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Erster Teil 1 / Samstag, 3. März 2007

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Die ersten blassen Strahlen der Morgensonne bahnten sich ihren Weg zwischen den Lamellen der Jalousie; sie trafen auf das Fußende des Betts und den Rand des herunterhängenden Lakens, das den Boden streifte. Ursula hatte Rückenschmerzen, aber bewegen wollte sie sich auch nicht, um nicht zu riskieren, ihn zu wecken. Sie wollte den Anblick ihres jungen Liebhabers genießen, ohne dass er es wusste. Wenn er bemerkte, dass sie ihn betrachtete, würde er sie möglicherweise ebenfalls anschauen wollen. Und sie mochte nicht, dass jemand ihre nackte Haut bei Tageslicht sah. Er musste nicht unbedingt auf den Kontrast zwischen ihrer schlaffen, mit Sommersprossen übersäten Hülle und seiner eigenen seidenweichen Haut aufmerksam gemacht werden. Straff und geschmeidig umgab sie ihn, jeder einzelne Muskel, jede Sehne, jeder Knochenvorsprung zeichnete sich so scharf ab, als wäre er aus marzipanfarbenem Marmor gehauen. Jedes Mal, wenn sie ihr eigenes weiches, schlaffes Bauchfell mit seinem flachen, harten Unterleib verglich, zog sich etwas in ihr zusammen. Ihr wabbliges Oberarmfleisch gegen seinen wohldefinierten Bizeps. Ihre dreiundfünfzig Jahre gegen seine neunundzwanzig.

Diese Zeit am frühen Morgen war so kostbar. Aus Furcht, den Zauber zu brechen, wagte sie kaum zu atmen.

Plötzlich öffnete Jakob die Augen. Sie waren auf sie gerichtet, allerdings ließ sich ihr Ausdruck nur schwer erkennen. Sein Gesicht befand sich nur fünfzehn Zentimeter von ihrem entfernt, viel zu nah, um etwas anderes von ihm zu sehen als ein unscharfes Bild. Normalerweise trug Ursula ihre Lesebrille nicht im Bett; ein Impuls sagte ihr, den Kopf zurückzunehmen und die Augen scharf zu stellen, doch sie bekämpfte den Drang und lächelte stattdessen versuchsweise. Seine hübschen grüngrauen Augen schlossen sich wieder, ohne dass er eine Miene verzogen hätte. Falscher Alarm. Er schlief noch. Er schmatzte ein paarmal im Schlaf, drehte ihr den Rücken zu und zog bei dieser Bewegung die gesamte Bettdecke mit sich. Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte. Ihre Hitzewallungen würden sie schon warm halten, obwohl sie nun ungeschützt und nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet im Bett lag.

Vorsichtig brachte Ursula sich in eine angenehmere Position, die Schmerzen im Rücken ließen schlagartig nach. Sie seufzte erleichtert, wippte mit den Füßen und spürte sofort, wie das Blut freier durch die Adern floss. Sie zwang sich, ruhig und entspannt zu atmen, darauf zu vertrauen, dass er nicht im Laufe der nächsten Stunde erwachte. Sie schätzte die Stille dieser frühen Morgenstunden, des einzigen Zeitpunkts am Tag, an dem sie ungestört über ihr einzigartiges Glück nachdenken konnte.

Ursula Olesen kannte Jakob Heurlin seit vier Monaten, einer Woche und zwei Tagen, und in dieser Zeit hatte es tatsächlich keine wache Minute gegeben, in der sie nicht an ihn gedacht hatte. Wenn sie unterrichtete, wenn sie fernsah, wenn sie aß, trank oder auf die Toilette ging. Alles erinnerte an ihn. Das Gefühl des Stoffs auf der Haut, wenn sie morgens eine frisch gebügelte Bluse über den Kopf gleiten ließ, die Stimmen der Nachrichten durch die geschlossene Küchentür, der Geschmack von trockenen Zimtschnecken, der Anblick eines türkisfarbenen Pinselstrichs auf einer weißen Leinwand. Ihre Sinne hatten ihn verschlungen, so wie ihr Körper ihn empfangen hatte und mit seinem eins geworden war. Er war in sie übergegangen, ein Teil von ihr.

Natürlich hatte Ursula schon geliebt. Genug, um zweimal verheiratet gewesen zu sein; genug, um ihre Tochter Anemone bekommen und untröstlich geheult zu haben, als ihre Ehen vorbei waren. Aber nie, niemals wie jetzt. Nie zuvor hatte sie es wie Magie empfunden, wie ein … nun ja, Wunder. An diesem Wort kam man nicht vorbei, dachte sie und ließ die Augen über Jakobs nackten Rücken gleiten. Die Sonnenstrahlen strichen nun über ein Schulterblatt, den Nacken und die sich deutlich abzeichnenden Muskeln auf jeder Seite des perfekten Bogens seiner Wirbelsäule. Er hatte eine kleine, längliche Tätowierung auf der rechten Schulter, ein indisch aussehendes Wort.


