Читать книгу Der Judaskuss - Anna Grue - Страница 9
6 / Donnerstag, 22. März 2007, Nachmittag
ОглавлениеWie langsam kann man gehen, ohne dass es auffällt? Diese Frage ging Dan durch den Kopf, als er sich im Schneckentempo durch den Sonnenschein bewegte, am Schafpferch vorbeiging und eine Schwalbe beobachtete, die aussah, als hätte sie Stress beim Nestbau. Er näherte sich dem Ostflügel, in dem Ursula Olesens Wohnung lag. Er hatte überhaupt keine Idee, wie er das Gespräch anpacken sollte, obwohl er noch vor wenigen Minuten versucht hatte, Laura mit seiner blendenden psychologischen Analyse zu beeindrucken. Das eigentliche Rätsel dieses Falles faszinierte ihn, dennoch fürchtete er sich in Wahrheit bei dem Gedanken, mit der armen, betrogenen Ursula allein zu sein. Würde sie die ganze Zeit weinen? Würde sie darauf bestehen, ihm intime Details über ihre Beziehung zu diesem Wunderknaben zu erzählen? Oder ihn zwingen, ihre banalen Liebesbriefe zu lesen? Erwartete sie, dass er sie umarmte und tröstete? Dan schauderte. Er musste darauf achten, eine gewisse professionelle Distanz zu wahren und sich auf das Praktische zu konzentrieren, sagte er sich. Für alles andere hatte sie einen ganzen Haufen Freundinnen und Kolleginnen.
Was dann folgte, bewies einmal mehr, wie gründlich man sich irren kann, wenn man seinen Vorurteilen nachgibt und versucht, sich von vornherein eine bestimmte Situation in all ihren Details auszumalen. Erstens war er nicht allein mit Ursula. Als er an der Tür klingelte, an der zwei leere Schraubenlöcher die einzige Spur des Türschilds waren, öffnete eine junge Frau. Ein wenig unerwartet, doch die Situation wurde erst recht verwirrend, als die Frau sich als Anemone vorstellte, Ursulas Tochter. Die in Berlin wohnte. Die Künstlerin. Hätte Dan vorher jemand gebeten zu beschreiben, wie ein Mädchen mit einem derart lyrischen Namen wohl aussähe, hätte er mit Worten wie ›langes blondes Haar‹, ›schwebender Gang‹, ›ein bisschen hippieartig‹ oder ›feminin‹ geantwortet. Vergiss es. Die Frau an der Tür war der lebende Beweis dafür, dass man bei der Auswahl der Namen seiner Kinder sorgfältig nachdenken sollte. Anemone war eine durch und durch unromantische Erscheinung mit einem großen, kantigen Männerkörper und den Schultern einer professionellen Schwimmerin. Ihr dichtes, mittelbraunes Haar rahmte ein blasses ovales Gesicht ein. Das Lächeln war zurückhaltend und entblößte eine Reihe regelmäßiger weißer Zähne. Ein fester Händedruck, nicht länger als nötig.
»Kommen Sie rein«, sagte sie mit einer verblüffend hellen, melodischen Stimme. »Wir sitzen auf dem Balkon und genießen die Sonne.«
Balkon? Genießen? War das hier nicht ein Haus des Kummers und der Sorgen? Dan folgte Anemone durch das kleine, vollgestellte Wohnzimmer, an dem es keinen Quadratzentimeter freie Fläche mehr an der Wand gab. Die Bilder hingen eng nebeneinander, so dicht wie bei einer Collage. Aquarelle, Kupferstiche, Postkarten, Ölgemälde. Ein enormes karamellfarbenes Samtsofa mit ganzen Haufen von bunten selbst gehäkelten Kissen nahm einen großen Teil des Platzes ein, auf dem niedrigen Tisch davor lagen sorgfältig gestapelt Kunst- und Einrichtungszeitschriften aus der ganzen Welt.
