Читать книгу Geschichte vom Verlieren, Suchen, Finden - Anke Feuchter - Страница 14
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ОглавлениеJohannes stapfte durch raschelndes Laub. Er war aufgewühlt.
Der Spaziergang im melancholischen Licht eines Oktobernachmittags war nicht dazu angetan, seine Stimmung aufzuhellen. Was für eine Idee, sich ausgerechnet dann zum Philosophenweg für einen Spaziergang aufzumachen.
Verdrossen kickte er aus einem Häuflein welker Blätter eine Kastanie auf, die in hohem Bogen davonhüpfte
„Erlauben Sie mal, was machen Sie da?”
Johannes zuckte. Er hatte sich allein gewähnt. Jetzt wurde er der älteren Frau mit einem Korb gewahr, die unter einem Baum etwas verdeckt vorwurfsvoll in seine Richtung blickte.
„Ich gehe hier spazieren.”
„Das sehe ich”, erwiderte die Frau, „und das meine ich nicht. Was ich meine, ist, dass Sie Kastanien durch die Gegend schießen.”
„Und?”, fragte Johannes unfreundlich zurück. Die Korbmadame mit ihren robusten Schuhen und der praktischen Windjacke nervte ihn.
„Das sind Esskastanien”, erwiderte sie und strich ein graues Löckchen zurück, das über ihre Augenbraue gefallen war.
„Für manche Menschen − zum Beispiel mich − sind sie im Herbst ein Geschenk der Natur. Ich sammle sie, ich freue mich darüber, und ich mache anderen eine Freude damit. Es tut mir weh, wenn ich sehe, dass jemand wie Sie diese Frucht nicht achtet. Als ob Sie über der Natur stünden. Aber ich belästige Sie nicht weiter.”
Sie wandte sich zu den Bäumen und bückte sich, um weiter zu sammeln. Johannes beobachtete sie. Erstaunlich war, dass ihre Worte eine Allegorie hätten sein können für das, was ihn beschäftigte. Vierzig Jahre lang hatte Johannes sich als Opfer Colettes gefühlt. Sie hatte ihn verlassen, war nach Frankreich zurückgekehrt und hatte sich nie mehr gemeldet. Er war zerstört gewesen. Er hatte sich geschworen, nie wieder eine ernsthafte Beziehung einzugehen, und hatte durchgehalten. Nie hatte seine Überzeugung, am Scheitern der Beziehung keine Schuld zu tragen, gewankt. Bis vor ein paar Wochen. Die kleine Gruppe Doktorandinnen und Doktoranden, die er betreute, hatte ihm zum Geburtstag einen selbst zusammengestellten und gestalteten Bild-Text-Band geschenkt und ihn mit Widmungen versehen.
Darunter auch die Zeilen mit den markanten Versen aus dem 24. Kapitel des Tao-Te-King, die Johannes nur allzu gut bekannt waren:
Wer auf den Zehen steht,
steht nicht fest.
Wer mit gespreizten Beinen geht,
kommt nicht voran.
Wer selber scheinen will,
wird nicht erleuchtet.
Wer selber etwas sein will,
wird nicht herrlich.
Wer selber sich rühmt,
vollbringt nicht Werke.
Wer selber sich hervortut,
wird nicht erhoben.
Im Dezember 1976 war Colette durch die Heidelberger Altstadt gestreift, um Weihnachtseinkäufe zu machen. Schnell ging ihr die Suche nach Geschenken auf die Nerven, sie verließ die überhitzte Atmosphäre der Kaufhäuser und stöberte bei ihrem Lieblingsantiquar in den Regalen. Dabei hatte sie den Tao-Te-King entdeckt.
Johannes hatte die Lektüre der ersten Abschnitte bei einem Becher Glühwein über sich ergehen lassen.
Gewürzgeschwängerte Luft, Weihnachtslieder und die betäubende Wirkung des Alkohols hatten ihn den Text zwar unverständlich, mindestens aber poetisch finden lassen.
Je begeisterter Colette in der Folge die Fibel mit den kryptischen Versen zu ihrer Lebensphilosophie erhoben hatte, desto zäher versuchte sie, ihn von der Sinnhaftigkeit dieser Gedanken zu überzeugen. Sie hatten sich über die Weisheit, den Nonsens, die Nichthaltbarkeit oder Tiefe der Texte gestritten.
Als Colette weg war, hatte Johannes auf dem Küchentisch jene Zeilen aus dem 24. Kapitel vorgefunden.
À méditer, denk in Ruhe drüber nach, stand noch darunter.
Und: Love, Colette.
Das war es gewesen. Johannes hatte schweigend gelitten, hatte die Geschichte abgeschlossen.
