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2 / Sonntag, 4. März 2007
Оглавление»Wie heißen die, Urs?« Jakob zeigte auf ein paar blassviolette, unansehnliche Blumen.
»Märzveilchen.« Sie ging in die Hocke und pflückte eins. »Sind ziemlich viele, was?«
Er reichte ihr eine Hand, sie griff dankbar danach und ließ sich hochziehen. Sie steckte ihm das Veilchen ins Knopfloch und küsste ihn flüchtig auf die Wange. »Komm«, sagte sie. »Soweit ich mich erinnern kann, steht die tollste Bank mit Aussicht gleich hinter der nächsten Biegung.« Auf dem schmalen Pfad am Rand der Klippe konnten sie nicht Hand in Hand gehen, sondern mussten im Gänsemarsch laufen; Ursula vorn, Jakob dahinter.
Die Bank stand dort, wo sie immer gestanden hatte, sie ließen sich nebeneinander fallen. Wenige Meter vor ihren Schuhspitzen hörte das Gras abrupt auf und ein beinahe senkrechter Sandsteilhang führte direkt ins Wasser des Kattegats, das heute die gleiche grüngraue Nuance hatte wie Jakobs Augen.
Er nahm ihren linken Handschuh und zog sich seinen rechten aus, sodass ihre bloßen Hände sich in seiner Jackentasche berührten. »Worüber wolltest du mit mir reden, Urs?«
Sie seufzte und legte ihre Wange an seine Schulter. »Ich habe dich belogen, Jakob.«
»Hm?« Sein Tonfall war neutral.
»Oder, nein, nicht direkt belogen. Ich habe dir etwas verschwiegen.«
»Das machen wir doch alle, oder? Das ist ein Menschenrecht.«
»Na ja, aber …« Sie drückte seine Hand in der warmen Jackentasche. »Ich bin nur nicht sonderlich stolz auf meine Motive … Ich wollte nicht, dass du … Ich habe mir gern eingebildet, dass du bei mir bleibst wegen … ja … wegen mir. Und dann kam mir der Gedanke, dass ich den Rest unseres gemeinsamen Lebens glauben würde, du hättest mich nur deshalb genommen, weil ich dir von dem Geld erzählt habe, und …«
Jakob schüttelte den Kopf. »Bisher habe ich keine Ahnung, was du mir eigentlich sagen willst.«
Ursula antwortete nicht. Sie traute ihrer eigenen Stimme nicht.
»Urs?« Jakob klang besorgt. »Was für Geld? Und warum um alles in der Welt sollte ich nicht bei dir bleiben?« Er zog ihre Hand aus der Tasche und führte sie an seinen Mund, sodass die nächsten Worte sich wie ein warmer Flügelschlag an ihrem Handrücken anfühlten. »Am besten, du atmest tief durch und fängst noch einmal von vorn an, ja?«
Sie tat ihr Bestes, wirklich. Trotzdem dauerte es eine Minute, bevor sie ihre Gefühle so weit im Griff hatte, dass sie fortfahren konnte. »Okay.« Sie richtete sich auf und drehte sich so, dass sie ihm ins Gesicht sehen konnte. »Vor anderthalb Jahren habe ich sehr viel Geld im Lotto gewonnen. 11,3 Millionen Kronen, um genau zu sein.«
»Wow!«
»Ja, nicht? Wow!« Sie setzte ein schiefes Lächeln auf. »Ich habe es nur einem einzigen Menschen auf der Welt erzählt, Anemone. Und sie habe ich lediglich eingeweiht, weil ich es musste.«
»Du musstest?«
»Eigentlich brauchte ich den Gewinn nicht. Ich bin glücklich mit meinem Job, meiner Wohnung, meinem alten Auto … Meine Eltern haben Geld genug, irgendwann werde ich sogar erben. Ich habe nie von einem Nerz geträumt. Nein, ich beschloss, das Geld auf einem hochverzinslichen Konto anzulegen und nicht anzurühren, bis ich eines Tages pensioniert werde oder das plötzliche Bedürfnis nach einer Weltreise habe.«
»Was ist mit Anemone?«
»Ja, sie brauchte durchaus Geld. Eine Menge Geld. Sie hatte gerade angefangen, mit Video- und Computerkunst zu arbeiten, und die Ausrüstung war teuer. Sie hatte eine kleine, ganz ordentliche Wohnung in Berlin, die allerdings nicht ausreichte; sie hatte Probleme, einen Platz für ihre Sachen zu finden und das Ganze zum Laufen zu bringen. Ich entschloss mich, Anemone eine Wohnung zu kaufen und ihr ein Konto mit festen, monatlichen Überweisungen einzurichten.«
»In Berlin?«
»In Prenzlauer Berg. Ich habe ihr eine zweigeschossige Atelierwohnung mit einer gemütlichen Dachterrasse und ein paar schönen Zimmern gekauft, die sie vermieten oder, wenn sie will, Gästen aus Dänemark anbieten kann. Ihrer alten Mutter zum Beispiel …« Ursula lächelte. »Die Wohnung war teuer, und die Einrichtung auch nicht gratis, trotzdem habe ich noch über sieben Millionen auf der Bank.«
»Aber … das ist doch gut für dich!« Er lächelte, sah aber noch immer ein wenig desorientiert aus.
