Читать книгу Der Seelenhandel - Anna Katharina Bodenbach - Страница 18

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Alles begann vor ungefähr tausend Jahren in dem kleinen Ort Lindenberg. Damals war es noch keine Stadt so wie heute, sondern bestand nur aus einem Dutzend Bauernfamilien, die sich dort niedergelassen hatten. Trotz der langen Zeit zwischen heute und damals hatten die Ereignisse von einst einen Stein ins Rollen gebracht, der später eine Lawine losriss.

Einige unglückliche Umstände führten dazu, dass es heute erneut zu Morden kam. Die Vergangenheit spielte eine große Rolle in Laras Gegenwart und Zukunft. Deswegen durfte sie keinesfalls außer Acht gelassen werden – hier hatte alles seinen Anfang.

Dieses Jahr war es so weit. Die nächste Generation sollte in der Mühle eingearbeitet werden. Besser gesagt Johanna sollte eine Müllerin werden. Sie würde lernen, wie man aus Korn Mehl herstellte, effizient arbeitete, ohne dabei die Qualität zu vernachlässigen, wie man eine Mühle betreibt und leitet. All dies sollte Johanna beigebracht werden. Ellen, die alte Müllerin und Johannas Mutter, wollte endlich Entlastung erfahren. Mittlerweile war sie schon dreiundfünfzig Jahre alt. Ein sehr hohes Alter für damals.

Die Zeit, ihre Schicksalsschläge und die harte Arbeit hatten Spuren hinterlassen. Ellen ging schon seit einiger Zeit gebückt. Ihr Rücken tat weh, auch ihre Gelenke schmerzten mit jeder Bewegung mehr. Es würde nicht mehr lange dauern, dann müsste sie am Stock gehen. Das graue Haar fiel ihr strähnig ins alte, faltige Gesicht. Ihr Blick war ernst geworden und der Ausdruck ihrer Augen abwesend, fast gleichgültig. Die Augäpfel lagen tief in ihren Höhlen, die Wangen waren eingefallen. Doch im Kopf war Ellen noch völlig klar. Es war nur ihr Körper, ihre Hülle, die langsam aber sicher zerfiel. Sie spürte, dass ihre Zeit, diese Welt zu verlassen, bald gekommen war. Ellen wusste, dass es nun so weit war, ihrer Tochter noch alles Lebenswichtige mit auf den Weg zu geben. Auf Johannas eigenen Weg. Den Lebensweg ihrer einzigen Tochter.

Traurig stand Ellen vor der Mühle auf dem Plateau und schaute nach links, in Richtung Osten, wo jeden Moment die Sonne aufgehen würde. Die blaue Stunde war vorüber, während sich der Himmel rot färbte. Die ersten Vögel zwitscherten schon, eine leichte, warme Sommerbrise wehte über das Land hinweg. Bald würden sich die Blätter färben und den Herbst einläuten.

Die Mühle hinter ihr knarrte ein wenig, doch das tat sie fast immer. Für Ellen war dieses Knacken und Knarren beruhigend. Geradezu erholsam.

Zur selben Zeit in einem der Bauernhäuser unten am Bach:

Johanna war zu einer wunderschönen Frau herangereift. Sie fühlte sich noch wie ein Kind und wusste nicht, was sie auf die Welt um sich herum ausstrahlte. Innerlich war sie noch ein Sprössling: klein, sanft und zart. Wunderschöne große, braune Augen und ein süßes Lächeln, damit konnte sie jeden bezaubern.

Wie ein Engel lag Johanna oben auf ihrer Schlafstätte und dachte nach. Sie lag auf dem Bauch, der Kopf war durch ihre Hände unter dem Kinn abgestützt. Das Haar fiel ihr lang und glatt über den Rücken. Die Beine hielt sie angewinkelt und wippte sanft mit ihnen hin und her. Draußen zwitscherten die Vögel und sangen ihre schönsten Sommerlieder. Die aufgehende Sonne schien durch das Fenster und tauchte den Raum in warme, leuchtende Farben.

Der Tag brach an, und Johannas Gedanken schweiften umher: Dreizehn! Morgen bin ich endlich erwachsen! Das wird das erste Jahr sein, in dem ich meiner Mutter in der Mühle helfen darf.

Manchmal tut sie mir wirklich leid. In solchen Momenten habe ich nicht mehr das Gefühl, meine Mutter vor mir zu sehen, sondern eine arme, alte Frau. Dann habe ich ein richtig schlechtes Gewissen, wenn ich sie beim Arbeiten beobachte. Sie ist immer für uns beide arbeiten gegangen. Nie durfte ich helfen. Nie! Ich habe immer nur zu hören bekommen: »Du bist noch zu jung, Schatz.« Oder: »Deine Knochen sind noch nicht stark genug.« Doch ab morgen ist alles vorbei. Nie wieder Kartoffel- oder Gemüseernten auf den Nachbarhöfen, sondern eine Müllerin werden wie meine Mutter.

Ab und zu werde ich natürlich auch ernten helfen, wir sind ja irgendwie eine große Familie. Na ja, nur meine Mutter ist so stur und will sich partout von keinem helfen lassen. Ab morgen jedoch wird alles anders!

Johanna atmete tief durch und schaute aus dem Fenster hinaus. Ihre Gedanken wanderten weiter: Morgen ist endlich mein großer Tag. Dann darf ich das erste Mal richtig arbeiten. Ich werde erwachsen sein. Erwachsen. Das wird schön!

Ein Lächeln huschte über Johannas Gesicht, weshalb sich ihre Wangen leicht röteten. Mit der rechten Hand strich sie sich eine Haarsträhne nach hinten. Sie war voller Energie und Tatendrang.