Am Ende des Wohnzimmers führte eine schmale Tür in ein Schlafzimmer, das ebenso voller Bilder hing wie das Wohnzimmer. An der Längsseite des kleinen Zimmers verlief ein winziger Balkon, es gab gerade genügend Platz für drei schmale Stühle. Ein mikroskopisch kleiner Klapptisch war an die Mauer unter den Balkonkästen geschraubt, in denen sich eine Menge Stiefmütterchen der Sonne zuwandten. Auf einem der Stühle saß eine weitere Überraschung. Ursula Olesen hatte nichts mit seiner Vorstellung von einer tief betrübten Frau zu tun. Sie sah nicht aus wie jemand, der gerade einen Selbstmordversuch überlebt hatte, sondern weit besser, als er sie in Erinnerung hatte. Das hennafarbene Haar wurde von einer Lederspange im Nacken zusammengehalten, sie hatte ein sorgfältiges, aber diskretes Make-up in braunen und goldenen Tönen aufgelegt. Ihr gestreiftes, figurbetontes Hemd hing locker über ein Paar Jeans, und über der Schulter trug sie einen dunkelgrauen Cardigan. Sie sah ernst und ausgeglichen aus, und als sie ihn willkommen hieß, war ihre Stimme fest und ruhig. Unglaublich, was man mit modernen Medikamenten alles erreichen kann, dachte Dan, der nur allzu gut deren Wirkung kannte.
»Ich vermute, Sie haben die Geschichte bereits gehört«, sagte sie, nachdem sie eiskaltes Mineralwasser in drei Gläser gegossen hatte. Anemone hatte sich auf den mittleren Stuhl gequetscht.
»Soweit sie Laura bekannt ist, ja.«
»Was Sie nicht wissen, ist, dass Mone und ich den Vormittag damit verbracht haben, ihn übers Internet zu suchen. Und er … es gibt ihn einfach nicht.« Ihre Stimme zitterte plötzlich. Ihre seelischen Bollwerke hatten nicht lange standgehalten. Sie schaute ihre Tochter an, die mit dem Bericht fortfuhr.
»Seine Farbenfirma gibt es auch nicht. Wir wussten schon, dass er keine Homepage hat, aber das hat uns nicht überrascht, er hatte ja gerade erst begonnen, Farben zu produzieren. Sie sollten ja noch gar nicht verkauft werden.« Sie zog eine Plastiktüte unter ihrem Stuhl hervor. »Das hier ist sein Produkt.« Sie gab Dan einen weißen Plastikbehälter mit Schraubverschluss und einem sehr hübschen, romantischen Etikett mit dem Bild eines Waldsees, umgeben von knorrigen Eichen. »Ich weiß es natürlich nicht, aber mein Gefühl sagt mir, dass er in die sauberen Behälter mit den vornehmen Etiketten ganz gewöhnliche Acrylfarbe gekippt hat. Ich bin ein bisschen durch Googles Bildarchiv gesurft, und nach einer Stunde hatte ich’s gefunden …« Sie reichte ihm den Farbausdruck eines von Hand gezeichneten Etiketts, das jenem auf dem Farbeimer zum Verwechseln ähnlich sah. »Es stammt von einem kanadischen Öko-Reiniger. Er musste bloß die Schrift austauschen und sich so viele Etiketten ausdrucken, wie er benötigte.«
»Haben Sie auch seinen Namen überprüft?«
Die beiden Frauen nickten gleichzeitig. »Das Schlimmste ist«, sagte Ursula, »dass ich es vor langer Zeit hätte herausfinden können. Ich wusste doch nichts über ihn. Ich hätte ihn überprüfen müssen, ich hätte …«
»Hör jetzt auf, Mutter.« Anemone nahm ihre Hand. »Deine Selbstvorwürfe kannst du dir für später aufheben. Sie sind jetzt nicht unser Thema.«
Ursula zog die Hand zurück und richtete ihren Blick auf die Felder vor dem Fenster. Ihr Gesicht hatte sich verschlossen.
»Entschuldigung, aber was ist denn das Thema?«, fragte Dan.
