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6 Typologie und Textgrammatik afiniter Sätze in historischen Texten

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Wie dem speziell für die vorliegende Arbeit erstellten Textkorpus1 zu entnehmen ist, betrifft die Auslassungsprozedur vor allem das Verbum finitum in Konstruktionen mit dem Partizip Perfekt, also die temporalen Hilfsverben sein und haben im Perfekt Aktiv und im Plusquamperfekt Aktiv sowie in verschiedenen Tempora des Passivs. Das Nicht-Setzen der finiten Auxiliarverben tritt dabei in eingeleiteten Nebensätzen, allen voran den Konjunktional- und Relativsätzen auf (vgl. Schönherr 2018: 568f.). Selbstverständlich ist das Vorkommen afiniter Konstruktionen weder zeitlich noch räumlich gleichmäßig verteilt. Im Folgenden werden die Konstruktionstypen in absteigender Reihenfolge nach deren Vorkommenshäufigkeit aufgeführt, wobei die Auflistung der Konstruktionstypen und die Aussagen über ihre Frequenz eng an die statistischen Korpusanalysen von Janigane-Prokai (2013) angelehnt sind. Die in der Arbeit formulierten Thesen sind also unter Zuhilfenahme geeigneter Textdaten empirisch untermauert und dürfen deswegen – zumindest in Bezug auf das untersuchte Textkorpus – den Anspruch auf Gültigkeit erheben. Durch die Konfrontation der exzerpierten Belege mit korpusbasierten Untersuchungen von u.a. Janigane-Prokai (2013) sollte zusätzlich die methodische Stringenz der vorliegenden Untersuchung erhöht werden. Insgesamt ging das Bemühen dahin, eine mit den anderen, bisher durchgeführten Korpusstudien zusammenhängende Analyse verbloser Strukturen vorzulegen. Die Korpusbelege wurden entsprechend formalen Kriterien sortiert und in vier Gruppen geordnet.

Zu den höchstfrequenten (gegen Mitte des 17. Jahrhunderts fast ausnahmslos eingesetzten) Nebensatz-Konstruktionen ohne Verbum finitum gehört der Weglassungstyp sein + Partizip II + worden. Es ist also ein passivisches Muster in den Vergangenheitstempora Perfekt oder Plusquamperfekt. Hier nur ein schmaler Ausschnitt aus dem reichlich vorhandenen Belegmaterial (Kleine Chronik der Reichsstadt Nürnberg, 1790):

 (7) Am 8. Dezember dieses Jahrs [1698] wurde der Einlaß beim Hallerthuerlein eröffnet, nach dem vorher die dortige Brücke neu erbaut worden.

 (8) 1699 wurde die erste Armenschule, welche durch eine Lotterie fundiert worden, im Zuchthause eröffnet […].

 (9) 1300 wurde die Moritzkapelle am Mark von Eberhard Mendel gebaut, welche 1313 abgebrochen und gegen St. Sebald ueber versetzt worden.

 (10) 1349 am St. Niclas Abend wurden viele Juden zu Nürnberg verbrennt, welchen man eine Vergiftung der Brunnen Schuld gab, durch welche ein großes Sterben verursacht worden.

 (11) Er errichtete auch den ersten Ritterorden, der in Deutschland von einem deutschen Fürsten gestiftet worden, den Orden der Fürspänger zu Ehren der Jungfrau Maria.

 (12) In das Ende dieser Periode gehört auch die Errichtung der Kettenstöcke in den Gassen, welche, wie Conrad Celtes erzählt, ein zufälliger Weise entstandenes Gedräng bey einer Heilthumsweisung, wodurch viele Menschen beschädigt worden, veranlaßt hat.

 (13) 1528 wurde das Ungeldhaus gekauft, welches im folgenden Jahrhundert zum Rathhaus gezogen worden.

