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9 / Samstag, 24. März 2007

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Am nächsten Morgen hatte Dan dröhnende Kopfschmerzen; weder die Joggingtour noch die anschließende Dusche linderten die Schmerzen. Nicht, dass diese plötzliche Krankheit irgendetwas Geheimnisvolles gehabt hätte; er konnte nicht einmal auf sich selbst wütend sein, dachte er und schluckte drei Kopfschmerztabletten und einen halben Liter Mineralwasser. Schließlich hatte ihn ja niemand gezwungen, gestern Abend so viel zu trinken. Aber es war einfach unglaublich gemütlich gewesen, und Flemmings mitgebrachte Flasche Rotwein hatte Gesellschaft von erst einer, dann zwei und schließlich drei Flaschen aus Dans und Mariannes Vorrat bekommen. Zum ersten Mal seit Monaten hatten sie sich einen kleinen Rausch erlaubt, und nachdem Dan Flemming eine kurze Zusammenfassung des Ursula-Falls gegeben hatte, waren Ernsthaftigkeit und Arbeit vergessen. Platte Witze und der saftigste lokale Klatsch hatten die Oberhoheit über das Sofa übernommen, während die späten Abend- zu frühen Morgenstunden und die Weingläser immer fettiger wurden. Es war lange her, dass Dan so viel gelacht hatte. Konnte es sein, dass seine Bauchmuskeln nach der ungewohnten Anstrengung noch immer ein bisschen schmerzten? Flemming hatte ein Taxi zurück in sein gelbes Backsteinhaus in der Weststadt genommen, und Dan war so gut gelaunt, dass er vollkommen vergessen hatte, darauf zu achten, ob Mariannes Abschiedskuss ein bisschen länger dauerte oder nicht. Er hatte die Arme um ihre Taille gelegt, als sie dem Taxi nachwinkten, und als es verschwunden war, hatte Marianne, bereits im Halbschlaf, sofort die Treppe erklommen.

Dan hatte den Abwasch von Hand erledigt, er wollte die nächtliche Ruhe nicht durch die Spülmaschine stören. Er wusch bestimmt nicht gern ab, aber während sein in Rotwein mariniertes Gehirn die Begebenheiten des Tages und die abendliche Unterhaltung Revue passieren ließ, genoss er es, allein in der gemütlichen Küche zu stehen. Von Minute zu Minute verwandelte sich das Chaos in Ordnung: Schmutzige Teller, Essensreste, Weinflecken und zerknüllte Servietten wurden beseitigt, Weingläser poliert, die Tischdecke in die Wäsche geworfen und eine saubere auf den Esstisch gelegt, die Kerzenhalter sorgfältig vom Wachs gereinigt, die Wasserschale aufgefüllt. Ach nein, er richtete sich auf. Die Wasserschale gab es ja nicht mehr. Sie war verschwunden, seit der alte Labrador der Familie eingeschläfert werden musste. Es war mehrere Monate her, aber Dans Unterbewusstsein hatte noch immer nicht akzeptiert, dass Luffe nicht mehr da war.

Mindestens einmal am Tag suchte er den korpulenten gelben Körper auf dem Sofa, bückte sich nach einem besonders geeigneten Ast im Park, griff nach einer Packung Hundekekse im Supermarkt, überprüfte automatisch mehrfach am Tag, ob eine schwarze Hundetüte in der Gesäßtasche steckte. Er hatte es mehrfach fertiggebracht, an der Garderobe unter den Mänteln der Familie nach der Hundeleine zu suchen und sich lautstark darüber zu beschweren, dass irgendjemand sie nicht an ihren Platz gehängt hatte.

Das einzig Vernünftige wäre selbstverständlich, sich einen neuen Hund anzuschaffen, darin waren sich alle einig; eigentlich konnte es nicht schnell genug gehen. Das Problem bestand nur darin, dass sie sich nicht auf eine Rasse einigen konnten.

Marianne wollte einen kleineren, etwas handlicheren Hund, den man auch hochheben konnte – und am liebsten einen, der nicht haarte. Sie wollte mit anderen Worten einen Pudel. Allerdings als Einzige. Rasmus war für einen Boxer, Laura begeisterte sich leidenschaftlich für eine französische Bulldogge und Dan … Ja, Dan sah überhaupt keine Veranlassung, die Rasse zu wechseln. Was war denn verkehrt an einem Labrador? Wenn es nach ihm ginge, sollte es ein gelber Rüde sein, der Luffe genannt wurde. Wieder. Denn in Wahrheit wollte Dan nicht nur einen Hund – er wollte Luffe wiederhaben.