Dann habe ich eine sinnvolle Aufgabe, die von allen anderen geachtet wird. Doch werde ich das alles schaffen?

Johanna grübelte eine Weile nach, bis ein Vogel vor ihrem Fenster landete und die Gedanken mit seinem Gesang unterbrach. Sie sogar kurz zerstreute.

Warum mache ich mir solche Gedanken an so einem schönen Tag? Gedanken und Fragen, die ich ohnehin nicht beantworten kann. Lieber sollte ich rausgehen, den neuen Tag willkommen heißen, genießen und nicht meinen Gedanken nachhängen.

Johanna zog ihr Nachthemd aus und legte es ordentlich auf den Holzstuhl neben ihrer Schlafstätte. Im Sommer schlief sie mit ihrer Mutter immer auf dem Dachboden unter den geöffneten Dachluken, und im Winter machten sie es sich unten in der Wohnstube am Feuer gemütlich.

Sie begann, ihr Kleid anzuziehen. Ihre Mutter hatte es aus Leinenstoff genäht. Zum Schluss band sie sich ihre Schürze um und fixierte sie mit einer eleganten Schleife am Rücken. Stolz und voller Vorfreude auf den morgigen Tag schaute sie an sich hinunter und strich das Kleid glatt.

»Oh nein! Die Schürze ist ja total dreckig. Ich habe ganz vergessen, sie auszuwaschen. Da sind ja immer noch die Lehmflecken drauf«, bemerkte Johanna bei einem Blick hinab. Sie schaute auf ihr anderes, ihr neues Kleid, das für den morgigen Tag bestimmt war. Für die Arbeit in der Mühle. Weiß, rein und makellos.

Kein gebleichtes Weiß, wie man es heute kennt. Heute würde man dazu grau sagen, doch damals – da war es weiß. Ihre Mutter hatte es für sie angefertigt.

Johanna überlegte kurz, ob sie das neue Kleid schon anziehen sollte, aber entschied sich dann dagegen. Sie kannte ihr Geschick und wusste, dass das Kleid draußen nicht lange so hell und sauber bleiben würde.

Gut gelaunt und unbeschwert lief sie kurze Zeit später auf der gepflasterten Hauptstraße durch den Ort. Die Häuser, an denen sie vorüber kam, waren alt. Das Fundament und die Grundmauern aus Stein. Der Aufbau darauf aus Holz und die Dächer gedeckt mit Stroh.

Am Rand des Dorfes standen die Häuser nicht mehr so dicht beieinander. In den großen Abständen zwischen ihnen waren Lagerhäuser, Scheunen und Ställe errichtet worden, welche gebraucht wurden. Die gepflasterte Straße endete außerhalb des Dorfkerns. Je näher man wiederum dem Dorfplatz kam, desto enger standen die Wohnhäuser beieinander. Die Seitengassen wurden schmaler, und die gepflasterte Hauptstraße in Richtung Dorfmitte hob sich deutlich von den anderen ab. Die Abzweigungen bestanden einfach nur aus getrampelten Lehmpfaden.

Johanna grüßte die Leute hier und dort, streifte durch die Gegend und erfreute sich ihres Lebens. Sie atmete tief durch. In der Luft lag der Geruch von frischem Korn und Stroh, der ihr sagte: Die Ernte hat begonnen. Je näher sie dem Dorfplatz kam, desto lauter hörte man die Schläge vom Dreschen. Sie dröhnten durch die Gassen. Immer klarer, bis Johanna den runden Platz erreichte. Viele Leute störte der Krach, doch es war notwendig, um zu überleben.

Bis zum nächsten Jahr hatten sie vor, oben auf dem Plateau einen Kreis zu pflastern, in dem das Korn gedroschen werden konnte. Um sich viel Arbeit zu ersparen, würde der Wind alles Übrige wegwehen und nur die kleinen, sauberen Körner zurücklassen. Somit musste man nur noch dreschen, einen Tag warten und hätte die Körner direkt neben der Mühle bereitliegen. Perfekt.

Dreschen, das wäre keine Arbeit für mich; viel zu laut und mühselig, dachte Johanna.

Der Dorfplatz wurde für alle gemeinschaftlichen Aktionen verwendet, wo oft zusammen gekocht, gegessen und später am Abend getrunken und gelacht wurde. Für jedes Fest konnte der Dorfplatz und das angrenzende Gemeinschaftshaus, das wie ein Unterstand aus Holz aussah, genutzt werden. Das Gemeinschaftshaus wirkte wie ein großes Dach, unter dem man die Mauern vergessen hatte. In der Mitte protzte eine Feuerstelle, dort konnte gekocht werden. Über dieser hingen eiserne Haken, die Thomas, der Schmied, angefertigt hatte, um die Töpfe und Kessel aufzuhängen.

Doch das war noch nicht alles, was sich unter dem Dach befand. An den massiven Holztischen und Bänken fanden alle Dorfbewohner Platz. Wenn es Abstimmungen gab oder einfach nur gefeiert wurde, versammelten sich alle hier.

Als Johanna einen Blick hinein erhaschen konnte, sah sie, dass einige Frauen dort am Schmücken und Vorbereiten waren. Wahrscheinlich für ihre Geburtstagsfeier am heutigen Abend. Bei ihnen war es Brauch, in den Geburtstag hineinzufeiern, anstatt am Geburtstag selbst ein Fest auszurichten. Leider konnte Johanna durch die lauten Schläge vom Dorfplatz hinter ihr kein Wort der Frauen verstehen.

Auf den Tischen standen Blumen, Tonbecher und Schalen. Brote, Fleisch und Käse wurden auf jedem Tisch gleichmäßig verteilt.

