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3 / 19.–21. März 2007

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Wusste Ursula vielleicht bereits am Flughafen, dass sie Jakob nie wiedersehen würde? Da sie nicht die Gabe des Hellsehens besaß, konnte ihr Gefühl nur einen einzigen Grund haben: Jakob selbst.

Er war ein begabter Schauspieler, ja, sogar sehr begabt. Doch selbst der abgefeimteste Betrüger ist schließlich ein Mensch, und wer weiß das schon so genau, vielleicht empfand der Mensch Jakob Heurlin tatsächlich etwas für die herzliche, vertrauensvolle und intelligente Frau, mit der er die vergangenen vier Monate und drei Wochen geteilt hatte? Vielleicht kratzten die Gefühle seine sorgfältig aufgebaute Fassade ein ganz klein wenig an, vielleicht blitzte das schlechte Gewissen über seine Tat eine Mikrosekunde lang auf? Wir werden es nie erfahren, und die arme Ursula schon gar nicht.

Sie blieb am Check-in-Schalter im Terminal 2 stehen und sah seiner großen, schlanken Gestalt nach, die sich über die Rampe in Richtung Transitbereich, Gate und des wartenden Flugzeugs bewegte. Neben ihm ging ihr gemeinsamer Anwalt Einar Greiff-Johansen, ein blasser Mann mittleren Alters mit dünnem grauem Haar und einer Brille mit Silberfassung. Sie unterhielten sich dort oben, vermutlich über Angebote, Prioritäten und den neuesten Einfall des französischen Maklers. Erst als sie die Kurve zur Security-Schleuse am Ende des Ganges erreicht hatten, drehte Jakob sich um und schenkte Ursula für einige kostbare Augenblicke seine volle Aufmerksamkeit. Dann hob er den Arm, winkte ihr zu und verschwand um die Ecke.

In diesem Moment hatte sie es gewusst. Nicht nur gefürchtet oder gespürt, sondern gewusst. Und hätte sie ihrem intuitiven Wissen entsprechend gehandelt, wäre zumindest der ökonomische Schaden vermieden worden. Aber so etwas tut man doch nicht, oder? Man unterschreibt schließlich nicht einfach einen Haufen schriftlicher Vereinbarungen mit der Bank, dem Anwalt, dem Makler und dem Mann, den man liebt und den man heiraten will – und dann wird, drei Minuten nachdem er außer Sichtweite ist, alles annulliert, weil man aus unerklärlichen Gründen weiß, dass man betrogen worden ist. Auf keinen Fall, es sei denn, man will sich bewusst zum Narren machen. Abgesehen davon war der ökonomische Faktor ein Detail, das ihr zumindest kurzfristig egal war.

Ursula weinte nicht. Stattdessen hatte sie das Gefühl, als würde alles an ihr erstarren, jeder einzelne Körperteil. Die Eingeweide wurden hart wie Leder, zu schweren Klumpen; ihre Muskeln verknoteten sich und ihre Glieder wurden so steif, dass sie die Abflughalle nur unter größter Kraftanstrengung verlassen konnte. Sie lief über den Taxihalteplatz zum Kurzzeitparkhaus … und musste sich übergeben. Ihr Körper setzte in langen, schmerzhaften Krämpfen den Versuch fort, ihr Innerstes nach außen zu stülpen, obwohl ihr Magen sich bereits innerhalb der ersten zehn Sekunden entleert hatte. Erst als die Krämpfe nachließen, weinte sie ein wenig. Aus Erschöpfung, aus Demütigung, aufgrund des Schocks über ihr heimliches Wissen. Nicht aus Kummer. Noch nicht. Wenn sie den Kummer zuließe, wäre sie nicht mehr imstande, irgendeine Form der Kontrolle zu bewahren. Das wusste sie instinktiv. Und da sie das Privileg des Zweifelns gern behalten wollte, verdrängte sie alle Vorahnungen, so gut es eben ging, ließ den Wagen an und fuhr nach Hause. Sie musste Gewissheit haben, bevor sie etwas Übereiltes unternahm.