Als er die Zeitung gelesen und seine Mails gecheckt hatte, leerte er die zweite Tasse Kaffee dieses Samstags und zog den Mantel an. Ein langes Tagesprogramm lag vor ihm. Der erste Tagesordnungspunkt führte ihn zum Internat, seiner Frau hatte er versprochen, Laura eine Tüte mit sauberer Wäsche mitzubringen. Auf dem Weg nach Egebjerg hörte er das Lieblingsalbum seiner Jugend, Bruce Springsteens Born in the USA. Er drehte die Lautstärke auf und schmetterte ein Duett mit dem Boss. Als die letzte Nummer endete, waren seine Kopfschmerzen verschwunden. Wenn das Marianne wüsste. Sie hasste Springsteen und meinte, seine Musik wäre etwas für pathetische Männer in mittleren Jahren, die nie das erreicht hätten, wovon sie geträumt hatten. Möglicherweise hatte sie recht, trotzdem war Dan der Ansicht, dass Springsteens Musik funktionierte. Natürlich gab es die schlichte Erklärung, dass er exakt zur Zielgruppe gehörte, aber darüber wollte er jetzt nicht allzu sehr nachdenken.

Er fuhr bis zum Ateliereingang und ließ den Wagen unverschlossen, als er hineinging. Der Raum summte vor Aktivität, als hätte jemand vergessen, die Schule darüber zu informieren, dass Wochenende war. Rund zehn Schüler arbeiteten an großen Pappstücken, die an flachen Holzskeletten befestigt wurden – eindeutig Kulissen für ein Theaterstück. Auf die Vorderseiten waren verschiedene Motive gemalt, eines zeigte die Ecke eines Kachelofens mit ein paar gestreiften Katzen in einem Korb, ein anderes ein Himmelbett, und auf einer dritten Tafel war die detaillierte Wiedergabe eines Rokokospringbrunnens zu sehen.

»Was wird denn gespielt?«, fragte er Ursula. »Holbergs Jeppe vom Berge

»Gut erkannt.« Sie lächelte. »Aber die Antwort lautet ja und nein. Diese Kulissen stehen auf der Bühne, wenn die Zuschauer hereinkommen. Wir spielen Holberg – bis wir von einigen Autonomen unterbrochen werden, dann verändert sich das Stück vollkommen. Es ist wirklich gelungen. Sie dürfen sich darauf freuen.« Sie blickte zu ihm auf. »Sie kommen doch am Dienstag, oder?«

»Ja, sicher«, beeilte er sich zu antworten und fluchte innerlich, weil er keine Ahnung hatte, dass die Abschlussvorstellung des jährlichen Gemeinschaftsprojekts schon so bald stattfand. Scheiße, wieso verfolgte er das Schulgeschehen nicht aufmerksamer. »Hej, Laura!«

»Hej, Pa!« Sie umarmte ihn lange. Keiner der beiden bemerkte, dass sie einen schmierigen, hellblauen Fleck auf dem teuren Hemd ihres Vaters hinterließ. »Was machst du hier?«

»Nur etwas holen. Ich fahre gleich wieder.« Er reichte ihr die Tüte mit der frischen Wäsche.

»Danke.« Sie schob die Tüte unter einen Tisch.

»Sie trinken doch eine Tasse Tee?«, erkundigte sich Ursula.

Dan schüttelte den Kopf. »Nein danke.« Er ging zur Tür, Ursula folgte ihm. An der Tür drehte er sich um und sah seine Tochter an. »Du willst nicht mit nach Hause?«

»Keine Zeit, Papa. Wir haben morgen und am Montag Generalprobe und das Bühnenbild ist noch längst nicht fertig. Grüß Mama … und Rasmus, wenn ihr ihn seht.«

»Werden wir vermutlich nicht, aber wenn das Wunder geschehen sollte, gern. …«

Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als Dan und Ursula die hundert Meter vom Atelier zu ihrer Wohnung gingen. Es war heute etwas kühler, aber Schafe und Schwalben taten ihr Bestes, die frühlingshafte Stimmung vom letzten Mal heraufzubeschwören. Er warf seiner Klientin einen Blick zu. Sie war noch immer blass und das Lächeln drang nicht bis in ihre Augen, aber selbstmordgefährdet sah sie nicht aus. »Wie geht’s Ihnen, Ursula?«