Ein ebenfalls hochfrequentes Muster stellen die aktivischen Perfekt- oder Plusquamperfekt-Konstruktionen dar, in denen das temporale Hilfsverb haben ausgelassen wird. Die größte Vorkommenshäufigkeit dieser Periphrasen fällt ungefähr auf die Mitte des 17. Jahrhunderts:

 (14) Weil ihne die Griechen dem verstorbnen Patriarchen gefunden/und erstlich auffgezeigt. (Protokollum des Colloquij zu Newburg an der Donaw, 1615)

 (15) Zum ersten da er vermerckt/daß ich ime etliche Stellen herauß geklaubt / die ihm wurden den Hals abbrechen […] (Protokollum des Colloquij zu Newburg an der Donaw, 1615)

 (16) Bald Anfang beschuldiget er/daß man in den formalibus handgreiflich verstossen […]/daß wir ihn unserer Pflicht gemäß nicht besprochen […] (Doppelte Verthäidigung des Eben-Bildes der Pietisterey, 1692)

 (17) [..] da wir nunmehr selbst nicht läugnen könten/daß wir wider die Pflicht der christlichen Liebe / und des H. Lehrampts ganz unvorsichtig / und zu grossem Ergerniß der Gemeinde gehandelt. (Doppelte Verthäidigung des Eben-Bildes der Pietisterey, 1692)

Die Perfekt- und Plusquamperfekt-Periphrasen, in denen das Auxiliar sein erspart ist, weisen vergleichbar den haben-Konstruktionen ein ähnliches Distributionsmuster vor. Gegen Mitte (1625–1650) des 17. Jahrhunderts wird das Hilfsverb sein in nahezu 75 % der Fälle ausgelassen:

 (18) Ob sie auch vf dem tantz geweßen, sagt ia ein mahl oder drei […] (Verhörprotokoll Friedberg 1620)

Viele dieser Konstruktionen begegnen auch in literarischen Texten, was u.a. im Sinne der rhetorischen Maxime variatio delectat geschieht und zur Vermeidung der für narrative Texte sonst so charakteristischen syntaktischen „Stereotypie“ verhilft:

 (19) Zwey Jahr ungefähr, nemlich biß der Einsidel gestorben, und etwas länger als ein halbes Jahr nach dessen Todt, bin ich in diesem Wald verblieben (Grimmelshausen, Simplicissimus I 11, S. 4–5)

 (20) Wie es nun ihme Joseph ergangen/ biß alles dem Göttlichen Willen nach zu Faden geschlagen worden/ solches wird in diesem Buch einfältig erzählt (Grimmelshausen, Exempel der unveränderlichen Vorsehung Gottes)

Zu den Auslassungen des finiten Auxiliars kommt es oft (allerdings nicht mehr so regelmäßig) auch in der Modalkonstruktion sein + zu + Infinitiv. Bemerkenswert ist dabei, dass das Modalitätsverb haben in der parallelen Konstruktion haben + zu + Infinitiv eine viel stärkere Resistenz gegenüber der Auslassung aufweist als dies bei sein der Fall ist. So begegnen Strukturen von Typ:

 (21) Und weil nicht weiteres aus ihm zu bringen, bliebe es bey der betrawung (Verhörprotokoll Dillenburg, 1631)

viel öfter als die haben-Variante:

 (22) Vnd ob sie was müntlich fürzutragen / sollen sie sich in alleweg der kürtz befleissen […] (Houe Gerichts Ordnung, 1572)

Besonders gewagte Auslassungen finiter Verben begegnen an den Stellen im Text, an denen die syntaktisch-semantischen Beziehungen zwischen den Satzgliedern oder Satzteilen dermaßen kompliziert sind, dass man die fehlenden Verbformen zur Entlastung derartiger schwerfälliger Satzgefüge intuitiv einsetzten würde. Wie dem auch sei: Die afiniten Partizipialkonstruktionen sind sich selbst genug und scheinen einer Ergänzung durch ein finites Auxiliar nicht zu bedürfen. Ihre prädikative Eigenständigkeit ist dabei wohl kaum tangiert. Im Gegenteil: Sie gewährleisten – ähnlich den voll ausgestalteten „Normalsätzen“ – die Kodierung von Satzpropositionen und wirken genauso wie diese textkonstitutiv. Zieht man jeweils den weiteren Kotext heran, in dem die behandelten Strukturen vorkommen, so fällt auf, dass es bei all den Textstellen kein Auxiliar in der Nähe gibt, das ersatzweise nachwirken könnte. Dies verstärkt zusätzlich die Annahme, dass die behandelten Konstruktionen keine (overten) elliptischen Strukturen darstellen, sondern von vornherein auxiliarlos konzipiert sind. Ein (overtes) elliptisches Verfahren anzunehmen, macht demgegenüber nur dort Sinn, wo in demselben Satz oder Kontext ein mit dem Auxiliar versehenes Partizip nachfolgt oder vorausgeht, dort also, wo das Auxiliar eines benachbarten Verbalgefüges stellvertretend für alle anderen ausgelassenen Hilfsverben steht.