Sie zog die Brauen zusammen. »Verstehst du wirklich nicht, warum ich dir nichts von dem Geld erzählt habe?«
»Ich weiß nicht … Wie ich es sehe, hast du dich entschieden, etwas Geld zurückzulegen, bis du es wirklich brauchst, und deshalb erzählst du es nicht überall herum. Das ist doch dein gutes Recht.«
»Ich hätte es dir sagen müssen.«
»Und weshalb? Ich brauche dein Geld nicht. Ich habe meine Firma und bin darüber hinaus in der glücklichen Situation, dass ich den größten Teil meiner Arbeit per E-Mail erledigen kann. So habe ich Zeit genug, um mit der Frau meines Lebens zu schlafen, und …«
»Jakob!« Ursula sah sich mit einem nervösen Kichern um, doch sie waren mutterseelenallein auf dem hohen Steilufer.
Er grinste. »Komm her«, sagte er und legte die Arme um sie. Als er weitersprach, war seine Stimme so leise, dass sie nicht in der Lage gewesen wäre, ihn zu verstehen, hätte er nicht seine Lippen an ihr Ohr gelegt. »Ich habe gehört, was du gesagt hast, Urs. Und in gewisser Weise verstehe ich dich gut. Aber ich finde, du bist ausgesprochen ungerecht, sowohl dir als auch mir gegenüber. Warum fällt es dir so schwer zu glauben, dass ich dich liebe? Ich liebe dich wegen dir, weil du du bist. Ich meine es ernst, wenn ich sage, dass du die Frau meines Lebens bist.«
»Aber du könntest mein Sohn sein …«
»Hör auf damit!« Er griff nach ihren Schultern und schüttelte sie einmal leicht, bevor er sie losließ und die Hände in die Taschen stopfte. »Ich will das nicht hören. Ich bin nicht dein Sohn, ich bin dein Freund, und ich will mit dir den Rest meines Lebens verbringen.«
Ursula lachte trocken. »Eher meines Lebens.«
»Okay, dann deines. Obwohl ich den Gedanken nicht ertrage.« Jakob machte eine Pause und blickte übers Wasser. Plötzlich sah er betrübt aus. Ursula streckte eine Hand nach ihm aus, er schob sie beiseite. »Nein, lass mich«, sagte er und stand auf. Er wandte ihr den Rücken zu und schaute hinunter zum Strand, wo ein Schwarm Möwen irgendeine Festmahlzeit verspeiste; vermutlich an Land getriebener Fischabfall, den ein Fischkutter über Bord geworfen hatte. »Die Welt ist schon eigenartig eingerichtet. Und ich hatte mich entschlossen gerade heute …«, begann er. Er drehte sich nicht zu ihr um, sodass das Ende des Satzes vom Wind verweht wurde.
Ursula stand auf und stellte sich dicht neben ihn. »Entschuldige, Schatz. Ich habe dich nicht verstanden.« Sie steckte die Hand unter seinen Arm, und diesmal schubste er sie nicht weg.