*

Glücklicherweise war es nicht Laura, die sie fand, obwohl es beinahe so gekommen wäre. Das junge Mädchen hatte an ihre Tür geklopft, nachdem Ursula am nächsten Morgen weder zum Frühstück noch zum gemeinsamen Singen oder zum Unterricht erschienen war. Laura klopfte, erst diskret, dann beharrlicher, und rief nach Ursula. Aus der Wohnung drang kein Laut. Laura gab auf und ging zurück zu dem abgeschlossenen Atelier, wo der Rest der Klasse wartete. Auf dem Weg kam sie an Ursulas rotem Auto vorbei. Sie war also nicht weggefahren. Merkwürdig.

Lauras Freundin Kisa rauchte. »War sie nicht da?«

»Jedenfalls macht sie nicht auf.«

»Vielleicht schläft sie einfach nur lange? Vielleicht hat sie auch geheult, weil ihr Loverboy zum Hauskauf verreist ist …« Kisa kicherte, bemerkte Lauras Gesichtsausdruck und wurde wieder ernst. »Ich rauche die Zigarette fertig, dann hole ich den Schlüssel zum Atelier«, sagte sie. »Wir können doch auch ohne Urs anfangen.« Sie nahm einen tiefen Zug.

Laura schüttelte langsam den Kopf. »Mir gefällt das nicht.«

»Und was willst du tun?« Die Frage stellte Line, eine weitere Schülerin, die auf Ursula wartete. »Die Tür einschlagen?«

Wieder kicherte Kisa. »TOCHTER DES KAHLKÖPFIGEN DETEKTIVS IN DRAMA AUF INTERNAT VERWICKELT. LESEN SIE DEN ARTIKEL IN DER HEUTIGEN AUSGABE.«

»Hör auf damit.« Laura drehte sich um. »Ich rede mit Gitte.«

Und so kam es, dass die Leiterin der Schule, Gitte Svendsen, an diesem Vormittag Ursula Olesens bewusstlosen Körper fand. Die Kunstlehrerin lag im Bett. Ihr rotes Pagenhaar und das Kopfkissen waren von Erbrochenem verschmiert, das Laken und die Matratze von Urin durchtränkt. Der Gestank war bis in den winzigen Eingangsbereich zu riechen. Gitte befahl Laura, draußen zu warten. Als sie zum Bett ging, kam sie an einem Papierkorb vorbei, dessen Boden mit leeren Tablettenstreifen verschiedener Medikamente übersät war. Wie hatte sich Ursula nur diese Menge an lebensgefährlichen Präparaten beschafft?

Gitte griff nach Ursulas Handgelenk. Es fühlte sich kühl, aber nicht kalt an, Gitte spürte den Puls – er war langsam, schwach. Am Ringfinger glitzerte der aufwendige Verlobungsring. Als Gitte sich aufrichtete, um einen Krankenwagen zu rufen, bemerkte sie Laura, die direkt hinter ihr stand. Das Gesicht des jungen Mädchens war schockverzerrt; sie riss die Augen so weit auf, dass man rund um die Iris das Weiße sehen konnte. »Ist sie tot?«, fragte sie und hielt sich eine Hand vor Nase und Mund.

»Raus!«, befahl Gitte. »Raus mit dir!« Sie schob Laura vor sich her, auf den Flur. »Wir unterhalten uns später, Laura.«

»Ist sie tot?«

Gitte schüttelte den Kopf, dass der Zopf in ihrem Nacken hin und her peitschte. »Nein. Aber sie ist sehr schwach. Ich muss jetzt einen Krankenwagen rufen. Geh zu den anderen und erzähl ihnen nicht, was du gesehen hast. Du kannst ihnen sagen, Ursula sei krank und muss ins Krankenhaus, ja? Ich komme zu dir, sobald es geht«, sagte sie und schlug die Tür zu.

Laura blieb regungslos stehen, das Gesicht auf den geschlossenen Eingang zu Ursulas Privatleben gerichtet. Ein glänzendes, selbst gefertigtes Keramikschild hing in Augenhöhe. JAKOB & URSULA stand mitten auf dem türkisfarbenen Oval. Die beiden Namen waren nicht mit Glasur auf eine glatte Fläche geschrieben, wie es normalerweise üblich ist, sondern in den noch nicht durchgehärteten Ton geritzt worden: tiefe, kraterähnliche Spuren, die dann trockneten, gebrannt und glasiert und wieder gebrannt worden waren, bis die Buchstaben sich nicht mehr auslöschen ließen. Es war ein Namensschild, das ein Leben lang halten sollte. Wenn die Besitzer des Schildes eines Tages tot und fort wären, würde das Schild noch immer da sein. Es konnte mehrere Jahrtausende halten, wenn es sein musste.