In Richtung Weiden und Felder führte sie ihr Weg an diesem Morgen aus dem Dorf hinaus. Mit jedem Schritt wurden die Schläge vom Dreschen leiser, bis sie ganz verstummten. Dennoch war es nicht still um sie herum. Man hörte die Vögel singen, die Grillen zirpen, die Schafe, die Kühe – alle Tiere nahm Johanna auf einmal wahr. Es waren nicht nur die Tiere, die sie vernahm. Johanna meinte, die Energie der Natur spüren zu können. Der Wind in ihrem Haar und wie er in den Bäumen raschelte. Die Sonne auf ihrer Haut und die Wolken, wie sie über den Himmel zogen und die Fantasie anregten, indem sie vermeintliche Bilder formten.

Johanna lief immer weiter auf dem Pfad, der zwischen den Feldern entlangführte. Bis hin zum Waldrand.

Dort drehte sie sich um und schaute in Richtung Berg, Richtung Norden. Tief sog sie die warme, trockene Luft ein und ging langsam dabei rückwärts. Mit jedem Schritt vermischte sich die reine, trockene Luft mehr und mehr mit dem feuchten, modrigen Waldgeruch. Dem Geruch von Moos, Regen und Laub. Auch der Boden unter ihren Füßen veränderte sich. Er war nicht mehr so hart und steinig. Mit jedem Schritt mehrte sich das weiche Laub wie eine Decke.

Johanna begann nachzudenken. Ihr schossen viele Fragen durch den Kopf: Wird mein Leben morgen noch genauso sein wie heute? Werde ich auch so sein wie die anderen Leute, die arbeiten und erwachsen sind? Sie verfallen in Stress, obwohl man die Arbeit und das Leben auch stressfrei bewältigen kann. Ob man sich Stress macht oder nicht, man braucht immer dieselbe Zeit. Sind die Anforderungen auch nicht zu hoch für mich? Schaffe ich das alles? Was hat das Leben bloß für einen Sinn? Wir arbeiten, wir leben und wir sterben, doch wozu?

Immer mehr Fragen schossen ihr durch den Kopf. Johannas Leichtigkeit und der Frohsinn schlugen auf einmal in leichte Depressionen und in Ängste um. Ängste, mit denen sie vorher noch nie zu kämpfen hatte, die sie nicht einmal kannte. Mit ernster Miene stand sie da. Bis ein frischer Wind aufkam, Johanna über die Wangen strich und ihr ein ungezwungenes Lächeln auf das Gesicht zauberte. Die Haare wurden ihr aus dem Gesicht heraus nach hinten geweht.

Sie schloss die Augen und holte noch einmal tief Luft: Ich bin ein freier Mensch. Ich bin nicht wie die anderen oder wie sie mich gerne hätten. Mir geht es gut. Ich bin gesund, das ist das Wichtigste. Ich bin voller Tatendrang. Ich will und werde arbeiten, und ich weiß, ich werde gut sein. Denn ich bin mir sicher, wenn man nur fest daran glaubt, kann man alles schaffen.

Der Wind wehte durch die Felder. Er schlug Wellen wie auf einem See. Johanna schaute auf und beobachtete, wie sich die ersten Esel mit Kornsäcken auf dem Rücken hoch zur Mühle quälten. Weiter schweifte ihr Blick den Berg hinauf.

Doch was war das? Dort stieg Rauch auf. Das Lächeln verschwand schlagartig aus ihrem Gesicht.

»Mutter!«, schrie Johanna laut und rannte los. So schnell sie konnte, wollte sie auf den Berg hinter dem Dorf gelangen, zur Mühle, zu ihrer Mutter. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was ist passiert? Sind wir überfallen worden? Woher kommt der ganze Rauch? Brennt die Mühle? Wo ist meine Mutter, und was würde nur aus uns ohne die Mühle, ohne das Mehl werden?

Unvorsichtig rannte Johanna, so schnell sie konnte, den Weg entlang, um zu ihrer Mutter zu gelangen. Dabei trat sie auf spitze Steine und Äste, die in ihre Fußsohlen schnitten, sodass diese bluteten. Doch in diesem Moment fühlte sie keine Schmerzen. Nur ein Gedanke trieb sie an: Mutter!

Johanna hatte den Eindruck, sie würde ewig laufen. Der Weg mit seinen Biegungen wollte einfach kein Ende nehmen. Sie rannte und rannte, so schnell sie konnte. Johanna hatte jedoch das unangenehme Gefühl, nicht von der Stelle zu kommen. Es war wie in einem dieser Träume, indem man um sein Leben rennt und einfach nicht vorankommt.

Hurtig sprintete sie an den Häusern, den Stallungen, dem Dorfplatz und der Schmiede vorbei. Die meisten Leute schauten sie nur merkwürdig an, als sie an ihnen vorbeirannte. Andere nahmen keine Notiz von ihr. Nur der Schmied Thomas sprach sie an. Ein großer, schwerer Mann mit einem dunklen Vollbart, der teilweise vom Ruß geschwärzt war wie seine Haut. Er hatte lange Haare, die er bei der Arbeit zu einem Zopf zusammenband. Hin und wieder fielen sie ihm strähnig und ungepflegt ins Gesicht, wenn er sich über seinen Amboss lehnte. Thomas stand draußen und hielt einen großen Korb mit Feuerholz in den Armen. Er war der Einzige, der mit kräftiger Stimme fragte: »Was ist passiert?«, als er Johanna rennen sah. Doch diese hatte weder Zeit noch Atem, um zu antworten.