»Ich habe nur festgestellt, wie sonderbar das Leben manchmal ist«, sagte er. »Eigentlich hatte ich die Absicht, heute um deine Hand anzuhalten … Dann hast du dir genau diesen Tag ausgesucht, um mir von deinem Lottogewinn zu erzählen und anzudeuten, dass ich nur wegen des Geldes bei dir bleiben würde. Tja … Jetzt ist es völlig unmöglich.« Er wandte den Kopf ab, seine Augen schimmerten. »Ist dir das nicht klar, Ursula?«
»Du wolltest um meine Hand anhalten?« Ihr Gehirn hatte den Rest seiner Antwort herausgefiltert. Diese eine Botschaft blieb, klar und deutlich wie ein Strandstein auf dem Boden einer schneeweißen Badewanne. »Du wolltest mich heiraten?«
Er starrte auf den Möwenschwarm. »Eigentlich hatte ich den Ring so bestellt, dass er am Sechsundzwanzigsten hier sein würde, unserem Fünfmonatstag. Gestern kam die Nachricht des Goldschmieds, dass er schon fertig ist … und da konnte ich nicht länger warten.«
»Der Ring?«
»Ja, aber das ist ja jetzt auch egal«, antwortete er. »Wenn du glaubst, ich würde das nur wegen des Geldes machen, dann … Wenn ich mich etwas hochgestochen ausdrücken soll, habe ich tatsächlich das Gefühl, dass meine Ehre beschmutzt ist.«
»Du hast einen Ring gekauft?«
Endlich drehte er sich um, und als er ihr verblüfftes Gesicht sah, ihm zugewandt wie eine Sonnenblume der Sonne, konnte er ein Lächeln nicht zurückhalten. »Willst du ihn sehen?«
»Es hat noch nie jemand um meine Hand angehalten«, sagte sie. »Nicht wirklich. Mit einem Ring und …«
»Komm.« Er griff nach ihrem Ellenbogen und führte sie zurück zur Bank. Dann zog er eine kleine schwarze Veloursschachtel aus der Tasche und hielt sie ihr hin. »Es gibt eine Bedingung«, erklärte er und hielt die Schachtel fest.
»Und die wäre?«
»Ich will nichts mehr von dem Geld hören.«
»Oh.« Ursula ließ die Hände sinken. »Das kann ich nicht versprechen.«
»Warum nicht?«
»Weil es natürlich einen Grund gibt, warum ich dir von dem Geld erzählt habe. Denn ich habe mir überlegt, was wir meiner Ansicht nach damit tun sollten.«
»Wir?«
»Wollten wir nicht heiraten?« Sie sah ihn mit einem durchtriebenen Gesichtsausdruck an, und sein hübsches Gesicht leuchtete auf. Er glich einem Kind, das nach jahrelangem Quengeln endlich einen Welpen bekam.
Sie küssten sich. Lange. Und nachdem sie erst einmal damit angefangen hatten, taten sie noch andere Dinge, die eigentlich in den Bereich der Intimsphäre gehören und sich nur durchführen ließen, weil das Gebüsch hinter der Bank einen so effektiven Windschutz vor dem scharfen Märzwind bot. Als Ursula endlich die Gelegenheit bekam, sich den Ring anzusehen, entdeckte sie, dass es sich um die Miniaturausgabe eines Märchens in Weißgold mit winzigen Perlen und einem einzelnen Brillanten handelte. Komplett mit eingraviertem Fünfmonatsdatum und einer Liebeserklärung, die er ihr vorlesen musste, weil sie so weinte, dass sie selbst sie nicht lesen konnte – obwohl sie ihre Lesebrille aufgesetzt hatte.
Als sie zurück zum Auto gingen, hatte Ursula alles über den Altersunterschied und ihre übliche Paranoia vergessen, so glücklich war sie. Erst nach ihrer Rückkehr ins Internat fiel ihr ein, dass sie Jakob noch nichts von ihren großen Zukunftsplänen erzählt hatte.
*
»Stimmt es, dass du gekündigt hast?« Laura Sommerdahl war offensichtlich den ganzen Weg zum Werkraum gelaufen. Sie war außer Atem und ihre Wangen leuchteten.
Ursula richtete sich auf und legte die Schere beiseite. Sie schnitt gerade die Papierdekorationen für das letzte Schulfest vor dem Schuljahresende aus. Sie lächelte. »Ja.«
»Und was sollen wir jetzt machen?« Laura stand das Entsetzen im Gesicht.