Laura machte auf dem Absatz kehrt und lief direkt in ihr Zimmer. Sie legte sich aufs Bett, rollte sich in ihre Tagesdecke ein und fing an zu weinen.

*

Kaum zwei Tage später war Ursula Olesen wieder zu Hause. Sie saß in einem Sessel, um die Beine hatte sie sich eine violette Decke gelegt. Sie war blass, und ihre Augen sahen aus, als ob sie sich nach dem tiefen Schlaf sehnten, aus dem sie geweckt worden war. Viele Worte brachte sie nicht heraus, aber sie hatte denen, die ihr nahestanden, doch das Notwendigste erzählt: Anemone, Laura, Gitte und Helle aus der Küche.

Jakob hatte sie verlassen, und sie hatte gewusst, dass er es tun würde. Er hatte am Abend nicht, wie vereinbart, angerufen, er hatte weder sein Telefon abgenommen noch auf die vielen SMS reagiert, die Ursula ihm geschickt hatte. Sie hatte sich die Telefonnummer des Hotels herausgesucht und lange mit einer Frau an der Rezeption gesprochen. Es gab keinerlei Zweifel: Jakob hatte ein Einzelzimmer im Hotel Suisse reserviert, aber er war nie dort aufgetaucht. Als sie einen Mitarbeiter vom Kundenservice der Fluggesellschaft erreichte, bekam sie den endgültigen Beweis, dass etwas überhaupt nicht in Ordnung war. Jakob Heurlin und Einar Greiff-Johansen hatten zwar eingecheckt, sie waren jedoch nie am Gate erschienen. Das Flugzeug flog mit einer Viertelstunde Verspätung ohne sie nach Nizza.

Jakob war weg. Spurlos verschwunden. Als sie sich bei der Netbank einloggte, handelte es sich eigentlich nur noch um eine Formalität. Sie wusste genau, dass sämtliche Konten leer geräumt sein würden. Das Einzige, was er nicht angerührt hatte, war das Konto mit Anemones Geld, das ebenso weg gewesen wäre, wenn er auch dafür eine Vollmacht gehabt hätte. Alles andere war abgehoben. Die Ersparnisse, der Lottogewinn, sogar ihr Gehaltskonto und das Mastercard-Konto. Dazu natürlich Jakobs eigene Konten, auf deren Vollmacht sie in ihrer Naivität so stolz gewesen war.

Kurz hatte sie versucht, sich vom Weiterleben zu überzeugen. Sie hatte eine wunderbare, hübsche, fröhliche und talentierte Tochter. Sollte Anemone als Fünfundzwanzigjährige ohne Mutter sein? Sollten Ursulas Eltern ihr einziges Kind auf diese Weise verlieren? War sie nicht einfach nur egoistisch und verzogen? Sie hatte noch immer einen Job und eine Wohnung, wenn sie ihre Kündigung zurückzog. Vor ihr lagen noch zwölf, dreizehn Jahre, in denen sie arbeiten konnte. Es war möglich, neue Ersparnisse aufzubauen, einen neuen Traum zu finden, wie sie ihren dritten Lebensabschnitt verbringen wollte. Es gab Menschen, die ihr vertrauten, die sie mochten, die sie brauchten … Der Schmerz traf sie wie eine Keule. Sie hatte Wut, Schock, Demütigung und Selbsthass verspürt, doch es war ihr gelungen, den Schmerz fernzuhalten, solange sie sich darauf konzentrierte, sich Jakobs Betrug klarzumachen. Als sie irgendwann in ihrem engen Wohnzimmer saß, in dem nur der Computerbildschirm in der Dunkelheit leuchtete, übermannte sie der Schmerz, zog sie mit sich, drückte sie in das Polster ihres Sofas, quetschte Tränen, Rotz und lautes, jammerndes Geheul aus ihrem Körper. Da wusste sie, dass es hier nicht um einen Entschluss ihres rationalen Ichs ging. Sie konnte nur auf eine Weise reagieren, sie wollte fort, schlafen, verschwinden. Je länger, desto besser.

