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5 / Donnerstag, 22. März 2007, mittags
ОглавлениеDas Internat von Egebjerg war auf einem ehemaligen Herrenhof untergebracht, dessen drei überdimensionierte Gebäude eine parkähnliche Anlage mit Bänken, Beeten und Bäumen umschlossen. Die große viereckige Rasenfläche mitten auf dem Platz war umgeben von einem weiß lackierten Zaun, drei Weißdornbäume spendeten Schatten. Eine kleine Herde verblüffend zahmer Schafe wurde im Sommerhalbjahr auf dem Rasen gehalten, und erst kürzlich war das erste Lamm dazugekommen. Ein blökender Chor in zwei Tonhöhen empfing Dan, als er aus dem Auto stieg. Er trat an den Zaun und bückte sich, um ein ehrwürdig kauendes Gotlandschaf am Rücken zu kraulen, bemerkte aber sofort, dass dessen dicke Wollschicht für Klapse und Streicheleinheiten eher nicht geeignet war. Die Wolle war hart, fettig und total verfilzt. Da muss jemand aber dringend mal zum Friseur, dachte er und belächelte den kleinen, eifrig wedelnden Lämmerschwanz, der unter dem grauen Massiv des Mutterschafs hervorlugte.
Dan ließ den Wagen auf dem Gästeparkplatz stehen und lief den Rest des Wegs zum Hauptgebäude. Die Schüler wohnten im ersten und zweiten Stock; Küche, Speisesaal und der Gemeinschaftsraum lagen im Erdgeschoss, in dem hohen Keller waren die Klassenräume untergebracht. Weitere Unterrichtsräume und Werkstätten waren auf die beiden anderen Gebäude verteilt, ebenso die Privatwohnungen der Lehrer – klugerweise in einigem Abstand zu den Zimmern der Schüler.
Auf der Treppe kam Dan eine Gruppe siebzehnjähriger Jungen entgegen. Keiner von ihnen hatte seine Hose bis zur Taille hochgezogen; sie saß mitten auf dem Hinterteil und wurde von einem überdimensionierten Gürtel und hin und wieder – in aller Diskretion – von einer hilfreichen Hand fixiert, wenn der Besitzer sicher war, dass niemand es sah. Die gewünschte Wirkung war möglicherweise eine Illusion von Schwerelosigkeit: kräftige Jeans, die trotz des zusätzlichen Ballasts von Nietengürteln, Schlüsselbunden, Mobiltelefonen und Kleingeld auf der Hälfte eines schmalen Jungenarschs in der Schwebe blieben. Vielleicht hatten sie einen Klettverschluss an der Unterhose? Dan begriff die Mode dieser hängenden Hosen nicht, er hatte sie nie verstanden und sie würde ihm wohl auch nicht mehr klar werden. Plötzlich fühlte er sich alt.
»Hej!« Der größte der Jungen lächelte breit.
»Hej!«
Einer der anderen drehte sich um. »Du bist Lauras Vater, oder?« Als Dan nickte, fügte der Junge mit einem verlegenen Grinsen hinzu: »Der kahlköpfige Detektiv.«
»Eben der!« Dan griff nach der Türklinke, aber der große Bursche kam ihm zuvor. Er hielt die Tür auf, bis Dan eingetreten war. Sehr freundlich, dachte Dan, aber nicht gerade das, was einem erwachsenen Mann das Gefühl gibt, jünger zu sein.
Es war halb eins, und Dan hatte das deutliche Empfinden, dass das Mittagessen bereits vorbei war. Ein durchdringender Geruch nach Schweinefleisch und gekochtem Kohl hing in der Luft, und die klappernden, scharrenden, kichernden Geräusche aus der Mensa klangen eher nach Aufräumen und Abwasch als nach Essensvorbereitungen. Außerdem waren überall auf den Fluren und Treppen junge Leute – mit oder ohne sichtbare Unterwäsche. Einige schrieben SMS, andere unterhielten sich in kleinen Grüppchen, wieder andere trugen Tabletts mit benutzten Gläsern heraus oder beschäftigten sich mit Handfeger und Kehrblech. Das übliche Gefühl der Desorientierung überkam ihn. Es müsste eine topgeführte Rezeption oder zumindest ein klares und eindeutiges Beschilderungssystem in so einem Internat geben, dachte er. Vielleicht könnte man eine Tafel erfinden, auf der sich zu jeder Zeit die Position eines Schülers ablesen ließe; oder so eine geheime Karte wie in den Harry-Potter-Büchern. Er wurde hier noch regelrecht konfus.