In textgrammatischer Sicht lässt sich eine Reihe von Faktoren nennen, die das Vorkommen afiniter Strukturen besonders stark beeinflussen. Hierher gehört u.a. die Sprachökonomie, die im Allgemeinen nicht nur zur Auslassung überflüssiger Teile des Satzes führt, sondern die Ersparung der scheinbar unentbehrlichen Satzentitäten, darunter der finiten Verbformen, ermöglicht. Dieses Streben nach „sprachliche[r] Kürze“ (Bär / Roelcke / Steinhauer 2007) macht sich besonders in satzförmigen parenthetischen Einschüben oder in sog. Schachtelsätzen deutlich, d.h. in Sätzen, die strukturell ineinander verwoben sind, vgl. hierzu ein Beispiel aus dem Text von M. Opitz, wo ein afiniter Temporalsatz (als ich mich noch auff hohen Schulen…) in einen Relativsatz eingeschoben wird:

 (23) Als ich neulich bey meiner gutten Freunde einem im Durchreisen einsprach/ fand ich unter andern seinen Sachen auch diß Gedichte von Glückseligkeit deß Feldlebens/welches ich vor etlichen Jahren/als ich mich noch auff hohen Schulen befunden/sol geschrieben haben. (Martin Opitz: Martini Opitii Lob deß Feldtlebens, 1623, S. 7)

Die Tilgung von Auxiliarverben erfolgt auch zwecks der Vermeidung von repetitiven Verbformen (vgl. Ebert 1993: 442), die ansonsten an der Grenze vom Nebensatz und Hauptsatz zusammenstoßen würden. Ferner kommt die Auslassung der finiten Auxiliare in stark formelhaften Wendungen vor, welche durch einen häufigen Gebrauch zu einer Art Kollokationen geworden sind (wie oben verordnet, wie oben gemeldet, wie oben im ersten theil dieser ordnung gemeldet [Concept der verbesserten Cammergerichtsordnung, 1753]).

Die Ersparung finiter Verbformen kann schließlich als eine der Bestrebungen angesehen werden, die schriftliche Rede von der mündlichen abzuheben, und somit der geschriebenen Sprachvarietät mehr Autonomie, ja mehr Prestige und Professionalität zu verleihen – kurzum: die Schriftsprache zum neuen, verbindlichen und stabilen Medium der (institutionellen) Kommunikation aufzuwerten. Mit Oskar Reichmann ist dieser Prozess als eine fundamentale Umorientierung der Funktional-, Sozial- und Medialvarianten etc. der Sprache zu verstehen, wobei hier besonders der mediale Übergang von der gesprochenen (Oralität) bis zur geschriebenen Sprachvarietät (Literalität) von Interesse ist. Die Schriftsprache wird von Reichman (2003, 30) als das „von Wissenschaftlern, Schriftstellern, überhaupt Gebildeten in den soziologisch gehobenen bzw. als gehoben betrachteten Kultursystemen als omnivalentes Darstellungs- und Handlungsinstrument zu allen denkbaren Zwecken“ aufgefasst. Diese Umorientierung vollzog sich auch auf der Sprachebene, indem viele sprachinterne Neuerungen bzw. Tendenzen aufkamen, etwa die syntaktische Manier das Verbum Finitum aus Nebensatzkonstruktionen zu eliminieren, und zwar besonders in als hochwertig angesehenen frühneuzeitlichen Kanzleitexten.

Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue

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