Der Weg zum Berg kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Am Fuße des Berges angekommen, war sie bereits total außer Atem. Ihr Sichtfeld begann, an den Rändern schwarz zu werden. Es verengte sich so, als hätte ihr jemand Scheuklappen angelegt. Doch in Gedanken spornte sie sich weiter an: Nur noch den Berg rauf, nur noch den Berg! Dann weiß ich endlich, was passiert ist.

Schritt für Schritt machte sie sich an den mühseligen Aufstieg. Dabei kam sie immer wieder ins Taumeln. Der Weg war schmal und ihre Beine schwer. Jeder Meter bereitete ihr durch die verletzten Füße, die sie erst jetzt bemerkte, Schmerzen. Ihr Körper zitterte. Wegen des Blutes blieb das Laub unter ihren Füßen kleben und legte sich wie ein komischer Flaum darunter. Es kam Johanna so vor, als würde der Berg immer größer und sie hingegen immer kleiner und schwächer. Ihr Kopf begann zu pochen und schmerzte, die Gedanken überschlugen sich.

Endlich sah sie das Ende des Weges wie in Trance vor sich. Es waren nur noch ein paar Meter bis zu der Stelle, wo der Anstieg endete und das Plateau begann, auf dem die Mühle stand.

Dichte Rauchschwaden zogen noch immer hoch in den Himmel. Sie standen vor ihr wie eine schwarze Säule des Unheils. Die letzten Schritte wurden zur Qual, die Knie weich, welche das Gewicht nicht mehr länger tragen wollten. Kraftlosigkeit und Erschöpfung durchdrangen ihren Körper. Jedes Mal, wenn einer ihrer Füße den Boden berührte, kam es ihr so vor, als würde sie auf ein Nagelbrett treten. Sie empfand nur noch quälende Schmerzen. Die wackeligen Knie gaben nun völlig nach, und Johanna sackte so kurz vor ihrem Ziel zusammen. Schwer atmend lag sie im Laub. Ihre Hand griff nach oben, um sich weiterzuziehen, doch sie blieb regungslos liegen.

Schweißperlen bedeckten ihre Stirn, gleichzeitig bebte ihr ganzer Körper. Johannas Brust hob und senkte sich gleichmäßig, jedoch in viel zu hoher Frequenz. Trotzdem hatte sie das bedrückende Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen und zu ersticken. Der Druck, welcher auf ihrer Brust und ihrem Kopf lag, machte sie wahnsinnig.

Ich muss weiter! Ich muss unbedingt weiter! Es sind nur noch ein paar Meter bis zum Plateau. Das werde ich doch schaffen. Ich muss es schaffen. Ich muss wissen, was passiert ist. Muss zu meiner Mutter. Muss wissen, ob sie noch lebt. Wie viel Schaden die Mühle genommen hat. Wie konnte so was nur passieren? Vor allem was? Los, Johanna! Reiß dich zusammen und kämpfe! Erkämpfe dir die letzten Meter, du schaffst das schon! Auf!

»Hoch jetzt!«, die letzten Worte sprach sie laut aus, doch es hatte keinen Zweck. Regungslos blieb sie auf dem Rücken liegen, alle viere von sich gestreckt. Die Augen geschlossen, schwer atmend.

Ganz langsam sammelte sich neue Kraft in ihrem Körper, um die letzten Meter zu überwinden. Johanna schlug die Augen auf und sah in den strahlend blauen Himmel. Über ihr wiegten sich die Blätter der Bäume raschelnd im Wind. Es ging so viel Ruhe und Frieden von diesem Moment aus, dass sie daraus neue Kraft schöpfen konnte. Noch einmal atmete sie tief durch. Ihre Brust hob und senkte sich leicht wie eine Feder. Der Druck war von ihr genommen worden. Johanna rollte sich auf den Bauch. Auf allen vieren krabbelte sie zum Plateau hoch. Die letzten Zentimeter robbte sie.

Oben angekommen richtete sie sich auf, um die Lage einzuschätzen. Schnell ließ sie sich bei dem, was sie sah, wieder zurück ins Gras fallen. Ihr Herz raste. Die Wiese dort oben war etwa kniehoch, man konnte sich gut darin verstecken. Die Hochebene war komplett grasbewachsen. Neben der Mühle führte eine Holzbrücke über den Bach. Nördlich, hinter der Mühle, befand sich der Mühlweiher. Der Weg für die Eselskarren schlängelte sich in langen Schleifen den Berg hinauf. Die Karren und Esel brachten das Korn und holten das Mehl. Stets wurde darauf geachtet, dass der Pfad hindernisfrei blieb. Vereinzelt zierten ein paar Bäume das Plateau, doch das Landschaftsbild wurde hauptsächlich von dem kniehohen Gras geprägt.

Johanna legte sich ganz flach hin und neigte in Gedanken ihren Kopf hin und her. In der Hoffnung, dass sie keiner gesehen hatte, rollte sie sich vorsichtig auf den Rücken und versuchte, einfach nur still zu liegen und dabei ruhig zu werden. Sie strebte eine Flucht an. Erst einmal liegen bleiben und Kraft sammeln, dann wollte sie langsam in Richtung Wald kriechen und erst im Schutz der Bäume aufstehen. Das war ihr Plan. Johanna fühlte sich total elend.

Oh mein Gott! Wie peinlich ist das denn? Ich mache mir die größten Sorgen, dass die Mühle brennt, dass wir überfallen worden sind und dass meine Mutter vielleicht um ihr Leben kämpft oder tot sein könnte. Aber nein, stattdessen stehen sie und Markus putzmunter und quicklebendig da und machen Feuer!

