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10 / Montag, 26. März 2007

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Dan Sommerdahl klapperte nacheinander die Büros der Luftfahrtgesellschaften und der Autoverleiher ab, erst im neuen Terminal, dann im alten. Er zeigte die Fotos von Jakob Heurlin, betonte, dass er sich damals möglicherweise anders genannt habe, und erklärte in so wenigen Worten wie möglich, warum er den Mann suchte. Ohne Erfolg. Nirgendwo. Niemand konnte sich an den hübschen, blonden Mann erinnern.

»Haben Sie daran gedacht«, sagte eine große, uniformierte Frau bei Finnair, »dass der Mann vielleicht zwei Tickets gekauft hat – eins für den Ort, wo er offiziell hinwollte, und eins für sein tatsächliches Reiseziel?«

»Ja«, antwortete Dan. »Habe ich tatsächlich. Aber es war doch einen Versuch wert, oder? Ich meine, wenn er die Tickets vorher gekauft hat, dann vermutlich im Netz. Dann kann man ihn unmöglich finden, wenn ich nicht weiß, welchen Namen er benutzt hat.«

»Vielleicht gibt es jemanden in der Transithalle, der ihn gesehen hat?« Sie legte den Kopf ein wenig schräg und betrachtete noch einmal das Foto. »Er sieht nicht aus wie jemand, den man sofort vergisst.«

»In der Transithalle? Muss man dazu nicht einen Flugschein vorweisen und erst einmal durch den Check-in?«

»Wenn Sie einen Presseausweis haben, kommen Sie über das Flughafenbüro hinein.«

»Zu ärgerlich.«

»Tja, dann versuchen wir etwas anderes.« Die Frau tastete eine dreistellige Nummer in ein rotes Telefon und wechselte einige Worte mit jemandem. »Sie sind der kahlköpfige Detektiv, nicht wahr?«, sagte sie, als sie auflegte.

»Ja.« Es endete vermutlich damit, dass er sich selbst an diesen Spitznamen gewöhnte.

»Es kommt jemand von der Security, der Ihnen durch die Schleuse hilft.« Sie lächelte. »Gute Jagd!«

Der Security-Mann stellte sich als Anders vor und war offensichtlich ausgesprochen beeindruckt, dass ein Privatdetektiv seine Hilfe benötigte. Wie sich herausstellte, war die Prozedur ganz harmlos und keineswegs kompliziert. Name, Adresse. Führen Sie Scheren, Messer oder andere spitze Gegenstände mit sich? Eine rasche Kontrolle mit dem Metalldetektor, dann wurde Dan mit einem kleinen Gästeschild ausgestattet, mit dem er sich im Transitbereich jederzeit ausweisen konnte. Als er seine Verblüffung äußerte, lachte Anders. »Was, glauben Sie denn, machen die Verkäufer in den Läden oder die Angestellten der Restaurants? Sich einmal am Tag ein Ticket nach London kaufen?«

Na ja. So gesehen hatte der Mann ja recht. Dan hatte nur nie darüber nachgedacht.

Er ging in der Transithalle auf und ab, und plötzlich überkam ihn Urlaubsstimmung. Jetzt auf dem Weg nach Barcelona, Athen oder Los Angeles zu sein … Er bestellte sich einen doppelten Espresso für einen Betrag, für den er außerhalb dieser heiligen Hallen eine komplette Mahlzeit bekommen hätte, ließ seinen Blick durch die Halle schweifen, während er die letzten Tropfen schlürfte, und beschloss, im Duty-free-Shop zu beginnen. In der Herrenabteilung der Parfümerie konnte sich keine der perfekt gekleideten und intensiv duftenden Verkäuferinnen an den Mann auf dem Foto erinnern. Dan ging weiter. Damenparfüm, Schnaps, Süßigkeiten. Nichts. Er setzte die Recherche in der Halle fort: Modegeschäfte, Schuhläden, Dekorationsgegenstände, Delikatessen, Elektronik, CDs. Als er den großen Laden mit Büchern und Zeitschriften aus der ganzen Welt erreichte, hatte er es beinahe aufgegeben, trotzdem zeigte er das inzwischen ziemlich abgegriffene Bild einer kleinen, schmächtigen Blondine an der Kasse.

