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Vorwort von Dr. Reiner Ponschab

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Die objektive Wirklichkeit und die Wahrnehmung jedes Menschen sind keineswegs identisch. Im Fischernetz unserer Wahrnehmung bleiben bei jedem Menschen unterschiedliche Eindrücke hängen, weil Menschen dieses Netz abhängig von Vorerfahrungen, Vorbewertungen und Vorurteilen unterschiedlich knüpfen.

Die radikalen Konstruktivisten wie der Philosoph und Kommunikationswissenschaftler Ernst von Glasersfeld, der Biophysiker und Kybernetiker Heinz von Foerster und die Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela behaupten, jeder Mensch erfinde („konstruiere“) seine eigene Welt. Diese Wissenschaftler beschäftigen sich nicht mit der Frage nach dem Was (Gibt es eine Wahrheit?), sondern mit der epistemologischen Suche nach dem Wie (Wie nehme ich wahr?), also mit der Entstehung unserer Erkenntnis. Sie nehmen Abschied von der Annahme, es gebe eine absolute, dem Menschen erkennbare, objektive Wahrheit, und wenden sich ganz der Untersuchung zu, wie der Beobachter die Welt wahrnimmt. Heinz von Foerster fasst die Erkenntnisse dieser Wissenschaftler in seinem berühmten Satz zusammen: „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.“ Eine logische Folge so einer Wahrnehmungstheorie ist natürlich, dass auch die Erkenntnisse der Vertreter dieser Theorie nur ein subjektives Bild der Welt darstellen.

Wenn man einmal genauer betrachtet, was radikale Konstruktivisten neben ihrer Eigenschaft als Naturwissenschaftler verbindet, so ist es der Umstand, dass sie alle in anderen Ländern als ihren Herkunftsländern gelebt haben. So wurde beispielsweise Ernst von Glasersfeld in Österreich geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg ließen sich seine Eltern in Oberitalien nieder. Er wuchs dreisprachig auf (Deutsch, Englisch, Italienisch) und lernte im Schweizer Lyceum Alpinum Zuoz Französisch. Er studierte ein Semester in Zürich und ein Semester in Wien und sagte von sich, dass er nicht eine Muttersprache habe, sondern mehrere. Während des Studiums nahm er einen Job als Skilehrer in Australien an und lebte während des Zweiten Weltkriegs als staatenloser Ausländer in Irland. Seine Frau Isabel war Australierin mit britischer Mutter. Ist es ein Wunder, dass Menschen, die so viele unterschiedliche Kulturen erlebt haben, davon ausgehen, dass Menschen die Welt unterschiedlich sehen?

„Man muss die Welt nicht verstehen, man muss sich nur in ihr zurechtfinden.“ Offenbar hat auch ein Genie wie Albert Einstein, dem dieser Satz zugeschrieben wird, nicht an die objektive Wahrheit seiner Erkenntnisse geglaubt.

Wenn wir also einmal davon ausgehen, dass Menschen die Welt unterschiedlich sehen, dann gibt es unzählige Wirklichkeiten. Manche Menschen sind überzeugt, dass alle anderen die Welt so sehen müssten wie sie selbst. Das ist aber leider nicht so und zudem die Ursache zahlreicher Probleme. Ein Konflikt entsteht nämlich nicht aus der unterschiedlichen Wahrnehmung, sondern dadurch, dass man die eigene Realität (also die eigene subjektive Wahrnehmung der Welt) durchsetzen will. Wie aber kann man diese Klippe umschiffen? Um die eigene und die Sicht anderer Menschen zu verstehen, müsste man mehr über die unterschiedlichen Weltbilder erfahren können.

Eine Möglichkeit hierzu bietet das Enneagramm, das in der heute überwiegenden Anwendungsform als psychologisch-spirituelle Persönlichkeitstypisierung ein gutes Hilfsmittel sein kann, uns Klarheit über Werte, Ansichten, Einstellungen und Verhaltensweisen von Menschen zu liefern, damit wir uns selbst und andere besser verstehen. Das Enneagramm bietet uns zur Erklärung neun Gesichter der Seele an, also neun verschiedene Fischernetze der Wahrnehmung, die die unterschiedliche Sicht der Welt bestimmen.

Zum Enneagramm gibt es in der deutschen Literatur viele, teilweise sehr tiefschürfende, teilweise esoterisch-okkulte Bücher. Wer aber in einer ersten Begegnung mit dem Enneagramm vor allem eine verständliche Einführung und Anleitung zur praktischen Anwendung sucht, war bisher im Wesentlichen auf englisch-sprachige Literatur angewiesen. Die Verfasser dieses Buches haben den gelungenen Versuch unternommen, dem „Newcomer“ eine praxisorientierte Einführung in das Enneagramm anzubieten. Dadurch schließen sie die auf dem deutsch-sprachigen Buchmarkt existierende Lücke und gehen dabei konsequent von den Bedürfnissen des Neuankömmlings in der Welt des Enneagramms aus. Ihr ressourcenorientierter Ansatz verbindet Beruf, Selbstfindung und Spiritualität. Das Buch macht Menschen, die mit beiden Beinen im Leben stehen, neugierig, mehr über sich und andere zu erfahren. Dadurch fördert es das Verständnis für Verhaltensweisen, die sonst kaum verständlich wären.

