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4 / Vormittag, Donnerstag, 22. März 2007

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Dan Sommerdahl hatte sich von dem schönen Wetter locken lassen und war ein paar Kilometer länger als gewöhnlich gelaufen. Obwohl es in den Lungen brannte und die Oberschenkelmuskeln schmerzten, genoss er die Tour. Er war in einem ruhigen Tempo über die schmalen Waldwege gejoggt, zu hundert Prozent auf seine Atmung konzentriert, auf die Arbeit der Muskeln und auf seinen Pulsschlag, den er wie ein Brausen in seinem Körper spürte und der sich als blinkende, hellgrüne Zahl auf einem Pulszähler ablesen ließ, seinem neuesten Spielzeug. Dan war so auf das Training konzentriert, dass er kaum den Kopf drehte, während er an der Riesenvilla seines ehemaligen Chefs am Bøgebakken vorbeilief. Merkwürdiger Gedanke, dass es erst wenige Monate her war, seit sich ihre Wege getrennt hatten.

Als Dan die Aussichtsplattform erreichte, gönnte er sich wie gewöhnlich ein paar Minuten Pause und studierte seine Stadt von oben. Christianssund war eine klassische dänische Provinzstadt: vierunddreißigtausend Einwohner, hübsch an einem Fjord gelegen, eine Stunde Autofahrt bis zur Hauptstadt, eine düstere Domkirche aus dem 14. Jahrhundert, ein renommiertes Gymnasium, ein idyllisches Stadtzentrum mit Fachwerkhäusern und Stockrosen. In vielerlei Hinsicht war diese Provinzstadt also wie die meisten Provinzstädte. Aber von dem Aussichtspunkt hier oben würde ein scharfer Beobachter sehen, dass die Stadt auch ihre ganz besonderen Wahrzeichen hatte. Vor allem den Rathausmarkt, der mit seiner Platzierung unmittelbar am Hafen eine ganz andere Stimmung ausstrahlte als die meisten anderen Rathausplätze in Dänemark. Abgesehen vom Rathaus standen hier das Polizeipräsidium, ein Ärztehaus und das Hotel Marina. Von hier zog sich die Hauptschlagader der Stadt, die Algade, schnurgerade bis zum Bahnhof. Von jedem Punkt der leicht abschüssigen Einkaufsstraße aus konnte man den Fjord sehen, und an schönen Tagen herrschte im Stadtzentrum beinahe Urlaubsstimmung. Selbstverständlich hatte auch Christianssund seine Vororte, seine sozialen Wohnungsbauprojekte und falsch geplanten Shoppingcenter, doch das war alles leicht zu vergessen, wenn man von dieser Seite des Walds auf die Stadt blickte. Dan Sommerdahl wohnte mitten im attraktiven Herzen Christianssunds, in einem gelben Fachwerkhaus aus dem 18. Jahrhundert; es konnten Wochen und Monate vergehen, in denen er nicht in die Außenbezirke kam. Und man konnte kaum behaupten, dass er es vermisste.

Er setzte sich wieder in Bewegung, und nach einer Viertelstunde in dem gebrochenen Licht unter den Buchen lief er in Richtung Park, zurück zu seinem Haus in der Gørtlergade. Es ging bergab, und Dan nutzte wie gewöhnlich die Gelegenheit, das letzte Stück zu spurten. Er rannte so schnell, dass er beinahe das Gefühl hatte zu schweben. Als er vor seiner Haustür stehen blieb, überprüfte er den Schrittzähler. 10,6 Kilometer. Das war recht ordentlich für einen ganz gewöhnlichen Wochentag. Und die Uhr zeigte erst neun, der Tag hatte gerade erst begonnen. Er spürte beinahe, wie der Glorienschein erstrahlte.

Dan polterte die Treppe hinauf in den ersten Stock, wobei er sich aus seinem durchgeschwitzten Trainingszeug schälte. Im Badezimmer traf er seine Frau, sauber, frisch frisiert und mit gerade aufgelegtem Make-up. Sie wollte in ihre Praxis. Dan beugte sich vor, um ihr einen Abschiedskuss zu geben, doch sie trat einen Schritt zurück und hielt ihn mit ausgestreckten Händen davon ab. »Pfui Teufel, nein!«, sagte sie grinsend. »Du stinkst wie die gesamte Fußballnationalmannschaft nach einem Spiel!«

»Woher weißt du denn, wie die Nationalmannschaft riecht?«

»Es gibt einiges, was du nicht weißt.« Marianne rümpfte die Nase und drückte sich an ihm vorbei in den Flur, ohne dass sein Schweiß auf ihre Bluse tropfte. »Wenn du mich küssen willst, kannst du mich in der Mittagspause besuchen. Wenn nicht, musst du es dir halt vorstellen!« Sie winkte über die Schulter und lief die Treppe hinunter.