Markus war der älteste Sohn von Thomas, dem Schmied. Er sah seinem Vater kaum ähnlich. Mit seinen sechzehn Jahren war er groß, schlank und hatte schulterlange, gepflegt aussehende Haare. Fast sah er ein bisschen mager aus. Durch seine femininen Züge wirkte er sehr zerbrechlich.

Das Feuer bestand aus abgestorbenen Ästen und umgekippten Bäumen, die dem Wind auf der Hochebene nicht mehr standgehalten hatten. Somit schafften sie den Weg zu der Mühle frei und schufen einen Lagerplatz für die Kornsäcke. Der war vonnöten, wenn die Erntesaison erst richtig losging.

Johanna setzte sich noch einmal auf, um die Lage zu sondieren. Ellen, ihre Mutter, schürte das Feuer und warf alle Äste, die sie finden konnte, hinauf auf den brennenden Holzberg. Viele der Äste waren noch feucht, was die Rauchschwaden erklärte. Unter anderem lagen frisch geschlagene Äste mit grünen Blättern auf dem Haufen, die erst langsam von den züngelnden Flammen getrocknet wurden. Es waren die Äste, welche den Eseln den Aufstieg erschwert hätten.

Markus stand vor der Mühle und war dabei, mit einer Sense das hohe Gras zu stutzen. Alles lag friedlich und ohne jegliche Spur von Verwüstung vor ihr: die Mühle, wie sie groß und stolz über das Gelände ragte, der Bach, der neben ihr entlang plätscherte, und die kleine Brücke, die darüber führte.

Schnell hastete Ellen über die Brücke, um weiteres Holz herbeizuschaffen. Alles Holz, was unbrauchbar war, wurde verbrannt. Ellen sah dabei aus wie eine kleine Hexe, die um das Feuer tanzte und irgendwelche Beschwörungen vor sich hin murmelte.

Johanna musste bei dem Gedanken kichern.

Als Ellen auf dem Rückweg über die Brücke war, mit neuem Brennstoff für ihren Flammenberg unter dem Arm, schaute sie genau in Johannas Richtung. Direkt in ihr Gesicht. Ein Lächeln machte sich auf Ellens Antlitz breit.

»Hallo, Schatz! Komm doch rüber und leiste uns Gesellschaft, wenn du willst. Andererseits könntest du auch mit anpacken, wenn du schon einmal hier oben bist!« Sie rief so laut, dass selbst die Vögel in der Umgebung vor Schreck aufflatterten.

Am liebsten wäre Johanna in diesem Moment vor Scham im Boden versunken. Dennoch ging sie stolz zu ihnen hinüber. Ihre Füße schmerzten, doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie kam sich so furchtbar vor.

Am schlimmsten schmerzte es, wenn sie auf kleine Steine trat, die in der Wiese versteckt lagen. Johanna zuckte jedes Mal zusammen. Doch ihre Scham war so groß, dass sie sich unter keinen Umständen etwas anmerken lassen wollte.

»Markus! Komm bitte mal her!«, rief Ellen.

Augenblicklich ließ dieser alles fallen und trottete zu den beiden Frauen.

Ellen sprach in einem bedächtigen Ton weiter, als Markus vor ihnen stand: »Das ist meine Tochter Johanna. Kenn ihr euch schon?«

»Dass man sich in einem so kleinen Ort nicht kennt, ist unmöglich«, murmelte Johanna vor sich hin, sodass Ellen sie mit ihren alten Ohren nicht verstehen konnte.

Markus Gehör schien jedoch hervorragend zu funktionieren, denn er musste unweigerlich grinsen.

Unbeirrt redete Ellen weiter: »Johanna, das ist Markus. Der Sohn von Thomas, dem Schmied. Ich habe ihn eingestellt, damit er dir bei der Arbeit zur Hand gehen kann. Ich weiß, du bist ein starkes Mädchen, ab heute Nacht erwachsen, und du würdest es alleine schaffen. Aber ich möchte nicht, dass du zu schwer arbeitest, so wie ich es getan habe. Er kann dir bei den groben Sachen helfen, wie zum Beispiel das Aufstapeln der Mehlsäcke oder das Hochtragen der Kornsäcke. Zudem kann er die Karren noch abladen und wieder beladen. Dir wird sicherlich immer eine sinnvolle Aufgabe für ihn einfallen. Wenn ich dann sehe, dass ihr zwei ohne mich zurechtkommt, werde ich mich zurückziehen und der neuen Generation die Mühle überlassen. Dann kümmere ich mich nur noch um das Haus und den Hof, koche mit den anderen, mache die Wäsche und halte alles sauber. Vielleicht lege ich einen kleinen Gemüsegarten an. Hoffentlich wird es mir nicht allzu langweilig werden. Ach, ich schweife schon wieder ab.« Ellen rollte mit den Augen und band ihre Haare neu zusammen, die sich durch die Arbeit aus dem Zopf gelöst hatten.

In den letzten Jahren sind ihre Haare immer grauer geworden, dachte Johanna, als sie ihre Mutter dabei beobachtete.

Oh, meine Füße schmerzen so sehr, ich hoffe, das hier dauert nicht mehr lange, sodass ich nach Hause humpeln kann, um die Wunden zu versorgen. Ich darf mir jetzt bloß nichts anmerken lassen. Diese Blöße will ich mir nicht geben. Das Bisschen halte ich jetzt auch noch durch!

Total in ihrer eigenen Gedankenwelt versunken stand Johanna da, wie eine leere Hülle.