Es bedeutet ›Farbe‹, hatte er gesagt. Eine einleuchtende Wahl für einen Mann, der sein Leben der Malerei gewidmet hatte. Oder besser: den Materialien der Malerei. Das hatte sie zusammengebracht: ihr gemeinsames, glühendes Interesse für die Kunst.

Ursula hatte den größten Teil ihres Lebens Kunst und Fotografie an Abendschulen und einer technischen Schule unterrichtet. Nach ihrer zweiten Scheidung vor zwölf Jahren hatte sie sich am Egebjerg-Internat beworben und die Stelle bekommen – ein Job mit einer dazugehörigen Wohnung für sie und ihre Tochter. Als Anemone vor ein paar Jahren nach Berlin gezogen war, um zu studieren, hatte sie die Wohnung zunächst als ein bisschen leer empfunden. Allerdings fiel es schwer, sich richtig einsam zu fühlen, wenn man mit achtzig bis neunzig Schülern und elf Lehrerkollegen zusammen lebte, bei denen es sich mehr oder weniger automatisch auch um ein enges privates Umfeld handelte. Das Leben als Alleinstehende hatte Ursula daher auch nicht nennenswert gestört, nachdem die erste Umstellungsphase vorbei war. Sie hatte sich ohne allzu großen Verdruss darauf eingestellt, für den Rest ihres Lebens allein zu leben.

Hübsch war sie nicht, jedenfalls nicht in ihren eigenen Augen. Doch ihr volles hennafarbenes Haar, das zu einem exakten Pagenkopf frisiert war, ihre humorvollen braunen Augen und ihre flinken, energischen Bewegungen machten sie zu einer faszinierenden Person, die beachtet wurde. Ursula Olesen war eine Frau, die andere Menschen gern kennenlernen wollten, und Jahrgang für Jahrgang war sie die Lieblingslehrerin ihrer Schüler, obwohl sie selbst nicht richtig verstand, warum.

An einem Montag Ende Oktober, vor vier Monaten, einer Woche und fünf Tagen, hatte Ursula die E-Mail einer Firma namens Future Colours bekommen. Eigentlich wollte sie sofort auf die Löschtaste drücken. Sie bekam so viele Reklamemails von Händlern mit Kunstbedarf, und allen war gemeinsam, dass sie die Budgets von Internaten grob überschätzten. Sie wollte keinen weiteren potenziellen Lieferanten enttäuschen. Trotzdem ließ sie das freundliche kurze Anschreiben neugierig werden. Der Inhaber der Firma, ein Jakob Heurlin, lud das Egebjerg-Internat ein, eine neue Serie Acrylfarben gratis zu testen. Future-Farben wären, so erklärte Herr Heurlin, ökologisch, lichtecht und trotzdem so billig, dass auch Lehranstalten mit verhältnismäßig bescheidenem Materialbudget sie sich leisten konnten.

Ursula traf einen raschen Entschluss und lud den Firmeninhaber zu einem Treffen drei Tage später ein. Der Donnerstagnachmittag war für administrative Dinge, Aufräumen, Planung und Ähnliches reserviert, warum nicht auch für ein Gespräch über Farben, dachte sie und klickte auf das Senden-Symbol. Sollte Heurlins Projekt völlig aussichtslos sein, würde sie ihn schon schnell wieder rausschmeißen.

Am Donnerstag hatte sie um vierzehn Uhr hinter der Gardine im Schulatelier gestanden und ihn aus dem Auto steigen sehen, einem etwas betagten Lieferwagen mit dem Logo von Future Colours auf der Seite. Hatte sie sich sofort in ihn verliebt? Oder passierte es in dem Augenblick, als er die Wagentür zuwarf und sie zum ersten Mal von seinem schimmernden blonden Haar geblendet wurde? Oder als er pfeifend die Hintertür seines Wagens öffnete und einen offensichtlich schweren Pappkarton auf eine verschrammte gelbe Sackkarre hob? Oder als er mit ruhigen, entspannten Bewegungen die Karre den Plattenweg hinaufschob und sie bemerkte, wie jung er war? Nein, dachte sie, erst einige Sekunden später war es passiert. Als er die Tür öffnete und sie sich gegenüberstanden. Sein Lächeln zog sich bis in die Augen, es sah aus, als würde die grüne Iris eine Spur farbintensiver, als er zum allerersten Mal seinen Blick auf sie richtete. Obwohl das wohl kaum möglich war.