»Hej, Papa!« Laura hatte die Arme um ihn geschlungen, bevor er sie überhaupt entdeckte. Er sog den Duft ihres Shampoos ein, während sie sich umarmten. Shampoo und …
»Verdammt noch mal, Laura! Hast du angefangen zu rauchen?«
Perplex versuchte sie sich loszureißen, gleichzeitig hielt sie die Hände vor den Mund. »Du sagst doch nichts Mama, oder?«
»Deiner Mutter? Du machst dir Sorgen wegen deiner Mutter? Und was ist mit mir? Bin ich hier etwa der Blödmann?«
»Du weißt, was ich meine …«
»Nein, bei allen guten Geistern, das weiß ich nicht. Ich bin doch der Nichtraucher bei uns zu Hause. Ich hasse Zigarettenrauch. Und ich habe den größten Teil meines Lebens damit verbracht, mich mit deiner Mutter über genau dieses Thema zu streiten. Jetzt hat sie endlich aufgehört, und du hast am meisten Angst vor ihrer Reaktion?«
Laura ließ die Schultern hängen. »Ach, Papa …«
Dan bemerkte plötzlich, wie still es um sie herum geworden war. Mindestens acht junge Menschen verfolgten den Auftritt mit ernsten Mienen, und Dan wurde klar, dass er gerade definitiv sein neues Image als altes, mürrisches Arschloch zementierte. Wie konnte er seine Tochter nur in aller Öffentlichkeit so herunterputzen … »Entschuldige, Schatz«, sagte er und berührte sanft ihre Schulter. »Wir reden ein andermal darüber, ja?«
Sie blickte zu ihm auf. »Und Mama?«
Dan schüttelte mit der Andeutung eines Lächelns den Kopf.
Laura machte sofort ein fröhlicheres Gesicht. »Hast du Hunger?«
»Ein bisschen«, gab er zu. »Und Durst.«
Sie ging in die Küche voraus und manövrierte ihn gekonnt um die Horden von Schülern, die offensichtlich zur Küchenmannschaft gehörten. Zwei Frauen, gut und gern im mittleren Alter, leiteten den Aufmarsch, Laura wandte sich an die ältere der beiden. Ein paar Worte reichten, dann nickte die Frau, öffnete den Kühlschrank und klapperte auf ihren ausgelatschten weißen Clogs davon, ohne Dan auch nur eines Blickes zu würdigen. Laura schien die unhöfliche Attitüde nicht bemerkt zu haben, daher vermutete Dan, dass es sich lediglich um den normalen Umgangston in der Schulküche handelte.
»Ich kann dir ein bisschen falschen Hasen aufwärmen«, tönte es aus der Tiefe des Kühlschranks, wo Laura Tupper-Dosen untersuchte. »Willst du frisch gebackenes Roggenbrot oder geschmorten Weißkohl dazu?«
»Roggenbrot.« Er sah, wie sie mit einer geübten Bewegung ein paar gebackene Hackfleischscheiben auf einen Teller wippte, ihn mit einer Schale abdeckte und in die Mikrowelle stellte. Innerhalb von drei Minuten zauberte sie außerdem zwei Scheiben Roggenvollkornbrot, einen Löffel Rotkohl und ein großes Stück Butter hervor. Als Getränk entschied er sich für fettarme Milch. Laura goss ihm ein großes Glas ein, stellte alles auf ein Tablett, wischte den Küchentisch hinter sich ab und überließ es ihrem Vater, das Tablett in den jetzt leeren Speisesaal zu tragen.
»Falscher Hase mit geschmortem Weißkohl oder Rotkohl? Ich dachte, ihr bevorzugt vegetarisches oder thailändisches Essen. Ihr esst ja wie im Altenheim.« Er schnitt den ersten Bissen ab, steckte ihn in den Mund und kaute mit einem seligen Gesichtsausdruck.
»Ich dachte, du bist Lifestyle-Experte? Junge Leute mögen am liebsten die althergebrachten Gerichte«, erklärte sie in einem belehrenden Tonfall.
»Ja, ja … solange es sich nicht um Hering, weiche Zwiebeln, Leber, Sagosuppe oder Rosenkohl handelt.« Er lächelte sie an, als sie beleidigt die Arme über der Brust verschränkte. »Jetzt werd nicht gleich sauer, Laura. Erzähl mir lieber von der armen Ursula Olesen, während ich esse. Wann musst du in den Unterricht?«
»Eigentlich in einer Viertelstunde. Aber Gitte hat mir erlaubt zu schwänzen, wenn es mit dir länger dauert.«
»Gitte? Die Schulleiterin? Sag mal, wissen eigentlich alle, dass ich heute komme?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nur Gitte, Helle und ich. Helle, das ist die Alte aus der Küche.«
»Die Saure?«
»Sie ist nicht sauer. Sie ist Ursulas beste Freundin und kreuzunglücklich über die ganze Geschichte. Außerdem ist sie ein bisschen verlegen, weil du ja ziemlich bekannt bist.«
Na ja. Das vergaß er ständig. »Was ist mit Ursula? Ist sie gewarnt?«
Laura nickte.