»Johanna, Johanna?«, hallte es aus weiter Ferne zu ihr. Ellen war es, die sie anstupste und fragend betrachtete. »Kind. Hast du mir zugehört? Oder warst du mit deinen Gedanken in irgendwelchen Traumwelten?«

Johanna schüttelte den Kopf und schaute ihre Mutter entgeistert an.

»Oder hast du etwa Markus angehimmelt?«, grinste Ellen und stieß sie mit dem Ellenbogen an.

»Ja«, sagte Johanna gedankenverloren. Dann verstand sie erst, was sie da eben gesagt hatte und wurde hektisch. »Nein, Mutter!«, korrigierte sie sich selbst und schüttelte heftig den Kopf. »Ich habe dir die ganze Zeit zugehört. Und nein. Ich habe Markus nicht angehimmelt. In Traumwelten war ich auch nicht unterwegs. Ich habe dir wirklich die ganze Zeit über zugehört«, log Johanna mit gesenkten Lidern, nicht wirklich überzeugend. Ihr Blick wanderte über den Boden und fixierte mal hier und mal dort ein paar Blätter oder Gräser. Dabei merkte Johanna gar nicht, dass sie sich auf die Unterlippe biss, um den Schmerz zu unterdrücken. Ihr entging auch, dass Markus sie die ganze Zeit mit zur Seite geneigtem Kopf angrinste. Johanna war kreidebleich und sah gar nicht gut aus.

»Schatz, ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Ellen besorgt. »Du siehst so blass aus. Tut dir irgendetwas weh? Geht es dir nicht gut? Oder willst du morgen noch gar nicht mit der Arbeit beginnen? Ist dir am Ende alles zu viel und du magst noch nicht erwachsen werden?«

Johanna schüttelte den Kopf und schaute auf. Markus stand nicht mehr bei ihnen. Sein Gehen war ihr nicht bewusst aufgefallen. »Nein, Mutter, es ist nichts. Ich freue mich total auf morgen. Alles ist bei mir in bester Ordnung. Wahrscheinlich liegt es einfach daran, dass ich heute noch nichts Richtiges gegessen habe«, antwortete Johanna und versuchte zu lächeln, was ihr irgendwie nicht richtig gelang. »Ich freue mich wahnsinnig auf morgen. Wirklich! Dann kommst du endlich zur Ruhe, und ich kann mich um uns kümmern. Du hast dein ganzes Leben geschuftet, jetzt bin ich an der Reihe. Glaub mir, Mutter, du wirst von mir nicht enttäuscht werden. Ich gebe mir die größte Mühe, dass alles weiterhin so prächtig läuft.« Jetzt gelang Johanna ein ehrliches Lächeln.

Liebevoll streichelte Ellen ihrer Tochter durch das Haar und flüsterte in ihr Ohr: »Das bezweifle ich in keiner Sekunde, dass du das richtig gut hinbekommen wirst. Du bist so voller Tatendrang wie dein Vater. Auch wenn du dich nicht an ihn erinnern kannst, wirst du ihm immer ähnlicher, das gefällt mir.«

»Markus!«, rief Ellen jetzt wieder so laut, dass Johanna vor Schreck zusammenzuckte. Er stand am Ufer in der Nähe der Brücke und stutzte gerade das Gras der Böschung.

»Könntest du bitte zuerst die Wiese vor der Mühle mähen? Da sollen heute Abend schon die ersten Kornsäcke gelagert werden. Das hat jetzt Vorrang.«

Markus nickte kurz und machte sich an die Arbeit.

Nun wandte sich Ellen wieder ihrer Tochter zu. »So, mein Sonnenschein, jetzt lauf nach Hause und ruhe dich aus! Morgen wird ein anstrengender Tag für dich werden, und ich möchte, dass du fit bist. Heute Abend brauchst du noch ein bisschen Kraft für deine Geburtstagsfeier, damit du morgen trotzdem frisch und ausgeruht in den Tag starten kannst. Am besten schläfst du schon mal ein bisschen vor, und vergiss nicht, etwas zu essen! Dein Vater war auch immer zu faul zum Essen. Doch eins merke dir jetzt schon, erledige deine Arbeit nicht mit Hast und Eile, sondern mit Bedacht und Sorgfalt, dann hast du weniger Stress, Fehler auszubügeln, und das Mehl wird einfach besser. Die Qualität ist das entscheidende, nicht die Menge. Los, mach dich ab, meine Große! Wenn du willst, kannst du dich ja schon mal waschen und …« Ellen brach kurz ab und seufzte. »Ach, du bist alt genug, um zu wissen, was du machst, und ab morgen bist du eine richtige Frau. Ich liebe dich, mein Engel, und du wirst für mich immer meine Kleine bleiben.«

Johanna bekam von ihrer Mutter einen Kuss auf die Stirn gedrückt, während Ellens Hände ihre Wangen streichelten. Normalerweise war es Johanna immer peinlich, wenn Ellen so etwas tat, aber hier oben konnte es ja keiner außer Markus sehen. Und der war so mit der Handhabung seiner Sense beschäftigt, dass er noch nicht einmal den Einschlag eines Kometen mitbekommen hätte.

Ellen wischte sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel.

Johanna nickte kurz und lächelte ihre Mutter an.

Diese ging wieder in Richtung Feuer, und Johanna schaute ihr zufrieden nach.

Plötzlich hörte sie rechts neben sich etwas rascheln. Johanna schielte zur Seite. Unvermittelt stand Markus wieder neben ihr und grinste sie verschmitzt an. Johanna wurde rot und fragte in genervtem Ton: »Was ist?«

Aber Markus grinste einfach nur weiter und schaute sie an. Sein Haar glänzte in der Sonne.

»Was?«, frage Johanna energischer und lächelte.