Er hatte die Sackkarre in ihren Unterrichtsraum gewuchtet und ihre Hand gedrückt. Ihr in die Augen gesehen. Gelächelt. Und gelächelt. Hinterher hatte er behauptet, auch bei ihm sei es Liebe auf den ersten Blick gewesen, aber das konnte Ursula sich kaum vorstellen. Sie selbst war so überwältigt, dass sie Angst hatte zu stolpern, als sie seine Hand losließ und den Augenkontakt unterbrach. Sie hatte sich an einen Arbeitstisch stützen müssen, bevor sie sich umdrehte und zu dem kleinen Erker vorausging, in dem sie normalerweise ihre kleinen, informellen Gespräche mit Schülerinnen führte, wenn eine nach der anderen kam und über ihre Lieben, ihr Heimweh oder ihre Examensängste reden wollte – und am Ende des Schuljahres über ihren Kummer, weil die Zeit auf dem Internat bald vorbei sein würde.

»Kaffee?« Sie hatte bereits Tassen und eine Thermoskanne auf den niedrigen Tisch gestellt. Das Fensterbrett des Erkers stand voller Grünpflanzen, Asparagus, Grünlilien, Paradiesbäume.

»Sehr gemütlich haben Sie es hier«, hatte Jakob gesagt und eine Hand sanft über den Rücken eines Sessels gleiten lassen. Seine Finger waren lang und schmal, die Nägel sehr sauber. Wieder lächelte er, und Ursula musste sich hastig setzen, um nicht übergriffig zu werden. Du benimmst dich ja lächerlich, schimpfte sie mit sich. Wie eine liederliche Alte. Schluss jetzt.

»Nehmen Sie etwas in den Kaffee?« Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie ihm die gefüllte Tasse reichte.

»Nein, danke.« Seine Finger streiften ihre Hand, und sie hatte das Gefühl, als würde sie sich jeden Moment auflösen.

Jakob fing an, seine ökologischen Farben zu beschreiben, zog einen Plastikbehälter nach dem anderen aus dem Karton und zeigte ihr die hübschen Etiketten im englisch-romantischen Stil. Dass seine Produkte frei von giftigen Substanzen waren, demonstrierte er, indem er den Deckel von einer grünen Farbe schraubte, die Spitze seines Zeigefingers in die Farbe steckte und sie ableckte. Lächelnd sah er ihr dabei in die Augen. Die Bewegung hatte nichts bewusst Erotisches, nichts Schlüpfriges, es war kein aufdringlicher Flirt. Trotzdem zielte sie direkt auf Ursulas Unterleib, der sich inzwischen in einem Zustand befand, in dem sie es nur im äußersten Notfall wagen konnte aufzustehen.

»Urs?« Ein junges Mädchen stürmte zur Tür herein und blieb abrupt stehen, als sie Jakob Heurlin bemerkte. »Entschuldigung! Ich komme später noch mal wieder«, sagte sie und begann ihren Rückzug.

»Komm ruhig herein, Laura«, rief Ursula. Ein wenig Ablenkung konnte nicht schaden. »Das ist Jakob Heurlin, der sehr schöne Farben herstellt …« Er erhob sich halb und streckte die Hand aus. »… und das ist Laura Sommerdahl, die praktisch ihre gesamte Freizeit nutzt, um zu malen. Sie wird höchstwahrscheinlich Ihre erste Testpilotin, Jakob.«

Heurlin und die Internatsschülerin gaben sich die Hand und murmelten einen Gruß. Ursula registrierte, dass Jakob nicht mehr als höfliches Interesse für die attraktive Siebzehnjährige zeigte, die mit ihrem nackten, flachen Bauch, ihren mandelförmigen Augen und ihrem ranken, eleganten Hals mehr als einen Blick wert war. Vielleicht ist er schwul, schoss ihr plötzlich durch den Kopf. Ja, das musste die Erklärung sein. Schwule flirten immer mit älteren Frauen. Das ist so herrlich unverbindlich für beide Seiten. In gewisser Weise war sie von ihrer Erkenntnis enttäuscht, auf der anderen Seite aber auch erleichtert. Es war schon in Ordnung, sich ein bisschen in einen jungen Mann zu vergucken, wenn die Beziehung von vornherein unmöglich war. So wie über Robbie Williams oder Orlando Bloom zu fantasieren. Allerdings nicht über Frederik Gulløv, den jungen, heterosexuellen und tatsächlich existenten Englischlehrer der Schule.