Dan zog sich die letzten Kleidungsstücke aus und stellte sich unter die Dusche. Während das Wasser über seinen Körper strömte, ging ihm noch einmal sein alter Chef durch den Kopf. Es war noch nicht lange her. Sehr viel war passiert, seit sie unter dramatischen Umständen ein letztes Mal miteinander gesprochen hatten. Vor vier Monaten hatte Dan sein eigenes kleines Büro in Rasmus’ altem Zimmer gegründet. Er war schon ein wenig nervös gewesen, ob die kleine Firma funktionieren würde, aber es war erstaunlich einfach gewesen. Tatsächlich konnte er mehr oder weniger selbst bestimmen, welche Jobs er annahm und wie beschäftigt er sein wollte. Und das war durchaus eine ideale Situation für einen Menschen, der erlebt hatte, wie Stress zur Arbeitsunfähigkeit führen konnte. In den letzten Monaten hatte Dan die Medikamente abgesetzt und war stattdessen von den häufigen Joggingtouren an der frischen Luft abhängig geworden. Musste er aus irgendeinem Grund mehrere Tage aussetzen, bekam er Kopfschmerzen. Sehr mysteriöses Phänomen, diese Lauferei …

Seit der Aufklärung der Tode von zwei jungen Mädchen vor einigen Monaten hatte Dan Sommerdahl einen gewissen Ruf in der Öffentlichkeit. Der Spitzname ›Der kahlköpfige Detektiv‹ hatte sich festgesetzt, sogar ein Fernsehkanal hatte sich an ihn gewandt und wollte ihn als Moderator einer Krimi-Unterhaltungsshow. Er hatte dankend abgelehnt, zumal er genug damit zu tun hatte, sein Dasein als Selbstständiger zu organisieren. Die Aufklärung des Lilliana-Falls war eine spannende Herausforderung gewesen, und kurzzeitig hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, sich als eine Art Privatdetektiv niederzulassen. Diese Idee hatte er aber ebenso schnell wieder verworfen. Privatdetektiv klingt doch nach Thermoskanne, Henkelmann und zerknautschter Jacke, oder? Völlig daneben und nicht sonderlich profitabel. Dazu hatte er keine Lust. Außerdem hatte Kriminalkommissar Flemming Torp, sein bester Freund, nicht sonderlich begeistert reagiert, als Dan sich in die Ermittlungen einmischte … Besser, ich halte mich da künftig raus, hatte er sich gedacht.

Dan öffnete die Badezimmerfenster, trocknete sich gründlich ab und putzte sich die Zähne, bevor er sich im Schlafzimmer vor seinen Garderobenschrank stellte. Jeden Morgen genoss er den kleinen Triumph, seine Kleidung nach eigenem Geschmack wählen zu können – nicht danach, was irgendein Kunde gerade passend finden würde. Wieder einmal blieb es bei schwarzen Jeans und einem klein karierten Gant-Hemd. Er betrachtete sein Gesicht im Spiegel an der Rückseite der Tür. Waren in den Augenwinkeln ein paar Furchen dazugekommen? Ein kleiner Klecks von Mariannes Augencreme. Er musste sich auch so etwas kaufen. Dan war vierundvierzig, sah mindestens fünf Jahre jünger aus … und er wollte, dass es so blieb. Als er vor ein paar Jahren bemerkte, dass sein Haar schütterer wurde, hatte er sofort zum Rasierer gegriffen und die ganze Mähne abrasiert. Ja, er war kahl. Freiwillig. Aber auf die geile Art. Grob gesagt lassen sich zwei Gruppen von Männern unterscheiden, die ihre Haare entfernen, erklärte Dan gewöhnlich. Die eine Gruppe ergänzt den Look mit Tätowierungen, rassistischen Ansichten und einem Kampfhund; die andere neigt eher zu Armani, Tarantino und dem neuesten Nokia. Nicht schwer zu erraten, zu welcher Gruppe Dan sich zählte.

Als er sich eine Tasse Kaffee, eine Banane und die Politiken aus der Küche geholt hatte, ging er in sein Büro, den ersten Arbeitsplatz seit Jahren, den er nicht mit anderen teilen musste. Mit einem zufriedenen Seufzen setzte er sich, schaltete den Computer ein und verbrachte die Wartezeit, indem er seine Banane aß und die Überschriften der Zeitung überflog. Die Geschichte des Mordes an einem Mikael Kjeldsen war auf die Innenseiten gerutscht und bestand nur noch aus einer Notiz, in der die Polizei von Christianssund die Aufforderung an die Öffentlichkeit wiederholte, sich zu melden, wenn man irgendwelche sachdienlichen Hinweise geben konnte. Armer Flemming, dachte Dan. Flemming Torp hatte mehrere Wochen rund um die Uhr gearbeitet, um den ungewöhnlich brutalen Mord an einer erst dreiundzwanzigjährigen studentischen Hilfskraft in einem Schuppen in Balleslev aufzuklären. Dan wusste, dass er und seine Kollegen keinen Schritt weitergekommen waren. Inoffiziell hatte er aus den Reihen der Polizei erfahren, dass Flemming ein paar Leute für eine andere Ermittlung abstellen musste. Flemming hatte es nicht leicht. Dan blätterte weiter. Im hinteren Teil der Zeitung stand die Notiz, ein weiteres kleines schwarzes Kind sei unter großer Aufmerksamkeit der Medien nach Hollywood gebracht worden, wo eine Gruppe Filmstars darin wetteiferten, die Kinder der Dritten Welt zu retten, indem sie eins nach dem anderen handverlesen adoptierten und vergoldeten. Dan schnitt eine Grimasse und legte die Zeitung beiseite. Manchmal war er es so leid.