»Okay, dann schieß los!«
Laura erzählte die lange und traurige Geschichte mit allen Details, die ihr bekannt waren. Dan hörte aufmerksam zu, während er die einfache, aber wohlschmeckende Mahlzeit verzehrte. Als er Messer und Gabel beiseitelegte und sich auf dem Stuhl zurücklehnte, tauchte plötzlich und unerwartet eine Hand auf seiner rechten Seite auf. Sie stellte eine Tasse heißen Kaffee auf den Tisch und räumte den leeren Teller ab. Dan drehte sich um und sah, dass die Hand der weißhaarigen Küchenchefin gehörte.
Er erhob sich und streckte die Hand aus. »Vielen Dank fürs Essen, Helle. Es ist selten, dass man einen falschen Hasen bekommt, der auf die richtig gute alte Art zubereitet ist. Herrlich! War der Rotkohl hausgemacht?«
Ihre Augen huschten über sein Gesicht, und sie murmelte etwas, das er nicht richtig verstand. Dann zog sie ihre Hand zurück und griff noch nach dem leeren Milchglas, bevor sie wieder in der Küche verschwand.
Laura kicherte. »Du hast die Damen im Griff, oder, Papa?«
»Ach, hör schon auf.« Er setzte sich und schnupperte an dem Kaffee. »Aber da wir gerade von Frauenverstehern reden … Wie war er eigentlich?«
»Jakob?«
Dan nickte. »Nur dein ganz persönlicher Eindruck?«
Sie zog die Brauen zusammen und biss sich auf die Unterlippe, während sie einen Augenblick nachdachte. »Na ja, du wirst es mir nicht glauben, Papa, ich konnte ihn tatsächlich nie leiden. Auch nicht, als er ständig hier wohnte und Ursula so glücklich war. Und das sage ich nicht, um hinterher alles besser gewusst zu haben. Ich habe Zeugen! Alle andern sind bald in Ohnmacht gefallen und fanden ihn wunderbar, aber ich … Ich weiß nicht. Mir fehlte irgendetwas an ihm. Ich glaube, besser kann ich es nicht erklären.«
»Wenn du sagst ›die anderen‹, wen meinst du damit? Deine Freundinnen hier auf der Schule? Oder die anderen Lehrer?«
»Alle. Also … er sah einfach super aus, obwohl er schon ein bisschen alt war. Groß, muskulös, schmale Hüften, sexy Augen. Außerdem war er immer wahnsinnig höflich und sehr hilfsbereit.« Laura platzierte ihre Ellenbogen auf den Tisch und stützte das Kinn auf ihre Fäuste. »Vielleicht lag es daran, er war so höflich und korrekt, als hätte er sich ständig hundertprozentig unter Kontrolle. Ich meine, jeder normale Mann guckt doch auch mal jungen Mädchen hinterher, oder? Vor allem, wenn die so supergut aussehen wie ich.« Sie legte den Kopf zurück und lachte schallend. Wieder erinnerte sie ihn an ihre Mutter, die auch immer herzlich über ihre eigenen witzigen Bemerkungen lachte. »Alle Männer, auch wenn sie glühend in ihre Frauen oder Freundinnen verliebt sind, schenken einer Sahneschnitte wie mir doch zumindest einen Blick, oder?«
Wenn du wüsstest, Mädchen. Wir sind durch und durch alte Ferkel, dachte Dan. Aber er hielt die Maske aufrecht und beließ es bei einem Nicken.
»Jakob aber nicht. Nicht ein einziges Mal. Auch die anderen Mädchen oder die Lehrerinnen guckte er nicht an. Nur Ursula. Als wären seine Augen an ihr festgeleimt. Als hätte er beschlossen, nie wieder wegzusehen. Sie fand das natürlich toll, und die anderen meinten, es sei süß, mir war es eher unheimlich.« Sie lehnte sich zurück. »Hilft dir das?«
»Sehr.« Dan trank einen Schluck Kaffee. Auch der war mehr als okay. Sein Respekt vor Helle aus der Küche stieg mehr und mehr. »Du warst der Ansicht, dass Jakobs totale Fokussierung auf Ursula etwas Konstruiertes hatte.«
»Genau. Er hat’s übertrieben; er hat so getan, als sei er vollkommen verrückt nach ihr, als müsse er sie ständig berühren, sie küssen und ihr klebrige Komplimente machen.«
»Klebrig?«
»Na ja, andeuten, wie fantastisch sie im Bett ist und so. Also hör mal … in ihrem Alter! Das mit anzuhören, war eklig!«
Dan vertiefte dieses Thema nicht weiter. Er wusste nicht so genau, ob er sich anhören wollte, wo Lauras Meinung nach die Altersgrenze für die sexuelle Ekelschwelle lag. Wenn Jakob ›schon ein bisschen alt‹ und Ursula in ihrer Rolle als Liebhaberin direkt ekelerregend war, dann hatte Dan das hässliche Gefühl, sein eigener Zustand könnte auch schon bald einen kritischen Punkt erreichen.