Laura bekam den Rat, den sie brauchte; allerdings konnte sich Ursula jetzt, ein knappes halbes Jahr später, nicht mehr daran erinnern, was ihre Schülerin tatsächlich wollte – obwohl sich eigentlich jedes einzelne Detail dieses Tages in ihr Gehirn eingebrannt hatte. Die Begegnung mit Jakob sollte eine Viertelstunde später eigentlich beendet werden. Er stand auf, ließ den Pappkarton mit den Farben und Broschüren stehen, die Sackkarre zog er hinter sich her zur Tür, wo er sich umdrehte und ihr die Hand gab. Wie es dann dazu kam, dass sie plötzlich an der offenen Tür zum Hof standen und sich leidenschaftlich küssten, konnte keiner der beiden glaubwürdig erklären, obwohl sie dieses Thema wieder und wieder diskutiert hatten. Aber nichtsdestoweniger war genau dies geschehen. Und der Kuss hatte sich in einem langen, atemlosen Verlauf zu erheblich mehr entwickelt. Erst auf dem Arbeitstisch zwischen halb feuchten Klumpen aus ungebranntem Ton und einem Haufen alter Lappen – Ursula war zumindest so geistesgegenwärtig gewesen, die Tür zuzutreten –, dann oben in ihrer Wohnung, auf ihrem Sofa und auf ihrem schmalen Doppelbett. Seit diesem Tag lebte Jakob praktisch bei ihr, abgesehen von einem Tag zu Beginn ihrer Beziehung, nach knapp einer Woche. Er hatte nicht gesagt, wohin er wollte. Nur, dass er am nächsten Abend zurück sein werde. Sie hatte ihn vermisst, sie wurde fast krank, überzeugt, ihn nie wiederzusehen. Doch am nächsten Tag kam er wie versprochen zurück. Mit zwei Koffern und einem Umzugskarton. Er sah unglaublich müde aus, als er die Sackkarre mit seinen Habseligkeiten den Plattenweg hochschob. Müde und verschlossen, weit weg in seinen eigenen düsteren Gedanken. Ursula vermutete, er sei daheim in Middelfart gewesen, um die Beziehung zu einer Frau oder Freundin zu beenden. Vielleicht hatte er sogar Kinder? Sie wusste es nicht. Er hätte ihr sicher erzählt, was er aufgeben musste, um mit ihr zusammen sein zu können, aber sie hatte es nie über sich gebracht, ihn zu fragen. Als würde allein die Frage den Zauber brechen. Nicht einmal in ihrem langen, wunderschönen Winterurlaub in Südfrankreich, wo er mehrmals ein paar Schritte zur Seite getreten war, um Anrufe auf seinem Handy entgegenzunehmen, hatte sie ihn gefragt. Obwohl er jedes Mal traurig und geradezu aufgelöst zurückgekommen war. Sie hatte ihn umarmt, ihn geneckt, ihn zum Lachen gebracht und mit ihm geschlafen, bis er vergessen hatte, was immer er vergessen musste.

Und jetzt? Ursula drehte den Kopf und sah, wie die Sonnenstrahlen seinen Schenkel erreichten. Im Grunde war sie so glücklich wie nie zuvor. Noch immer hatte sie nicht das Gefühl, diese ganze Seligkeit verdient zu haben; sie verstand nicht, warum er gerade sie gewählt hatte, er hätte doch jede bekommen können, auf die er mit dem Finger zeigte. Aber sie hatte allmählich gelernt, es als Tatsache zu akzeptieren. Sie war so glücklich, dass sie zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren wieder darüber nachdachte, ob sie das Leben im Internat vielleicht an einem nicht allzu fernen Tag doch beenden sollte. Vielleicht sollten Jakob und sie den Traum Wirklichkeit werden lassen, den sie sich in den langen Nächten ausgesponnen hatten, in denen sie dalagen und dösten, eifersüchtig auf den Schlaf des anderen, der sie zeitweilig auseinanderbringen würde. Wenn sie diesen Traum wahr werden ließen, war es egal, ob in ihrem Vertrag stand, dass sie ab einem bestimmten Alter aufhören konnte. Sie könnte für den Rest ihres Lebens mit etwas arbeiten, das sie begeisterte und wozu sie sich eignete. Und das Beste: Sie konnte zusammen mit dem Mann arbeiten, den sie liebte.

Ursula beschloss, sich am nächsten Tag ernsthaft mit der Sache zu befassen. Es war kein Entschluss, den man treffen konnte, ohne vorher sorgfältig nachzudenken.

Der Judaskuss

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