Sobald er es sich leisten konnte, war er aus der kleinen Wohnung ausgezogen, hatte alle Erinnerungen an die gemeinsame Zeit bis zum kleinsten Plakat, dem letzten gebatikten Sofakissen und den kratzigen Frotteetüchern in die Mülltonne gestopft und sich nurmehr als Single definiert.
Den Zettel mit dem Vers aus dem Tao-Te-King hatte er nicht weggeworfen, sondern in der neuen Wohnung in die Küchenschublade unter die Einlage für das Besteck gelegt und dort mit der Zeit vergessen.
Als er die Zeilen im Geschenk der Studenten mit einem Blick erfasste, verstand er plötzlich, was Colette ihm hatte sagen wollen: Er war so sehr mit seinen Zielen beschäftigt gewesen, hatte so viel gewollt, Lob und Ruhm gesucht, dass alles Leise und Zarte für ihn unwichtig geworden war.
Auch Colette.
„Haben Sie meinen Rücken jetzt genug angestarrt?”
Die Kastaniensammlerin war ebenso stachlig wie die Umhüllungen der glänzenden Früchte.
„Ja”, sagte Johannes und „Entschuldigung.”
Dann ging er weiter, seine Schritte nun sorgsam setzend. Zu Hause machte er sich einen Tee und setzte sich vor den Computer.
Er würde nicht auf Facebook schauen, ob ihm Colette geantwortet hätte, wie er das am Wochenende wohl einige Dutzend Mal getan hatte. Zu spät. Er hatte eine Nachricht.
Matthieu stand auf dem Bahnsteig und schaute dem abfahrenden Zug nach, bis auch die Schlusslichter hinter der Gleisbiegung verschwunden waren. Der Abschied von Katrin hatte ihn berührt. Zwischen ihnen gab es eine Innigkeit, an die Matthieu nicht mehr gewöhnt war. Vielleicht auch hatte er sie nie gekannt, dachte er. Katrin war anders als die Frauen, mit denen er Flirts, Affären oder Beziehungen gehabt hatte. Matthieu genoss das Lebensgefühl, das sie in ihm erwachen ließ.
Es machte ihm aber auch Angst.
In den vergangenen zwanzig Jahren hatte Matthieu sich angewöhnt, alles zu kontrollieren, an vorderster Stelle seine Gefühle. Gefolgt von seinem Outfit, den Büchern, die er las, den Filmen, die er im Kino sah und der Musik, die er gern hörte.
An Nähe und Innigkeit mit einem anderen Menschen glaubte Matthieu seit Jahren nicht mehr. Allenfalls Colette und François mochten davon ausgenommen sein. Aber auch im Umgang mit ihnen achtete Matthieu immer darauf, nicht allzu viel von sich preiszugeben. Man wusste nie, was wie wiederholt, interpretiert und gegen einen verwendet werden konnte. Als Scheidungskind hatte Matthieu früh die Erfahrung gemacht, dass scheinbar fürsorgliche Fragen oft auf Macht und Manipulation abzielten. Seine eigenen Trennungen hatten diese Meinung noch erhärtet.
Es war angenehm, Frauen kennenzulernen, sie zu verführen, zu berühren und genauso viel Zeit und Intimität mit ihnen zu teilen, bis sie begannen, Ansprüche zu stellen und Matthieu zur Last wurden. Seine Verführungstaktik war einfach – zum einen setzte er auf die Verlässlichkeit seines guten Aussehens. Zum anderen aber hatte er das Fragen kultiviert. Darauf fielen ausnahmslos alle Frauen herein, denn jede wollte ihre Geschichte erzählt haben und fand es unglaublich, dass ein Mann ihnen derartiges Interesse entgegenbringen konnte. Unter Matthieus sensiblem Blick fühlte sich jede Frau besonders. Bereitwillig lief sie ihm in seine Falle. Matthieu blieb ungerührt.
Auch mit Katrin hatte er sich die Geschichte so vorgestellt. Die Ouvertüre war die gleiche gewesen wie immer – Geplänkel und vorgeblich ernste Gespräche in lauschiger Atmosphäre. Dann war ihm Panzerkreuzer Colette in die Quere gekommen. Nach Verabschiedung am Partyabend hatte Matthieu den beiden Frauen vom Balkon aus nachgesehen, ein letztes Glas Champagner geleert und sich auf den nächsten Tag gefreut.
Katrin war ihm sicher. Der Coup mit seinem Überraschungskuss an der Haustür passte wie ein Puzzleteil ins Planspiel.
Dass er Katrin dazu überredete, der immer noch fest schlafenden Colette Croissants, Baguette und einen Zettel zu hinterlassen, auf dem lakonisch stand, sie sei unterwegs, gehörte zur Romantik auf Abruf.
