ahnung, was das soll. Aber da du eh hier bist, können wir uns auch treffen. So wie du in meinen Abend geplatzt bist, schuldest du mir einen Mojito.”

Katrin wusste nicht, ob sie die ruppige Colette mit der tiefen Stimme kennenlernen wollte. Die Alternative, sich in einem öden Hotelzimmer über ihre Dummheit zu grämen, war allerdings nicht besser. Sie nahm das Angebot an.

Colette beschrieb Katrin den Weg zu einem Bistro in der Rue du Faubourg Saint Martin, nicht weit vom Gare de l’Est und nah bei ihrer eigenen Wohnung in einer Nebenstraße am Place de la République.

Als sie beim versprochenen Cocktail im Café saßen, fühlte Katrin nichts mehr von Peinlichkeit, Verlegenheit, gar Scham.

Sie strahlte Colette an.

„Lesbisch bist du nicht?”

Katrin schüttelte den Kopf. Nein.

„Aber ziemlich verrückt?”

Die Frage traf Katrin unvermutet. Wieder schüttelte sie den Kopf.

„Es ist ja auch völlig normal, in den ersten Zug nach Paris zu steigen, um vor Ort eine Telefonnummer auszuprobieren. Oder erlaubt dir dein Handyvertrag nicht, ins Ausland anzurufen?”

Katrin gluckste.

„Ich habe so etwas noch nie gemacht.”

„Und warum heute?”

„Gute Frage...“

Warum war sie auf Autopilot gegangen, hatte nicht nachgedacht, keinen Zweifel keimen lassen? Und warum ging das erst jetzt, mit fast fünfzig und nicht mit zwanzig?

Warum war sie nie der Globetrotter-Typ gewesen, der mit dem Rucksack um die halbe Welt tourte?

Katrin zuckte mit den Schultern. Es war dazu gekommen.

Einfach so.

Colette schnippte mit den Fingern.

„Komm zurück! Es ist schön, dass du da bist. Ohne dich hätte ich bis in die Nacht alles mit der Scheuerbürste traktiert. Da sitze ich lieber hier und trinke einen Cocktail!”

Von da an wollte das Gespräch nicht abreißen.

Es wechselte von Französisch zu Deutsch. Beide sprachen und verstanden sich mühelos, auch wenn sie inmitten eines Satzes in die andere Sprache wechselten.

Colette ließ einfließen, dass sie Mannheim und Heidelberg kannte. Katrin hatte im Auslandsjahr in Caen die normannische Küste erkundet, woher Colette ursprünglich kam.

Als das Café sich leerte, und der Wirt ihnen ein letztes Glas Wein einschenkte – von den Mojitos hatten sie im Laufe des Abends Abstand genommen – wussten sie eine ganze Menge voneinander.

„Wo schläfst du eigentlich?”, fragte Colette, als sie auf der immer noch belebten Straße standen.

„Ich habe ja noch nicht einmal eine Zahnbürste dabei.“

„Komm mit.”

Auf der Matratze, die Colette in ihr kleines Wohnzimmer gelegt hatte, schaute Katrin noch eine Weile in die Dunkelheit. Sie lag in Paris in der Wohnung einer Frau, von deren Existenz sie noch am Morgen nichts gewusst hatte. Dann schlief sie ein.

Die Kopfschmerzen am nächsten Morgen waren keine Überraschung. Colette kam in einem grauen Schlafshirt, oversize, und mit etwas strubbeligen Haaren. Sie reichte Katrin einen der beiden Becher, ebenfalls XXL und Kaffeeduft verbreitend.

Colette setzte sich auf die Sofakante.

„Ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen.”

„Das tut mir leid.”

„Muss es nicht. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich es genieße, dass mal wieder was passiert.”

„Bin ich noch etwas benebelt oder steht auf deinem T-Shirt echt ‚Wie ein Pinguin auf Eis?’ Colette grinste. „Tut es.“

„Und was soll das bedeuten?

„Hast du schon einmal einen Pinguin ausrutschen sehen?“

Katrin trank einen Schluck und schüttelte den Kopf.

„Pinguine verlagern ihr Gewicht nach vorne, wenn sie auf Eis gehen. Sie sind in perfektem Gleichgewicht und nichts haut sie auf den Hosenboden, façon de parler also, wenn ich mal so sagen darf. Und falls es doch einmal passiert, dann rappeln sie sich in Nullkommanichts wieder auf. Mein Ziel ist es, auf der Eisbahn meines Lebens der Pinguin zu sein. Deshalb habe ich mir das Shirt mit diesem Spruch bedrucken lassen. Cool, oder?“

Katrin lächelte.

„Ich gehe Croissants holen.”

Es roch wie in ihrer besten Erinnerung nach Baguette und Pain au chocolat. Die Kunden standen Schlange. Waren sie an der Reihe, bestimmten sie, wie ihr Brot zu sein hatte: hell, nicht zu lang gebacken oder mit goldbrauner Kruste, der man ansah, wie kross sie war. Sorgsam wählte die Verkäuferin das entsprechende Baguette und umwand es geschickt mit einem weißen Papier, das vergleichsweise nicht größer war als die Bauchbinde einer Zigarre.

