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2 Ambienz, versteckte Indexikalität und unartikulierte Konstituenten

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Auch wenn man sagen kann, dass die Debatte um eingliedrige Sätze, die sich vor allem an Wetterverben entzündet hatte, in den zwanziger Jahren des 20. Jh. abgeschlossen ist, stellen Konstruktionen wie

 (1) Es regnet

und verwandte weiterhin eine sprachtheoretische Herausforderung dar. Dies ist nicht mehr auf die Form des Satzes zurückzuführen, der vermeintlich einem Vollständigkeitsideal widerspricht, sondern auf seine Verankerung in einem räumlichen Koordinatensystem. Es ist schlüssig zu erklären, wie eine Lesart zustande kommt, die eine Beschränkung auf einen mehr oder minder abgegrenzten Raum leistet. Denn es muss der offenkundigen Intuition Rechnung getragen werden, dass die Aussage, dass es regnet, nicht von jedem beliebigen Ort gemacht wird, womit der Satz trivialerweise wahr wäre und somit keinen Informationsgehalt tragen würde. Die standardisierte Interpretation bezieht den Satz auf einen spezifischen Ort, und dies ist in der Regel der Ort, an dem sich der Sprecher / die Sprecherin befindet. Sollte es ein anderer Ort sein, so muss dies explizit angegeben werden oder aus dem unmittelbaren Redekontext hervorgehen.

In einem Beitrag zu einem rezenten Sammelband über unpersönliche Konstruktionen verweist Irmtraud Behr auf die Einsicht Wallace Chafes, der Formen wie (1) den ambienten Konstruktionen zuweist. „Es handelt sich dabei um Zustände (es ist heiß / spät, es ist Dienstag) oder Ereignisse (es regnet / schneit), die als „allumfassend“ bezeichnet werden“ (Behr 2012: 132). Allumfassend, möchte man ergänzen, in Bezug auf einen umschriebenen Raum, in dem Sprecher_in und Hörer_in sich aufhalten. Chafe schreibt zu diesen Konstruktionen: „Die Bedeutung von Sätzen wie diesen scheint in nichts anderem als einer Aussage, aus einem Prädikat zu bestehen, in dem es kein „Ding“ gibt, worüber die Aussage gemacht würde“ (Chafe 1976: 102, zit. n. Behr 2012). Ambienz kann somit als die Eigenschaft eines Prädikats gelten, dass ein Agens von diesem nicht abgetrennt werden kann – bei Marty hatten wir dieses Phänomen als thetischen Satz kennen gelernt. Mit Bezug auf ein Erklärungsmuster von Tosco / Mettouchi (2010) spricht Behr im Zusammenhang mit unpersönlichen Konstruktionen von Herabstufung oder Backgrounding einer Entität oder eines Ereignisses. Diese drückt sich in Konstruktionen wie (1) dadurch aus,

[…] dass generische oder unspezifische Lexeme zur Verwendung kommen. Die Herabstufung des einen Elements bewirkt die Aufstufung oder Hervorhebung des anderen Elements. Dieses kann dann als situationell salient empfunden werden. (Behr 2012: 133)

Der Prozess des Backgrounding würde dann die Entität betreffen, die durch das unspezifische es ausgedrückt wird.