Dann hatten sie am Canal Saint-Martin in der Sonne gesessen, den mitgebrachten Kaffee von Matthieu getrunken, Croissants dann aber mehr verkrümelt als gegessen. Menschen flanierten, das Wasser schimmerte grünlich, Herbstlicht fiel durch die hohen Bäume.
Matthieu war sich seiner Sache sicher. Er warf einen Blick auf die Armbanduhr, bis zur Abfahrt von Katrins Zug am Abend blieben etwas mehr als sieben Stunden.
Einem Sonntagnachmittag in dem eigens frisch bezogenen Bett stand nichts im Weg. Er hatte nicht zugehört, was Katrin ihm erzählte und bat sie, dies nochmals zu wiederholen. Als Ausrede führte er an, sie bringe ihn mit ihrer Schönheit durcheinander. Die Ausrede war so abgegriffen, dass Matthieu sich ihrer schämte. Und in diesem Augenblick geschah das Unerwartete: Katrin kokettierte nicht. Sie lachte kein selbstbewusstes Lachen, strich sich keine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie tat einfach nichts von dem, was Frauen, die er kannte, in einer solchen Situation in der Regel taten. Katrin wurde rot.
In diesem Moment war es geschehen. Matthieu war angerührt von der Natürlichkeit, die von den roten Wangen ausging, die Katrin hinter ihren Händen zu verstecken suchte.
„So etwas bin ich nicht gewohnt”, sagte sie hektisch.
„Was?”, wollte Matthieu wissen, und es war, er registrierte es mit Unbehagen, keine rhetorische Frage.
Er wollte wissen, wieso eine attraktive Frau wie Katrin nicht daran gewöhnt war, dass man ihr ein Kompliment machte.
„Bei uns ist das nicht so. Da sagt man dir nicht, dass du schön bist.”
Matthieu mochte das nicht glauben. Waren deutsche Männer Stoffel oder blind, oder beides? Er forderte Katrin auf, ihm die Komplimente aufzuzählen, an die sie sich erinnerte. Und fand es schauderhaft, als sie ihm ernsthaft versicherte, dass ihr lediglich einfiele, ‚Augen wie ein Husky‘ und ‚ein nettes Lächeln‘ zu haben. Matthieu schnaubte verächtlich. Der Zyniker ihn ihm sagte sich aber auch, dass er bei einer eventuellen Reise durch Deutschland sich wohl nicht um Übernachtungen zu sorgen hätte. Der echte Matthieu aber war mehr und mehr von der Ehrlichkeit Katrins berührt. Eine Französin hätte sich nicht in die Karten schauen lassen, während man ihr ganz unverstellt den Hof machte.
Matthieu umarmte Katrin und rieb seine Nase an der ihren:
„Ma petite Allemande, ich fürchte, der Gesprächsstoff wird uns so bald nicht ausgehen. Es interessiert mich nämlich alles brennend, was du mir da über die Beziehungen von Frauen und Männern in Deutschland erzählst.”
Nach dieser Unterhaltung war es schlicht unmöglich, ein Schäferstündchen am Nachmittag auch nur anzudenken. Tabu. Und damit hatte ‚Mr. Profi-Womanizer‘ in Sachen Katrin ein Eigentor geschossen. Gegen 15 Uhr hatte Colette angerufen.
Matthieu grinste, als er ihr Foto auf dem Display sah und begrüßte sie.
„Wo seid ihr?”, bellte sie ihn an.
„Am Canal Saint-Martin”, antwortete er, „warum kommst du nicht dazu?” Colette willigte ein.
Matthieu rief François an, auch der gesellte sich zu ihnen. Matthieu schlug eine Bootstour vor, die vom Becken des Kanals durch dessen unterirdischen Teil über die Bastille ging und an der Seine gegenüber dem Musée d’Orsay endete.
„Eine Landpartie in Paris – wir sitzen hier wie auf einem Bild von Renoir”, spottete Colette und verbarg, wie sehr sie es liebte, wenn das Boot im Schleusenbecken angehoben wurde, wie sie langsam an den alten Häusern vorbeiglitten und wie schön es sich anfühlte, in der eigenen Stadt Tourist zu sein. Da Colette eine sensible Beobachterin war, entging ihr nicht, dass Matthieu Katrin nicht mehr in seine Netze zu locken versuchte. Sie fühlte, dass zwischen den beiden ein spinnwebdünner Faden der Vertrautheit gesponnen worden war. Colette lehnte sich zurück, schloss die Augen hinter der großen Sonnenbrille und genoss den Hauch der milden Herbstluft auf ihrer Haut.
Irgendwann war die Zeit knapp geworden.
Colette hatte nichts dagegen, Katrins Reisetasche in einer Ecke ihrer Wohnung zu verstauen.
„Du kommst ja bestimmt bald wieder!”