»Ja«, sagte sie, ohne zu zögern, und pustete sich eine lange Strähne aus den Augen. »Den habe ich gesehen.«

»Sind Sie sicher?«

»Kann es vor circa einer Woche gewesen sein?«

»Letzten Montag.«

»Wusste ich’s doch.« Sie schaute noch einmal auf das Foto und gab es Dan zurück. »Ich kann mich daran erinnern, weil ich gerade aus dem Urlaub zurückgekommen war. Er fiel mir gleich auf, als er den Laden betrat; ich dachte noch, das ist aber ein sehr guter Anfang, gleich so einen wunderhübschen Mann zu sehen. Also, wenn alle Kunden so aussähen wie der – oder Sie, natürlich.« Sie lächelte flirtend.

Dan nickte zurückhaltend. »Können Sie sich erinnern, was er gekauft hat?«

Sie ging zu den Ständern mit den Reiseführern. »Er hat sehr lange hier drin geblättert«, sagte sie und zeigte auf einige dicke, englischsprachige Reiseführer.

»Sie erinnern sich nicht, für welches Land er sich interessierte?«

»Ich konnte ihm ja schlecht über die Schulter gucken, und er hat kein Buch gekauft.«

»Die Antwort lautet also nein?«

»Leider. Aber hiervon hat er eins genommen.« Sie ging ein paar Meter weiter und nahm ein britisches Magazin von der Dicke eines kleineren Telefonbuchs aus dem Regal. Es widmete sich Oldtimern. »Außerdem wollte er drei Päckchen Lakritz-Kaugummis.«

»Meine Güte, haben Sie ein gutes Gedächtnis!«

Ihre Wangen wurden dunkelrot. »Danke.«

Dan lächelte. »Sie können sich nicht zufällig daran erinnern, ob ihn jemand begleitete?«

»Er war allein. Ich hätte ihn doch nie so angestarrt, wenn er seine Frau oder eine Freundin dabeigehabt hätte.«

»Ich dachte eher an einen Mann.«

»Oh.« Sie runzelte die Stirn. »Meinen Sie, er war … also er hat jedenfalls nicht so ausgesehen.«

»Sie missverstehen mich. Ich meine eher einen Kollegen oder einen guten Freund. Hat jemand auf ihn gewartet, während er in den Reiseführern blätterte und Kaugummi kaufte?«

Sie schüttelte energisch den Kopf. »Er war allein. Ganz sicher.«

Dan notierte sich ihren Namen. Sie hieß Pia und bestand darauf, ihm auch ihre Handynummer zu geben. Dan musste sich beherrschen, nicht allzu laut zu jubeln, als er das Geschäft verließ. Die erste Spur. Die erste Zeugin. Plötzlich war er voller Zuversicht. Er würde den Kerl finden und Ursulas Geld zurückholen. Er war so vertieft in seine Überlegungen, dass er beinahe umgestoßen wurde, als ein großer, schlaksiger Bursche im Overall in voller Fahrt seinen Weg kreuzte. Dan wich im letzten Moment aus und warf einen resignierten Blick auf den jungen Mann, der sich offensichtlich mental ganz woanders befand. Ein paar dünne weiße Kabel führten aus seiner Brusttasche unter die verfilzte Mähne, und Dan hätte einen Zwanziger gewettet, dass sie in einem Paar mikroskopisch kleiner Lautsprecher endeten, die man sich in die Ohren stopfen konnte. Er ließ den Blick über das Gesicht des großen Mannes gleiten, registrierte den fernen Blick in den hellblauen Augen und das schwarz angelaufene Silberpiercing in der rechten Augenbraue, dann erkannte er ihn wieder.