Er öffnete seine Mailbox. Es gab mehrere ungelesene Mails. Die meisten waren Spam oder bezogen sich auf seine Arbeit. Er öffnete sie nicht und klickte stattdessen einen Namen an, der ihn weit mehr interessierte. Dans und Mariannes siebzehnjährige Tochter Laura ging vollkommen in ihrem Leben im Internat auf und ließ nur selten etwas von sich hören – es sei denn, man rechnete die SMS oder Anrufe mit, in denen sie um Geld bettelte oder eine Fahrt mit Dan oder Marianne als Privatchauffeur herausschlagen wollte. Eine persönliche Mail von Fräulein Sommerdahl war durchaus ein Ereignis, und Dan klickte sie sofort an.

Von: laurasommerdahl@hotmail.com

An: dan@sommerdahl.dk

Gesendet: Mittwoch, 21.03.2007, 22:34 Uhr

Betreff: Brauche Hilfe

Lieber Papa,

kannst Du Dich an Ursula Olesen erinnern? Unsere Kunstlehrerin? Du hast mit ihr bei der Weihnachtsfeier gesprochen. (Die mit den roten Haaren.) Nun ja, ganz kurz gesagt ist Folgendes passiert: Ihr Liebhaber hat sie verlassen und sie um ihre gesamten Ersparnisse betrogen (mehrere Millionen!). Sie hat versucht, sich mit Schlaftabletten umzubringen (ich war dabei, als sie gefunden wurde), und nun ist sie wieder zu Hause und wir wechseln uns mit der Betreuung ab, bis es ihr wieder besser geht. Es ist furchtbar! Ich könnte diesen blöden Scheißkerl erwürgen! Kannst Du nicht bitte einmal mit ihr reden? Nein, nicht die therapeutische Nummer. Vielleicht kannst Du sie davon überzeugen, diesen Jakob anzuzeigen??? Sie schämt sich so fürchterlich über das, was passiert ist, und will nicht, dass jemand daraus eine große Nummer macht. Sagt, es sei ihre eigene Schuld, weil sie so naiv war, aber das kann doch nicht stimmen! Würdest Du herkommen und mit ihr reden, Papa? Vielleicht kannst Du sie ja zu einer Anzeige bewegen. Du bist doch so eine Art halber Polizist, oder?

Kuss von Laura

Oh, verflucht! Dan las die Mail noch einmal. Er hatte überhaupt keine Lust, gegenüber einer klimakterischen, selbstmordgefährdeten Kunstlehrerin den ›halben Polizisten‹ zu spielen. An Ursula Olesen konnte er sich gut erinnern, er wusste, dass Laura sehr an ihr hing, seit sie aufs Internat ging. Letzten Herbst, als Dan unter Stress zusammengebrochen war und sich krankmelden musste, war es für seine Tochter bestimmt nicht leicht gewesen. Soweit er wusste, war es besonders Ursula gewesen, die ein Ohr für die Sorgen ihrer Schülerin gehabt hatte. Und eine Schulter für ihre Trauer, als der alte Hund der Familie vor einigen Monaten eingeschläfert werden musste. Er schuldete Ursula Olesen in vielerlei Hinsicht großen Dank, das wusste er. Aber sollte er eine Menge Zeit vergeuden, um die Frau davon zu überzeugen, ihre Demütigung den Behörden zu präsentieren? Und vermutlich auch der Boulevardpresse und damit der gesamten dänischen Bevölkerung? Dan verstand ausgezeichnet, warum Ursula Olesen nicht zur Polizei gehen wollte, und er hatte überhaupt keine Lust, derjenige zu sein, der sie davon abbrachte.

Auf der anderen Seite … Er wollte jederzeit alles tun, um Laura glücklich zu machen, die so freundlich und loyal denjenigen gegenüber war, die sie liebte. Dan spürte, dass seine Tochter in dieser Sache ganz entschieden war. Sie würde sich mit der erschreckenden Hartnäckigkeit darin verbeißen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Und sie würde nicht lockerlassen, würde sich mit ihren hübschen weißen Zähnen in ihm verbeißen, bis zuerst er und dann Ursula aufgegeben hatten. Er konnte ebenso gut gleich alle weiteren Skrupel fahren lassen und tun, worum sie ihn bat. Irgendwie hatte das Mädchen ja recht; ein Mann wie Jakob musste aufgehalten werden, bevor es ihm gelang, die Bankkonten weiterer Frauen zu melken.

Dan schaute auf die Uhr des Computers. Kurz nach zehn. Er könnte noch vor zwölf in Egebjerg sein, mit seiner Tochter zu Mittag essen und am Nachmittag mit Ursula Olesen reden. Er schrieb Laura eine SMS, erhielt umgehend eine Bestätigung und legte Marianne eine Nachricht hin, bevor er zum zweiten Mal an diesem Morgen das Haus verließ.

Der Judaskuss

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