»Du bist wunderschön, weißt du das?«, stammelte Markus und wurde so rot, dass seine Sommersprossen unter dem Rot fast verschwanden.

»Ja? Findest du?«, fragte Johanna überrascht und richtete sich voller Stolz auf. Den Kopf hoch und die Brust raus.

Markus sprach weiter: »Ja, finde ich. Ich habe heute Abend eine ganz besondere Überraschung für dich geplant. Eine Art Geburtstagsgeschenk.«

»Was denn für ein Geschenk?«, fragte Johanna neugierig.

»Da musst du schon bis heute Abend warten«, antwortete Markus knapp. Dann drückte er ihr einen Kuss auf die Wange und ergriff schnell die Flucht, zurück zu seiner Arbeit.

Auf einmal merkte Johanna ihre schmerzenden Füße wieder, die sie fast vergessen hatte. Sie ging vorsichtig zum Waldrand zurück, wo der beschwerliche Abstieg hinunter ins Dorf auf sie wartete. Die Wunden an ihren Füßen brannten höllisch, und jeder Schritt brachte sie ein Stückchen weiter in die harte Realität zurück.

Verdammt tun meine Füße weh! Doch ich werde mir auf den letzten Metern nichts anmerken lassen. Bis jetzt habe ich es so gut durchgestanden. Nur noch ein paar Meter bis in den Wald hinein, dann habe ich es hinter mir.

Mit zusammengebissenen Zähnen stolzierte sie auf den Waldrand zu und erreichte diesen mit letzter Kraft. Noch einen Schritt – und es war geschafft. Nun befand sich Johanna wieder außer Sicht- und Hörweite ihrer Mutter und von Markus. Endlich verdeckte sie das dichte Blattwerk der ersten Bäume.

Ich muss unbedingt die Wunden reinigen und verbinden, damit sie sich nicht entzünden und ich heute Abend hoffentlich schmerzfrei zu meinem eigenen Geburtstag gehen kann. Manchmal bin ich wirklich ein Depp. Aber Egal. Was mir Markus wohl für eine Überraschung bereiten will? Ach je, warum bin ich immer nur so neugierig? Es ist eine Last. Ich habe absolut keine Idee, was es sein könnte, und das macht mich wahnsinnig.

Ihr Blick schweifte umher und fiel auf den plätschernden Bach ganz in der Nähe. Mühsam schleppte sie sich zu seinem Ufer hinunter. Dort angekommen streckte sie ihre brennenden, pochenden Füße in das eiskalte, klare Bergwasser. Die Erleichterung war groß, als ihre Füße das Wasser berührten. Ihre verhärteten Gesichtszüge entspannten sich wieder. Johanna legte ihren Kopf in den Nacken und seufzte erleichtert: »Ah, das tut gut!«

Sie atmete tief durch und schloss die Augen. Ihr Geist und ihr Körper konzentrierten sich nicht mehr auf den Schmerz, sondern machten eine Wanderung durch die Umgebung. Der warme Wind auf ihrer Haut und der Gesang der Vögel beruhigten Johanna, und sie vergaß all ihre Qualen. Der Gedankenstrom riss ab. Auf einmal gab es nur noch sie und die Umgebung, sonst war alles verschwunden. Wie in ein dunkles Loch gesickert. In ihrem Kopf herrschte angenehme Leere. Die Sonnenstrahlen, welche durch das Blätterdach der Bäume fielen, wärmten ihre Haut. Eine leichte Brise wehte durch Johannas Haar. Es war ein absoluter Moment der Ruhe und Entspannung.

Dieser Moment gab ihr neue Kraft. Unter ihren Händen raschelte das Laub. Ganz entspannt lehnte Johanna den Kopf wieder nach vorne und öffnete die Augen, schaute sich nochmals um und wollte dann ihre Füße begutachten. Als Erstes hob sie ihren rechten Fuß auf das linke Knie und begann, feinsäuberlich alle Stacheln und Steine aus ihrer Fußsohle zu zupfen. Dasselbe tat sie dann mit dem rechten Fuß. Danach schaute sie sich um, bis ihr eine Idee kam. Schnell zog sie ihre Schürze aus und zerriss sie in Streifen.

Sobald ich arbeite, werde ich mir eine neue kaufen können. Vielleicht merkt meine Mutter bis dahin gar nicht, dass sie fehlt oder zerrissen ist.

Nun nahm sie erneut den rechten Fuß als erstes aus dem Wasser und umwickelte ihn mit den Stoffstreifen. Auf dem Fußrücken band sie diese zusammen. Als der Stoff die ganze Fußsohle bedeckte, legte sie zur Polsterung zwischen die erste und die zweite Lage Laub vom Boden. Das sollte ihre Füße auf dem Weg nach Hause schonen. Als alles fertig verbunden war, stand sie auf und machte vorsichtig ein paar Schritte.

Es zwickt zwar noch ein bisschen, aber so werde ich den Weg nach Hause schaffen, um dort alles richtig zu versorgen. Am besten ziehe ich heute Abend auf dem Fest meine Lederschuhe an. Es wird zwar ungewohnt sein, aber wohl das Beste.

Die Sonne stand hoch am Himmel, Johanna hatte noch jede Menge Zeit bis zum Abend. Dennoch war sie viel länger am Bach gewesen, wie anfangs vermutet. Schell machte sie sich auf den Heimweg. In Gedanken war Johanna schon bei der Feier des Abends, um sich von den Schmerzen, die noch geblieben waren, abzulenken. Sie rätselte leise vor sich hin, welche Überraschung Markus wohl für sie hatte. Doch solange Johanna auch darüber nachdachte, sie hatte keinen blassen Schimmer, was es für ein Geschenk sein könnte.