Sie blickte weiterhin geradeaus. »Ach, wissen Sie, es muss ja.«

»Ist Anemone noch hier?«

»Sie fährt am Freitag. Sie muss zu einer Vernissage.«

»In Berlin?«

Ursula nickte. »Ich glaube, im Grunde ist es ganz schön, wieder allein zu sein.« Sie blickte ihn kurz an. »Also nicht, dass ich nicht froh wäre, sie hier zu haben, aber …«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich verstehe das voll und ganz. Ich habe auch Kinder.«

In einem ihrer Küchenschränke stand eine hohe, geblümte Schachtel mit einer voluminösen Goldschleife. »Den Whisky hat er von Gitte bekommen, unserer Schulleiterin, als er im Winter sämtliche Möbel in der Kantine lackiert hat.« Ihre Stimme war ausdruckslos, aber Dan registrierte, dass sie Jakobs Namen noch immer nicht laut aussprechen konnte. »Seine Fingerabdrücke müssen darauf sein. Ich erinnere mich genau, dass er sie aus der Schachtel genommen hat, um das Etikett zu lesen, bevor er sie wieder zurückstellte.«

»Sie haben die Flasche nicht angefasst?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich mag keinen Whisky.« Der Schatten eines Lächelns glitt über ihre Lippen. »Er übrigens auch nicht … Deshalb bin ich mir sicher, dass die Flasche seitdem nicht berührt wurde.«

»Und Anemone?«

»Sie trinkt nicht.«

»Ich hätte trotzdem gern auch die Fingerabdrücke von Ihnen und Ihrer Tochter. Wenn doch etwas …«

Sie zuckte die Achseln. »Mone?«, rief sie in Richtung Wohnzimmer, und einen Augenblick später tauchte ihre Tochter auf, im Bademantel und mit einem hellblauen Handtuch um den Kopf. Sie hob fragend eine Augenbraue. »Mone, Dan braucht unsere Fingerabdrücke.« Ursula holte zwei Glasteller aus einem Hängeschrank. »Was ist damit?« Sie hielt sie Dan vors Gesicht.

»Keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie man Fingerabdrücke nimmt. Wird das nicht mit Stempelfarbe gemacht?«

Wieder zuckte Ursula die Achseln. Sie sprühte die beiden Teller mit Glasreiniger ein und polierte sie. Dann rieb sie ihre Hände sorgfältig mit einer Handcreme ein, ließ sie einen Moment einziehen und drückte nacheinander jeden einzelnen Finger auf den Tellerboden. Als sie fertig war, schob sie Anemone den anderen Teller zu, die es ihrer Mutter mit einem widerwilligen Gesichtsausdruck nachtat.

»War das alles?«, fragte die junge Frau, als auch sie ihre Abdrücke hinterlassen hatte. Dan nickte, und sie verschwand ohne ein weiteres Wort.

Ursula sah ihr nach und lächelte Dan an. »Kinder, was?«

Er erwiderte ihr Lächeln und dankte im Stillen dem Schicksal, dass seine Kinder der furchteinflößenden Anemone überhaupt nicht ähnelten. Dann packte er die Schachtel mit der Flasche und eine Tüte mit den Tellern ein und versprach Ursula, dass sie alles zurückbekäme. Er legte die Sachen in den Kofferraum und wandte sich Ursula zu, die neben ihm von einem Fuß auf den anderen trat.

»Ja?«, sagte er.

»Gibt es … Haben Sie schon irgendetwas Neues gehört?«

Dan schüttelte den Kopf. »Es ist noch zu früh für Ergebnisse, Ursula. Die Anzeige wurde erst gestern Nachmittag geschaltet.«

»Sie ist gut.«

»Danke.«

»Ich bin froh …« Sie senkte den Blick und räusperte sich. »Es ist gut, dass du – ich sage jetzt einfach mal du – seinen Namen in der Anzeige nicht erwähnst, finde ich.«

»Ursula …« Dan berührte sanft ihre Schulter. »Es ist nicht sein richtiger Name. Ganz bestimmt nicht.«

»Trotzdem. Wenn er es gesehen hat …« Ihre Stimme versagte.

»Wenn er es sieht, dann passiert nichts.« Dan öffnete die Wagentür. »Er nennt sich jetzt höchstwahrscheinlich anders. Und er wird garantiert nicht angelaufen kommen, um sich zu beschweren.« Er ließ das Seitenfenster hinunter. »Vertrau mir.«

Sie nickte, ohne ihn anzusehen. Als er den Wagen langsam aus der Einfahrt rollen ließ, sah er sie stehen – die Arme beschützend an die Brust gedrückt, die viel zu roten Haare flatterten ihr ums Gesicht. Sie sah plötzlich so klein aus.

Der Judaskuss

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