»Na, Prinzessin«, sagte er stattdessen. »Soll ich dir sagen, was ich glaube, bevor wir mit der armen Frau überhaupt geredet haben?«
Sie nickte.
»Ich glaube, es wird sehr, sehr schwer werden, sie zu überreden, damit zur Polizei zu gehen.«
»Ja, sicher, Papa, aber könntest du nicht wenigstens …«
»Natürlich werde ich einen ernsthaften Versuch wagen, zaubern kann ich jedoch nicht. Sie ist eine erwachsene Frau, und wenn sie nicht will, kann niemand sie zwingen.« Dan legte ein paar Fingerspitzen auf Lauras Handrücken. »Hör mal, Laura, möglicherweise ist dir das ja auch schon passiert, irgendein Idiot hat dich sitzen lassen und war nicht imstande, es auf anständige Art und Weise zu beenden. Du musstest selbst herausfinden, dass es vorbei ist, und dich dabei vor deinen Freundinnen blamieren …« Sie nickte. »Die möglicherweise obendrein noch herumgelaufen sind und deine Geheimnisse weitergetratscht haben, zum Beispiel, was dir gefällt oder nicht gefällt, wenn ihr allein seid, wenn du verstehst, was ich meine.« Sie verstand. Und wandte den Blick ab. »Was ich dir sagen will, ist, derartige Situationen … es wird mit den Jahren nicht einfacher, sie zu ertragen. Nein, nicht um deine Gefühle kleinzureden«, fügte er hastig hinzu, als er sah, dass sie protestieren wollte. »Selbstverständlich kann man tief verletzt sein, auch wenn man jung und hübsch ist, und doch, in all dem Ärger weißt du tief in deinem Inneren genau, dass es noch eine Unmenge anderer Männer auf der Welt gibt und du es schaffen wirst, jedenfalls besser als dieser Vollidiot, der dir in einer bestimmten Situation so wehgetan hat.« Sie blickte auf. Dan hatte offenbar einen blanken Nerv getroffen, er entschied sich aber, es zu ignorieren. »Stell dir vor, du bist Ursula. Sie steht am anderen Ende des Laufbands und stellt sich allmählich darauf ein, mit all dem, womit du gerade anfängst, aufzuhören. Höchstwahrscheinlich empfand sie Jakob als ihre allerletzte Chance für eine Liebesbeziehung.«
Laura nickte. »Sie nannte ihn ihr Mirakel.«
»Da siehst du’s. Ein Mirakel. Man erwartet nicht, dass es jeden Tag passiert. Jedenfalls nicht, wenn man gut und gern die Hälfte seines Lebens hinter sich hat.« Dan leerte die Tasse und schob sie beiseite. »Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, Ursula verbrachte die meiste Zeit der letzten Monate damit, sich in den Arm zu kneifen, um herauszufinden, ob sie vielleicht doch träumt. Garantiert hat sie gewaltige Angst davor gehabt, sich lächerlich zu machen. Vor euch Schülern, den Kollegen und ihrer Tochter gegenüber. Am meisten Angst hatte sie sicherlich davor, sich vor Jakob lächerlich zu machen; davor, dass er sie tief in seinem Inneren eklig fand, sie für alt, verbraucht und schlaff hielt, und sich irgendwann in eine andere, eine jüngere Frau verlieben würde.«
»Wir wissen nicht, ob nicht das vielleicht sogar der Fall ist.«
»Wir wissen offenbar so gut wie nichts. Aber von Ursulas Seite aus betrachtet, ist etwas geschehen, was all ihre Sorgen bestätigt hat, egal, wie die Erklärung lautet: Er hat sie verlassen, er hat ihr Geld mitgenommen, er hat sie nicht geliebt. Das ist die totale Demütigung. Es ist enorm, dass sie überhaupt mit mir spricht. Mehr kannst du meiner Ansicht nach nicht erwarten.«