Markus war schon seit Jahren in Johanna verliebt, doch er wollte es nicht zugeben. Zuerst war es nur Freundschaft, doch dann wurde die Zuneigung immer mehr. Er konnte es nicht richtig definieren, doch seit ein paar Tagen wusste er, es war Liebe. Nicht nur seelisch fühlte er sich zu ihr hingezogen, sondern nun auch körperlich. Es war das erste Mal für ihn, dass er eine Frau auf diese Weise begehrte. Doch ob sie auch solche Gefühle für ihn hegte, war ihm unklar. Er hoffte es, auch wenn sie jünger war. Er wollte sie für sich gewinnen. Irgendwann einmal würde sie ihn vielleicht genauso wollen.

Endlich zu Hause angekommen legte Johanna ein paar Hölzer auf die Glut an der Feuerstelle im Haus. Das Feuer sollte neu entfachen. Sie wollte einige Kräuter aufkochen, um ihre Wunden noch einmal richtig zu versorgen. Der Scheit, den sie auf die Glut gelegt hatte, begann zu qualmen und entzündete sich nur wenig später. Johanna griff einen kleinen Kessel, der über der Feuerstelle hing, und ging damit hinaus zum Brunnen, um Wasser zu holen. Neben dem Brunnen stand immer ein Eimer bereit, an dessen Griff ein Seil befestigt war. Als sie den Eimer in den Brunnen hinunterließ, fing sie wieder an zu überlegen. So langsam wurde ihr klar, dass sie morgen erwachsen sein würde und sich ihr Leben für immer ändert. Sorgsam zog sie den Eimer, der sich bereits mit Wasser gefüllt hatte, wieder hoch und schwelgte weiter in Gedanken: Ich bin so aufgeregt wegen morgen. Erwachsen. Hoffentlich heißt das nicht, dass ich mir bald einen Mann suchen muss und Kinder in die Welt setze. Dann würde ich ja nur noch zu Hause sitzen und Hof und Kinder hüten. Nein, danke. Ich will lieber arbeiten.

Johanna verwarf die Gedanken. Es widerte sie irgendwie an. Ihre momentane Vorstellung vom Leben ließ es einfach nicht zu, dass sie vielleicht eine Hausfrau oder Mutter sein könnte.

Wozu überhaupt ein Mann? Ich komme sehr gut ohne Mann zurecht und meine Mutter auch. Für schwere Arbeiten habe ich Markus, und zu Hause möchte ich lieber mit meiner Mutter allein sein. Da würde ein Mann nur stören. Für einen Mann ist immer noch genug Zeit, wenn ich alt bin. Johanna schaute etwas verwirrt auf den mit Wasser gefüllten Holzeimer. Jetzt kam ihr wieder in den Sinn, was sie gerade eigentlich vorhatte. Schnell hob sie den Eimer hoch, füllte das Wasser in den Kessel um und eilte vom Garten zurück ins Haus.

Drinnen war das Feuer bereits am Lodern. Johanna hing den Kessel an den untersten Zahn, damit das Wasser schnell zu kochen begann. Sie warf die Kräuter hinein, dann hieß es warten, bis das Wasser kochen würde. Wenig später nahm sie den Kessel herunter und stellte den heißen Topf vorsichtig auf dem Boden ab.

Als das Wasser etwas abgekühlt war, säuberte sie gründlich ihre Wunden, die gar nicht mehr so schlimm aussahen. Zudem brannte es kaum noch, als sie mit dem Sud darüberstrich. Kurze Zeit später war alles versorgt und verbunden, und Johanna zog ihre Schuhe an. Es war ein komisches Gefühl, da sie außer im Winter immer barfuß lief.

»Ah, das tut gut. Keine Schmerzen mehr«, sagte sie laut und lehnte sich auf dem Stuhl in der Wohnstube zurück.

Johanna erschrak, als hinter ihr plötzlich die Tür in die Angeln fiel. Sofort drehte sie sich um. Wie eigentlich erwartet stand ihre Mutter schnaufend dort.

»Dieser Berg, dieser verdammte Berg. Mit jedem Tag habe ich das Gefühl, er wird höher, nur um mich zu ärgern. Bald schaffe ich mir einen Esel an, und dann reite ich nur noch überall hin«, schimpfte Ellen mit schmerzverzerrtem Gesicht und einer Hand im Rücken. Sie schleppte sich zu dem Stuhl neben Johanna und sank langsam auf ihm zusammen. Mit deutlicher Erleichterung atmete sie durch, streckte sich und lehnte sich dann entspannt zurück.

Johanna musste innerlich bei dem Gedanken an den Esel lachen. Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie ihre Mutter auf einem Esel überall hin ritt.

»Bist du am Kochen, Schatz?«, fragte Ellen verwundert und schaute zum Feuer. Zwanghaft versuchte sie dabei, ihre Gebrechen zu überspielen, und lächelte.

»Nein, ich habe nur etwas Wasser heiß gemacht, um … um …« Johanna stockte, denn ihr fiel so schnell keine gute Ausrede ein. Wie ihre Mutter wollte sie nicht, dass sich jemand um sie sorgte.

»Um was?«, hakte Ellen nach.

»Um … mein Kleid und einige andere Dinge zu reinigen«, rettete sich Johanna und grinste zufrieden.

»In Kräutersud? Welche Dinge? Wieso benutzt du nicht den Waschkessel? Du weißt genau, dass der hier nur für Essen ist …«

»Dinge eben«, gab Johanna zurück und zuckte mit den Schultern. Sie hoffte, das Gespräch so beendet zu haben.

Der Seelenhandel

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