Zurück bei Colette in der Küche mit dem Blick über graue Zinkdächer, auf denen Tauben trippelten, und mit Dutzenden an kleinen Schornsteinen, aus denen lange schon kein Rauch mehr in den Himmel zog. Es war perfekt, an diesem Samstagmorgen hier an einem kleinen Holztisch zu sitzen, französische Radionachrichten zu hören, Weißbrot mit Butter und einer selbstgemachten Erdbeermarmelade zu bestreichen. Colette tauchte ihre Tartines in eine große Schale Milchkaffee. Bei jedem Eintunken glitten etwas Marmelade und Butter ab.

Mitunter fiel ein Stückchen Brot in die Tasse. Katrin kannte den Brauch von Besuchen in französischen Familien. Normalerweise reagierte ihr Magen mit Unwohlsein auf den Anblick von Kaffee mit Fettaugen und aufgequollenen Weißbrot-Marmeladen-Inseln. Auch heute war ihr nicht ganz wohl, wenn Colette die nasse Spitze ihres Brotes in den Mund schob.

An diesem Morgen aber war Dankbarkeit stärker als Aversion. Sie sah lediglich diskret nach draußen zu Tauben und dahinziehenden Wolken. Schließlich war es der Gedanke, dass sie am Abend wieder in ihrer eigenen Wohnung sein würde, der dem schwebenden Glück Katrins sichtlich ein Ende setzte.

Colette begriff sofort. „Du kannst gern noch eine Nacht hier bleiben. Ein halbes Wochenende ist frustrierend …”

Colette hatte es sich nicht nehmen lassen, aus dem Stegreif eine Soirée zu organisieren. Katrin mochte den Abend nicht in ihrer freitäglichen Bürokluft verbringen.

Am späten Vormittag schlenderten die beiden Frauen durch die Boutiquen des Marais. Katrin probierte bunte Hosen, Röcke und Pullover, die sie zu Hause nicht zu tragen gewagt hätte. Colette sah ihr zu. Sie fühlte Wohlwollen, ein wenig Neid und … Freude. Die Überraschung aus Deutschland tat gut. Und gut war auch, dass Katrin nicht wusste, dass Colette auf Deutschland eigentlich gar nicht gut zu sprechen war.

Die Entscheidungen fielen schwer. Irgendwann hatte Katrin dann aber doch genug gekauft und genug vom Suchen und merkte, dass sie Hunger hatte. Colettes Magen hatte schon seit längerem Alarm geschlagen. Sie hatte das geduldig für sich behalten. Jetzt aber war es höchste Zeit. Im Petit Fer à Cheval reihten sich helle Holztische um einen imposanten Tresen. Colette und Katrin fanden einen letzten freien Platz. Der Geräuschpegel war beeindruckend.

Katrin war begeistert und bestellte eine große Schale Salade Niçoise.

„Dein Deutsch ist echt gut!”, wiederholte Katrin ein Kompliment, das sie Colette bereits am Vorabend gemacht hatte – ohne jedoch eine Reaktion hervorzurufen. Jetzt zerzupfte Colette etwas hektisch ein Stück Baguette. Katrin spräche ja auch gut Französisch, beschied sie knapp.

Auf dem Nachhauseweg schlug Colette einen Abstecher ins Centre Pompidou vor.

„Der Blick von oben ist einmalig.”

Die Rolltreppen in Röhren aus Plexiglas trugen sie gemächlich bis in den fünften Stock. Rechts erhob sich Sacré Cœur in unbeflecktem Weiß über das Meer der Häuser, in der Mitte brütete die Kirche Saint-Eustache wie eine hellbraune Henne im Nest, links reckte sich der Eiffelturm in seiner rostfarbenen Industrieschönheit.

„Ich bin glücklich hier zu sein, Colette. Danke!”

Die Abendgäste waren für acht Uhr geladen. Alles war bereit, Kerzen, duftende Quiche Lorraine, blank geriebene Gläser und diskreter Jazz, der ins Wohnzimmer tröpfelte. Fehlte das Stimmengewirr plaudernder Menschen. Die aber ließen auf sich warten. Bis um Viertel vor neun behielt Katrin ihre Enttäuschung für sich. „Was ist mit deinen Freunden? Warum kommen sie nicht?” Colette schaute sie verwundert an. Dann lachte sie.

„Wenn du hier um acht zu einer Party eingeladen bist, dann trudelst du nicht vor neun ein. Das wäre unhöflich!”

Ab einundzwanzig Uhr klopfte es tatsächlich an der Tür. Bald war das kleine Wohnzimmer voll, und der diskrete Hintergrundjazz wurde von lautstarken Gesprächen verschluckt.

Kurz vor Mitternacht klopfte einer der Freunde Colettes an sein Glas.

„Bevor Cinderella vermutlich gleich so unvermittelt wieder verschwindet, wie sie erschienen ist, wüsste ich gern, wie ihr euch getroffen habt.”

Katrin und Colette erzählten die Geschichte ihrer Begegnung – Zufall, Eingebung, Sympathie.

„Das muss dich ja mit deiner deutschen Vergangenheit versöhnen”, kommentierte eine Stimme, von der Katrin nicht sah, wem sie gehörte. Es wurde still. Anscheinend wussten die Gäste, dass dieser flapsige Satz Zündstoff enthielt. Colette antwortete nicht. Schließlich aber lächelte sie.

„Vielleicht. Es ist wohl an der Zeit.”

Das Stimmengewirr setzte wieder ein. Was mochte der ominöse Satz bedeuten?

Was hatte es mit Colettes ‚deutscher Vergangenheit’ auf sich? An diesem Abend war jedoch keine Antwort mehr zu erwarten.

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