Das Enneagramm ist für uns in dieser von den Autoren vermittelten Anwendung deshalb so wichtig, weil sie uns die Möglichkeit verschafft, sofort mit diesem „Werkzeug“ zu arbeiten. Wir erfahren etwas über den inneren Antrieb, der Menschen Kraft verleiht, und die innere Logik, an der sich ihr Denken, Fühlen und Handeln ausrichtet. Außerdem erleichtert das Enneagramm die Kommunikation mit anderen Menschen, weil es uns Beweggründe des Verhaltens erklärt und uns bei der konstruktiven Lösung von Herausforderungen und Konflikten im privaten und beruflichen Bereich unterstützt. Es hilft uns dabei, uns in die „Schuhe des anderen“ zu stellen und so nicht nur uns selbst, sondern auch den anderen als einzigartig verstehen zu lernen.

So ist dieses Buch bewusst weniger als tiefschürfendes Werk über Herkunft, Wesen und Bedeutung des Enneagramms in psychologischer oder esoterischer Sicht geschrieben, sondern eher als ein Fremdenführer durch die Welt der eigenen Persönlichkeit und die der Menschen, die uns umgeben. Es leitet uns an, wie wir „von hier nach dort“ kommen, indem es unter anderem folgende Fragen beantwortet: Wie nehme ich mich und andere Menschen in meinem privaten und beruflichen Umfeld wahr? Und umgekehrt: Wie sehen mich wohl andere Menschen? Wie gehe ich mit mir und anderen Menschen angemessen um? Was sind die persönlichen und beruflichen Ziele, die meinem Wesen und meiner Entwicklung entsprechen, und wie kann ich sie erreichen? Das Buch ist nicht nur absolut lesenswert, sondern fordert zur sofortigen Anwendung des Gelesenen heraus. Es ist ein Buch, das tatkräftig macht und uns sagt, was wir konkret unternehmen sollen, wenn wir „zur Tür hinausgehen“.

Ich hatte das Glück, die beiden Autoren Anna-Maria Rumitz und Alexander Pfab in den 1990er-Jahren als Teilnehmer meiner Lehrveranstaltungen zur außergerichtlichen Konfliktlösung an der Universität Passau kennenzulernen. Sehr bald gestalteten sie diese Seminare und Workshops als Koreferenten aktiv mit. Das gab uns immer wieder Gelegenheit zu anregenden Gesprächen. Anna-Maria traf ich als „Wissende“, da sie dem Enneagramm bereits Anfang der 1980er-Jahre begegnet war und seinen Wert in ihrer Zeit als Personalverantwortliche vielfach erlebt hatte. Immerhin konnte ich sie damit überraschen, dass ich als wirtschaftsrechtlich tätiger Partner einer größeren Anwaltskanzlei das Enneagramm genauso anwendete, wie sie es in der Personalentwicklung getan hatte. Dies bestärkte sie in der Idee, die berufliche Anwendung des Enneagramms voranzutreiben. Es war ein glücklicher Zufall, dass sich Anna-Maria und Alexander im Rahmen unserer gemeinsamen Lehrtätigkeit begegneten. Hieraus hat sich dann die diesem Buch zugrunde liegende Kooperation ergeben. Obwohl Alexander sich erst kürzer mit dem Thema beschäftigt hatte, fertigte er bald nach seinem ersten Kontakt mit dem Enneagramm seine Masterarbeit zum Thema „Das Enneagramm in der Mediation“ an und referierte bei dem Kongress „ADR State oft the Art“ im Oktober 2008 an der Universität Bielefeld über dieses Thema.

Und hier komme ich wieder auf die praktische Anwendung des Enneagramms zurück: Wenn man die Annäherung der beiden Autoren an das Thema des Buches und ihren Zugriff darauf vergleicht, kann man sehr schnell erkennen, dass sie unterschiedlichen Persönlichkeitstypen angehören. Jemand, der voller Begeisterung über die Begegnung mit einem neuen Thema sofort mit seinen erworbenen Kenntnissen – sicherlich nicht ohne Wunsch nach Anerkennung – nach außen geht, unterscheidet sich vom Persönlichkeitstyp eines Menschen, der sich diesem Thema vorsichtig mit hoher Individualität annähert und weniger die Außenwelt sucht, sondern erst einmal in einem längeren Prozess internal abklärt, inwieweit sich das Thema mit dem eigenen Wunsch nach Originalität und Sensibilität vereinbaren lässt.

Wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie den unmittelbaren Wunsch verspüren, das Gelesene auf sich und die Umwelt anzuwenden. Dazu wünsche ich Ihnen Erfolg und Freude und dem Buch große Verbreitung.

München im Dezember 2013

Dr. Reiner Ponschab

Rechtsanwalt und Mediator

Wer bin ich? Was treibt mich an?

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