Ambiente Konstruktionen stellen insofern eine Herausforderung dar, als in ihrer Beschreibung der systematische Bezug auf den umgebenden Raum berücksichtigt werden muss. Ich möchte mich im Folgenden mit einem Ansatz auseinandersetzen, der diesen Bezug in Form einer Konstituente des geäußerten Satzes, wenn auch einer unartikulierten Konstituente, auffasst. So ist der Mitbegründer der Situationssemantik, John Perry, bei der Behandlung von Sätzen wie es regnet, es schneit, es donnert, aber auch es stinkt, es ist laut verfahren. Sie sind in seiner Sicht durch ein indexikalisches Element zu ergänzen, das mit hier angegeben werden kann (s. Perry 1998). Wir sprechen es allerdings in der Regel nicht aus, weil es sich als selbstverständlich erweist. Perry fasst es so: „… we don’t articulate the objects we are talking about, when it is obvious what they are from the context“ (Perry 1998: 11). Ein hier bei Wetterverben und anderen unpersönlichen Konstruktionen ist zwar für das Verständnis der Satzäußerung wirksam, aber nicht im Sinne eines artikulierten oder nur zufällig weggelassenen Elements. Es ist von Natur aus unartikuliert, es taucht auf keiner Repräsentationsebene des Satzes auf, weder auf der syntaktischen noch auf der semantischen. Vielmehr handelt es sich um eine interpretatorische Zutat, die sich rein aus dem situativen Wissen der Sprechenden ergibt, in diesem Fall aus der wechselseitigen Plausibilitätsunterstellung, dass eine triviale und daher uninformative Aussage keinesfalls beabsichtigt sei.

Dass eine Konstituente im Satzverständnis wirksam ist, die auf keiner seiner Repräsentationsebenen identifiziert werden kann, ist – nicht nur – für Semantiker eine schwer zu akzeptierende Auffassung. Entsprechend kritisch ist sie auch aufgenommen worden. Die Kritiker der Annahme unartikulierter Konstituenten sehen zwar auch, dass viele unpersönliche Konstruktionen durch einen deiktischen Verweis auf die Sprechsituation bezogen werden. Sie sind aber der Meinung, dass dies im Sinne einer versteckten Indexikalität geleistet wird, die durch eine nicht an der Oberfläche des Satzes sichtbare Variable realisiert ist – nämlich hier. Diese Auffassung ist im Wesentlichen von Jason Stanley und Zoltan Szabo vorgebracht worden (s. Stanley 2000; Stanley / Szabo 2000).

Die Plausibilität dieser Beschreibungsstrategie ist ebenfalls mit relativ starken Argumenten angezweifelt worden. Eines der stärksten Gegenargumente macht darauf aufmerksam, dass die Art und die Anzahl der versteckt indexikalischen Ausdrücke prinzipiell nicht begrenzt werden kann – so argumentieren die Relevanztheoretiker Dan Sperber und Deirdre Wilson (2004) sowie Robyn Carston (2002). Im Beispiel (1) ist nicht nur der Ort für die Charakterisierung des Regens relevant, sondern auch die Stärke (nieselt es oder gießt es?), die Dauer und viele weitere Eigenschaften. Wollte man für jeden dieser Parameter einen eigenen indexikalischen Ausdruck annehmen, noch dazu auf der nicht sichtbaren Ebene der semantischen Form, dann würde dies zu einem Gebilde führen, das kognitiv für Sprecher wie Hörer nicht mehr verarbeitbar wäre. Aufgrund dieses Einwands ist die Annahme versteckter Indexikalität abzulehnen.

Einen Ausweg aus dieser Situation sucht François Récanati, der ein Alternativmodell für unartikulierte Konstituenten entwirft (s. Récanati 2002; 2007). Ihm geht es darum, der Sprechsituation den Rang zu verleihen, der ihr gebührt – und damit die Situationssemantik von Perry und anderen gleichsam auf ihren Namen zu verpflichten. Zu diesem Zweck unterteilt er eine sprachliche Äußerung in zwei Komponenten, die sich in unterschiedlicher Weise auf die situative Umgebung der Äußerung beziehen. Da nun der Begriff der Umgebung sehr vage ist, hat Récanati den von Barwise entwickelten Begriff der Austinschen Proposition übernommen, um den Ort genauer zu kennzeichnen, an dem die unartikulierten Konstituenten lokalisiert sind (s. Barwise / Etchemendy 1987). Warum wird hier der Begriff der Austinschen Proposition gewählt? In Austins Wahrheitsdefinition werden nicht Aussagen zu Sachverhalten in Beziehung gesetzt; eine Aussage ist vielmehr dann wahr, wenn der entsprechende Sachverhalt einem Typ angehört, auf den sich die in der Aussage enthaltenen Wörter konventionsgemäß beziehen (s. Austin 1975). In Übertragung auf die unartikulierten Konstituenten hieße das, dass der Sachverhalt des Regnens einem Typ zugeordnet werden muss, auf den sich die Wörter der Aussage (1) konventionell beziehen; erst dann kann die Aussage selbst wahr sein – sofern der Sachverhalt als Einzelexemplar besteht. Dieser Typ könnte dann so beschrieben werden, dass er an einem festzulegenden Ort stattfindet, was für Regen ja in der Tat zutrifft.