»Hat Laura es nicht gesagt?« Anemone sah ihn mit erhobenen Augenbrauen an. Und dann kam die vierte Überraschung dieser Begegnung: »Ich will Sie anheuern, um Jakob zu finden und das Geld meiner Mutter zurückzuholen.«
Dan runzelte die Stirn. »Da müssen Sie etwas missverstanden haben. Ich bin Werbetexter, kein Privatdetektiv.«
Er sah, dass Anemone Einwände vorbringen wollte, und hielt eine Hand hoch, um sie zu stoppen. »Die Zeitungen nennen mich den kahlköpfigen Detektiv, das mag schon sein, und es ist wirklich eher ein Gag als eine Jobbeschreibung.«
»Sie haben doch diese Doppelmorde aufgeklärt …«
»Ich habe letzten Herbst einem guten Bekannten bei der Polizei ein bisschen bei dem Fall geholfen, ja. Aber das war ein Zufall und bestimmt nichts, womit ich meinen Lebensunterhalt verdienen möchte.«
Anemone kniff die Augen zusammen. »Wenn Sie kein Interesse haben, warum zum Teufel sind Sie dann den ganzen Weg von Christianssund hierhergekommen, um mit uns zu reden?«
»Weil meine Tochter mich darum gebeten hat. Sie wollte helfen. Laura mag Sie sehr, Ursula.«
Ursula nickte und hielt den Blick weiter auf den Horizont gerichtet.
»Ich begreife überhaupt nichts«, erklärte Anemone. »Was haben Sie sich denn gedacht, worüber wir hier reden? Wollten Sie meiner Mutter eine Gesprächstherapie anbieten, oder wollten Sie nur Ihre Solidarität mit dem weiblichen Geschlecht demonstrieren?«
»Na, na, Mone …«, murmelte ihre Mutter.
»Ist schon okay, Ursula«, erwiderte Dan. »Ich verstehe, dass Anemone verwirrt ist. Mir geht es genauso.« Er sah Ursulas Tochter an. Der Zorn hatte ihre blassen Wangen rot anlaufen lassen. Es stand ihr, aber das sollte er ihr im Moment wohl besser nicht sagen. »Ich glaube, meine liebe und wohlmeinende Tochter hat uns beide hinters Licht geführt«, sagte er dann. »Ihnen hat sie gesagt, Sie könnten mich als Privatdetektiv anheuern, und mir, ich solle Sie überreden zur Polizei zu gehen.«
»Zur Polizei?« Ursula sah ihm direkt ins Gesicht. »Das will ich nicht! Unter keinen Umständen!«
Anemone wandte den Blick von Dan ab, drehte ihm, soweit der beengte Raum es zuließ, sogar den Rücken zu. »Also wirklich, Mutter, das ist unglaublich! Dieser Mann hat dich um über sieben Millionen Kronen betrogen. Das ist natürlich ein Fall für die Polizei und nicht für irgendwelche Amateure.«
»Sieben Millionen?« Dan hielt mitten in einer Bewegung inne. Er hatte gerade aufstehen wollen – zur Tür und dann weg von dieser übellaunigen Domina. Dieser gewaltige Betrag weckte allerdings seine Neugierde.
Als Anemone ihm den Kopf zuwandte, sah er an dem kleinen Kräuseln in ihrem Mundwinkel, dass es genau die Reaktion war, die sie erwartet hatte. »Na, jetzt ist es schon interessanter, wie?«
Dan ignorierte sie. »Wie um alles in der Welt konnte er Sie um sieben Millionen erleichtern, Ursula?«
Sie zuckte die Achseln und trank einen Schluck Mineralwasser.