»Wer ist wir?« Ursula griff nach einem sauberen Becher und goss ihrer Lieblingsschülerin Tee ein. »Du und die anderen dieses Jahrgangs beendet, soweit ich weiß, in ein paar Monaten das Internat, wir müssen uns also in jedem Fall trennen. Du wirst wahrscheinlich zu Hause in Christianssund aufs Gymnasium gehen, oder?« Laura nickte. »Und der Jahrgang 07, 08 kennt mich doch gar nicht. Sie beginnen mit einem jungen, frischen Lehrer und sind mit ihm oder ihr bestimmt ebenso glücklich, wie ihr es hoffentlich mit mir gewesen seid.«
»Was ist mit den Lehrern?«
Ursula schüttelte den Kopf und lachte. »Du bist süß, Laura. Du glaubst, alles würde immer so bleiben wie in diesem Schuljahr – dem einzigen, das du in diesem Internat verbracht hast. Aber so ist es nicht. Ein Internat verändert sich ständig. Fast jedes Jahr geht jemand. Nur Gitte ist länger hier als ich. Wir sind es gewohnt, uns jeden Sommer zu verabschieden und jemanden neu zu begrüßen. So ist es nun mal.«
»Ja, aber trotzdem …« Laura blickte mürrisch in ihre Tasse.
Ursula legte den Kopf schräg. »Willst du gar nicht wissen, was ich stattdessen machen werde?«
»Wahrscheinlich wirst du irgendwo anders unterrichten. Wenn du diesen Jakob geheiratet hast«, knurrte sie.
»Du bist ja eifersüchtig, Fräulein Sommerdahl!« Ursula wedelte mit den Fingern, dass der Brillant nur so glitzerte. »Nein, das werde ich nicht tun. Ich werde etwas machen, wovon ich mein ganzes Leben lang geträumt habe und wozu ich erst jetzt die Gelegenheit habe.«
Laura blickte ganz gegen ihren Willen neugierig auf. »Was denn?«
»Jakob und ich legen unser Erspartes zusammen und kaufen ein kleines Hotel in Nizza. Dann holen wir uns eine Gruppe junger dänischer Künstler, um die Zimmer des Hotels zu gestalten. Als Bezahlung dürfen sie lebenslang eine Woche im Jahr umsonst in ihrem Zimmer wohnen. Findest du das nicht toll?«
»Meine Eltern haben mal in einem Hotel in Berlin gewohnt, das fast genauso …«
»In der Luisenstraße?«
»Weiß ich nicht. Irgendwo in der Innenstadt.«
»Wenn wir an dasselbe Hotel denken, dann habe ich die Idee tatsächlich daher. Einige Zimmer sind vollkommen unmöglich, mit großen Steinen auf dem Boden, an denen man sich die Füße stößt, oder mystischen Dingen, die von der Decke hängen. Man stößt mit dem Kopf an Federn und Eisenketten, wenn man versucht, zum Schrank zu kommen …« Ursula lachte und sah plötzlich jung aus. »Aber einige Zimmer des Arte Luise Kunsthotels in Berlin sind wirklich sehr schön und gelungen. Ich habe mir gedacht, zuerst ein Gespräch mit unseren Künstlern zu führen, damit sie nicht auf allzu ausgefallene Ideen kommen. Es soll ein angenehmes Erlebnis sein, bei uns zu wohnen, und wenn die Künstler wissen, dass sie in ihren eigenen Zimmern wohnen dürfen, werden sie es schon gemütlich und nett gestalten.«
»Ist das nicht teuer?«
»Sicher. Aber wie gesagt, wir haben ein bisschen gespart. Es wird schon reichen. Im Augenblick freuen wir uns wie kleine Kinder an Heiligabend!«
»Wann geht es los?«
»Oh …« Ursulas Blick ging in die Ferne. »Das ist ein bisschen kompliziert. Wir denken, jetzt das richtige Haus gefunden zu haben. Die Lage ist perfekt, was das Meer, den Blumenmarkt und alles andere angeht. Der Makler hat uns einen Videofilm und Unterlagen geschickt. Es sieht total klasse aus. Leider kann ich nicht mitfahren und es mir selbst ansehen, hier ist zu viel zu tun. Aber ich vertraue Jakobs gutem Geschmack. Er fliegt am Montag, und wenn es so ist, wie wir es uns erträumt haben, dann unterschreiben wir und nutzen den Rest des Jahres, um Künstler anzusprechen und die Handwerker zu beauftragen. Mit etwas Glück können wir bereits im nächsten Frühjahr eröffnen.«
»Und wann wollt ihr heiraten?«
»Ach, das eilt doch nicht …« Ursula griff zu Schere und Papier. »Der Anwalt hat alles geregelt, wir haben beide die Vollmacht über unsere Konten und können entscheiden. Na ja, wir gehen davon aus, dass wir am Mittsommernachtsfest heiraten. Vielleicht können wir schon in unserem eigenen kleinen Hotel feiern …« Sie schickte Laura ein glückliches Lächeln und schnitt weiter Papier aus.