Die Austinsche Proposition enthält – so drückt Récanati sich aus – die Umstände, unter denen eine Äußerung bewertet wird. Man kann sie als Bewertungsmaßstab bezeichnen. Der Bewertungsmaßstab für (1) ist der Ort, an dem sich der Sprecher / die Sprecherin befindet („hier“). Der Rest der Äußerung, der nicht den Bewertungsmaßstab enthält, wird als Lekton bezeichnet – dieser Begriff stammt aus der stoischen Logik. Das Lekton umfasst die lexikalische und syntaktische Ebene der Satzbedeutung sowie die obligatorischen pragmatischen Anreicherungen, wie sie beispielsweise mit artikulierten indexikalischen Ausdrücken verbunden sind.

Wie ist dieser neuere Ansatz zu unartikulierten Konstituenten zu beurteilen? Zunächst ist die Strategie, die Kontextkentnisse oder, wie Récanati sich ausdrückt, das Wissen um die situative Umgebung der Äußerung nicht mehr in der Semantik des geäußerten Satzes zu verankern, vielversprechend. Durch diesen Schritt wird das Problem der Multiplizierung von unartikulierten Konstituenten vermieden, auf das die Relevanztheoretiker hingewiesen hatten. Diese für das Äußerungsverstehen notwendigen Wissenselemente werden konsequent aus dem engeren Bereich der Satzbedeutung ausgelagert. Allerdings stellt sich die Frage, ob sie tatsächlich aus der Äußerung insgesamt ausgelagert sind. Ihr Vorkommen in der Austinschen Proposition spricht eher dafür, dass sie als Äußerungsbestandteil aufgefasst werden, wenn auch in dem pragmatischen, mit der Illokution verbundenen Anteil.

Wie fest oder lose dieser Anteil mit der Semantik des Satzes verbunden ist, ist in dem neueren Ansatz Récanatis letztlich nicht abschließend geklärt. So muss man hier sicher Konkretisierungen anmahnen, die in dieser Konzeption noch zu leisten sind. Ein gangbarer Weg besteht darin, den erforderlichen Ortsbezug nicht mehr als Konstituente der Äußerung aufzufassen – wie marginal oder ‚pragmatischʻ sie auch sei – sondern als Bestandteil stereotypischen Wissens, das beispielsweise die Kenntnis umfasst, dass Regen als Naturphänomen eine begrenzte Ausdehnung hat. Dieses Wissen ist nicht-sprachlicher Natur, hat aber insofern eine Relevanz für Äußerungstypen wie (1), als es mit diesen systematisch korreliert ist. Der deiktische Anteil unpersönlicher Konstruktionen mit Wetterverben ist also nicht durch eine versteckte Indexikalität gesichert, sondern dadurch, dass der spezifische Äußerungstyp korreliert ist mit generellen Wissensressourcen sowie einer stereotypischen Verwendungsstruktur, die jeweils seine Interpretation unterstützt. Verfestigte Korrelationen von Äußerungs- und Situationstyp können als pragmatische Muster oder Templates bezeichnet werden, die im Zuge des Pragmatikerwerbs vom Kind erlernt werden und eine kognitive Ressource für die Interpretation von ambienten Konstruktionen zur Verfügung stellen. In Liedtke (2016; 2019) sind verschiedene Muster der genannten Art entwickelt worden.

Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue

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