»War das Geld nicht in Immobilien oder Wertpapiere angelegt?« Dan schüttelte den Kopf. »Sagen Sie nicht, es lag unter Ihrer Matratze!«
Ursulas Lächeln erreichte die Augen nicht. »So schrullig bin ich auch wieder nicht«, erwiderte sie. »Das Geld ist immer noch auf einem hochverzinslichen Festgeldkonto mit einer dreimonatigen Kündigungsfrist. Mein Kundenberater bei der Bank hat jedoch einen dieser Summe entsprechenden Betrag auf einem offenen Konto zur Verfügung gestellt, damit hätten wir in drei Monaten … Er hat das Geld abgehoben. Und nach Ablauf der Kündigungsfrist muss es natürlich erstattet werden.«
Anemone legte eine Hand auf den Arm ihrer Mutter. »Ganz ehrlich, Mutter. Lass es. Der Mann hat schließlich erklärt, dass er nicht für uns arbeiten will.«
»Sie tun jedenfalls nicht viel, um es verlockender für mich zu machen«, entfuhr es Dan. »Wenn Sie möchten, dass andere etwas für Sie tun, sollten Sie sich ein wenig psychologisches Einfühlungsvermögen zulegen. Oder allgemein übliche Formen der Höflichkeit.«
Die junge Frau sprang so abrupt auf, dass ihr Stuhl über den Zementboden des Balkons schrammte. »Ich denke, Sie gehen jetzt besser«, sagte sie und ging voraus zur Tür. »Das hier ist Zeitverschwendung.«
Dan erhob sich ebenfalls. Er gab seiner Gastgeberin die Hand. »Auf Wiedersehen, Ursula. Ich hoffe wirklich, dass Sie eine Lösung für all diese Probleme finden. Und ich bedauere sehr, Ihnen nicht helfen zu können.«
Ein wenig linkisch standen sie sich auf dem winzigen Balkon gegenüber. Sie legte den Kopf zurück und sah ihm einen Moment lang in die Augen. Dann drückte sie sich an ihm vorbei und ging ins Schlafzimmer, wo ihre Tochter wartete. »Kannst du nicht einen Spaziergang machen, Mone?«, bat sie ruhig. »Dann rede ich weiter mit Lauras Vater.«
»Aber …«
»Ich schätze wirklich sehr, was du im Augenblick für mich tust. Aber jetzt musst du mir mal das Feld überlassen. Lass uns eine Stunde Zeit. Okay?«
Anemone zuckte ihre Schwimmerschultern, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand. Ein paar Sekunden später wurde die Tür zum Gemeinschaftsflur so heftig zugeworfen, dass in der ganzen Wohnung die Bilder wackelten.
»Entschuldigen Sie«, sagte Ursula. »Meine Tochter ist manchmal so … intensiv.« Sie setzte ein schiefes Lächeln auf. »Können wir uns nicht einfach ein wenig unterhalten, Dan? Vielleicht haben Sie ja eine gute Idee, wie ich auf eigene Faust weitersuchen könnte?«
Als Dan zwei Stunden später in seinem Auto nach Hause fuhr, hatte man ihn gerade mit seinem ersten selbstständigen Fall als Detektiv betraut. Er und Ursula hatten einen Tagessatz und eine Berichtsform vereinbart, und als Anemone sich nach einem einstündigen abkühlenden Spaziergang wieder zu ihnen gesellte, gab sie ihm einen Vorschuss für ein paar Wochen.
»Es ist vollkommen grotesk«, erklärte sie, als sie ihm den kleinen Stoß Geldscheine übergab. »Jetzt verfüge nur ich noch über Geld. Ich habe die Wohnung beliehen. Gut, dass du mir eine so teure gekauft hast, Mutter.«
Ursula hatte den Kopf geschüttelt. »Es ist grotesk, wahrlich«, hatte sie gesagt. »Wenn es nicht so absurd wäre, würde ich mich totlachen.« Sie hatte das Gesicht zu einer Grimasse verzogen, die mit etwas gutem Willen als Lächeln angesehen werden konnte, und Dan hinausbegleitet. »Wann sehen wir uns wieder?«
»Wie gesagt, ich maile Ihnen mehrmals in der Woche einen Bericht. Sehen müssen wir uns vorläufig nicht, denke ich. Jedenfalls nicht, bevor ich nichts wesentlich Neues zu berichten habe.«