Im Medizinschrank fand sie die Resultate des zehnjährigen Machtkampfs zwischen ihr und ihrem praktischen Arzt. Als Ursula in die Wechseljahre kam, hatte sie mehrfach ihren Arzt aufgesucht, um nachts besser schlafen zu können und ihre Stimmungswechsel unter Kontrolle zu bekommen. Es sollte ihr ein wenig besser gehen. Die Antwort des Arztes bestand jedes Mal in einem Rezept, mal für das eine, mal für das andere beruhigende oder schlaffördernde Mittel. Imovane, Oxapax, Apozepam, Halcion … Jedes Mal war sie mit dem Rezept gehorsam zur Apotheke gegangen, hatte die vorgeschriebene Dosis ein, zwei Tage genommen, den tiefen, ungestörten Schlaf genossen … und den Rest der Tabletten in den Schrank gepackt. Es widersprach ganz einfach ihrer Mentalität, sich mit künstlichen Mitteln außer Gefecht zu setzen; es gefiel ihr nicht, dass sie derart die Kontrolle verlor. Aber es dauerte nicht lange, bis sie sich erschöpft vom Schlafmangel wieder zu ihrem Arzt schleppte und ein neues Rezept bekam – in der Hoffnung, dass das nächste Präparat nicht ganz so heftig anschlug wie das vorherige. Im Laufe der Jahre waren es sehr, sehr viele Tabletten geworden. Sie hatten sich in ihren neutral aussehenden Verpackungen auf dem obersten Regalbrett des Medizinschranks angehäuft und waren langsam, aber sicher verstaubt. Sie nahm die Schachteln heraus und legte sie auf ihren Schreibtisch, wo sie die Tabletten aus den Blisterhüllen drückte, bis schließlich ein beeindruckend großer, pastellfarbener Haufen vor ihr lag: Die weißen, rosafarbenen, lavendelblauen Tabletten leuchteten verführerisch.

Sie wollte drei Abschiedsbriefe hinterlassen: für Anemone, für Gitte … Sie schrieb, während sie den Haufen Tabletten schluckte. Jedes Mal, wenn sie eine Handvoll in den Mund steckte, spülte sie mit einem Rest des Orangensafts nach, den Jakob am Vortag gekauft, geöffnet und mit Wodka gemischt halb ausgetrunken hatte. Als sie begann, schläfrig zu werden, legte sie sich ins Schlafzimmer. Sie war beinahe bewusstlos, als sie anfing, sich zu übergeben, und damit die Wirkung der Medikamente verzögerte. Hätte ihr Magen den gesamten Inhalt bei sich behalten, wäre Gitte nicht rechtzeitig gekommen, um sie zu retten … aber dieses Detail wurde nie wieder erwähnt. Ebenso wie sich ihre Umgebung die meisten anderen Einzelheiten selbst zusammenreimen musste.

Merkwürdig, dachte Ursula jetzt. Sie hatte sich hundertprozentig darauf eingestellt, in jener Nacht zu sterben. Trotzdem war sie in gewisser Weise erleichtert, dass man sie rechtzeitig gefunden hatte. Der Instinkt, am Leben zu bleiben, war verblüffend. Schmerz und Kummer quälten sie noch immer, und wenn sie nicht Medikamente bekäme, hätte sie es möglicherweise sofort wieder versucht. Aber gerade in diesem Moment, mit ihren beiden Lieblingsfrauen an ihrer Seite – hatten sie etwa einen Wachtdienst eingerichtet? –, hatte sie das Gefühl, einigermaßen im Gleichgewicht zu sein. Und über eine Sache konnte sie sich zumindest freuen: Den Brief an ihre Eltern hatte man ungeöffnet und ungelesen in den Müll geworfen. Die beiden alten Menschen ahnten nicht, was passiert war, und würde es nach Ursula gehen, sollten sie es auch nie erfahren.

Der Judaskuss

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