»Benjamin!«

Der junge Mann glotzte ihn einen weiteren Augenblick ausdruckslos an, dann breitete sich ein großes Lächeln über sein blasses Gesicht aus. »Oh Mann, Dan!« Er riss die Ohrenstöpsel heraus und schaltete den MP3-Player ab. »Dan Sommerdahl! Ich freue mich, dich zu sehen!«

Benjamin Winther war in den ersten Kriminalfall verwickelt, mit dem Dan zu tun gehabt hatte. Er und seine Mutter hatten während der dramatischen Ereignisse eine Woche bei Dan und Marianne gewohnt, und auch danach hatten sie noch einige Wochen Kontakt gehabt. Doch dann war ihre Bekanntschaft, wie so oft bei derartigen Verbindungen, in denen die Beteiligten im Grunde keine Gemeinsamkeiten haben, im Sande verlaufen. Dan hatte Benjamin seit einer Begegnung im Januar nicht mehr gesehen. Es war ihm peinlich, als ihm bewusst wurde, dass er nicht einmal an ihn gedacht hatte. Trotzdem war es zu seiner großen Überraschung keine Lüge, als er antwortete: »Es ist viel zu lange her, Benjamin. Kommst du uns nicht bald mal wieder besuchen?«

»Sehr gern, danke.« Benjamin fingerte an seinem Piercing. »Habt ihr schon einen neuen Hund?«

»Noch nicht. Wir können uns nicht auf die Rasse einigen. Was machst du hier?«

Benjamin lächelte. »Ich wünschte, ich könnte sagen, ich bin auf dem Weg nach Gran Canaria, aber …« Er wies mit der Hand auf den blauen Overall und das Plastikschild. »Leider arbeite ich hier. Der langweiligste Job der Welt.«

»Was machst du?«

»Putzen, aufräumen, die Gepäckwagen zusammenschieben, zur Hand gehen halt, du weißt schon.«

Dan wusste es eigentlich nicht und beschloss sofort, dass er auch kein sonderlich großes Bedürfnis danach hatte, es zu erfahren. »Na, aber du bekommst hoffentlich Rabatt bei den Flugtickets, oder?«

»Na ja, schon.« Benjamin kniff die Augen zusammen. »Und was machst du hier?«

Dan deutete auf sein Gastschild. »Ich bin von Amts wegen hier.«

»Ein Werbekunde?«

»Nee, diesmal nicht. Ich suche einen Mann, der mit dem Vermögen einer Frau durchgebrannt ist. Den hier.« Er zog das Foto aus der Gesäßtasche und gab es Benjamin. »Du hast ihn nicht zufällig letzte Woche gesehen?«

Benjamin betrachtete das unscharfe Porträt sorgfältig und schüttelte den Kopf. »Leider nicht.« Dann lächelte er. »Du spielst also wieder den kahlköpfigen Detektiv«, stellte er fest und legte das Bild in Dans ausgestreckte Hand. »Hast du dein eigenes Detektivbüro eröffnet?«

»Aber nein.« Dan lachte. »Ich tue lediglich einer Lehrerin von Laura einen Gefallen.«

Benjamin richtete sich auf und wurde ernst. »Wohnt Laura wieder zu Hause?«

»Noch nicht. Aber in ein paar Monaten ist die Internatszeit vorbei, dann kommt sie zurück, um aufs Gymnasium zu gehen.«

Benjamin nickte. Er hatte die Hoffnung auf die hübsche Laura offenbar noch nicht ganz aufgegeben. Dan tat er aufrichtig leid. Der Mann hatte doch gar keine Chance. Ein Mädchen wie Laura würde sich niemals mit so jemandem begnügen.

»Was hältst du von einer Cola?«

»Nein danke. Eigentlich muss ich ja arbeiten.« Benjamin sah sich um. »Aber, Dan …«

»Ja?«

»Wenn du irgendwo von einem Job hörst, der interessanter ist als dieser, darfst du dich gern bei mir melden. Könnte ja auch sein, dass du mich für die eine oder andere Detektivarbeit gebrauchen kannst. Jemanden beschatten oder so, ich glaube, da bin ich ziemlich gut.«

Sie verabschiedeten sich, und auf dem Weg zu seinem Auto zermarterte Dan sich den Kopf, doch er kannte niemanden, der für jemanden wie Benjamin Verwendung hatte. Das Problem bestand einfach darin, dass der junge Mann Mitte zwanzig war und keinerlei Ausbildung hatte. Nicht einmal zum Abitur oder auch nur zu einer Form von autodidaktischem Spezialwissen hatte er es gebracht, da war es schwer, einen sinnvolleren Job zu finden als putzen und Gepäckwagen herumschieben. Auch wenn man ein netter und hilfsbereiter Bursche war, der einen weitaus schwereren Start ins Leben gehabt hatte als die meisten anderen Menschen.

Der Judaskuss

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