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ОглавлениеIn der Woche davor
»Heute Nacht war ein Troll da«, sagt Ronja und grinst über das ganze Gesicht. Marmelade klebt an ihrem Kinn. Tina kommt mit dem Abwischen gar nicht hinterher. Die Blaubeerkonfitüre ist die Hölle. Morgen würde sie eine andere Marmelade auf den Frühstückstisch stellen.
»Ein Troll? Wirklich?«, fragt Jochen fröhlich. »Das ist ja spannend. Und was wollte der bei uns?«
»Nichts.« Ronja lacht. »Er hat am Waldrand gestanden und unser Haus beobachtet.« Sie reißt die Augen auf und legt die Hände an ihre Schläfen, als blicke sie durch ein Fenster. Na prima, jetzt ist auch noch Marmelade in ihren Haaren, denkt Tina.
»Er hat geguckt, ob er mich holen kann.«
»Dich holen?« Jochen runzelt die Stirn. »Warum sollte er dich holen?«
»Weil ich ein Troll bin.« Ronja stößt einen dieser grunzenden Laute aus, die sie sich angewöhnt hat, seit sie ihr das Märchenbuch über Trolle geschenkt haben.
»Na, da hast du ja was zu erzählen, wenn du nach den Ferien wieder in der Schule bist.« Jochen drückt sich Tubenkäse aufs Knäckebrot und beißt lautstark ab. »Wer von deinen Schulkameraden kann schon von sich behaupten, dass er einen Troll gesehen hat?«, fährt er mit vollem Mund fort, Krümel fliegen über den Tisch.
»Ach Mensch, Jochen«, ermahnt ihn Tina.
»Och Mönsch, Tinaaaa«, imitiert Jochen sie und lacht. Ronja lacht mit.
Lola, die den beiden gegenübersitzt, gibt einen genervten Seufzer von sich, während sie in Minischlucken ihren Tee trinkt.
»Willst du nicht noch einen Toast?«, fragt Tina.
»Nein.«
»Du hast fast nichts gegessen.«
»Das Brot schmeckt scheiße.«
»Eva-Lotta! Du weißt, was wir vereinbart haben.«
Lola rollt mit den Augen. »Mann, aber es stimmt doch. Der Toast ist total labberig. Außerdem wisst ihr, dass ich gesalzene Butter hasse. Das passt überhaupt nicht zu Marmelade. Das ist megabescheuert.«
»Ich kaufe dir nachher normale Butter, okay? Kannst bis dahin Müsli essen. Das schwedische ist total lecker. Probier mal.« Tina schiebt ihrer Tochter die Packung hin, doch Lola verzieht das Gesicht.
»Ich hasse Müsli!«
»Dann bleibt unserem Fräulein Krüsch nur das Brot. Kannst es ja toasten.«
»Ich hab eigentlich gar keinen Hunger.«
Tina ahnt, woher der Wind weht. Lola und ihre beste Freundin Jenny sind seit Kurzem dem allgemeinen Schlankheits- und Fitnesswahn verfallen, der unter den Teenagern in ist. Bloß nichts essen, was einen aufblähen könnte, kein Gramm Fett zu viel an der falschen Stelle. Ein flacher Bauch und ein knackiger Hintern sind alles, worauf es ankommt. So etwas kennt Tina aus ihrer eigenen Jugend, und wer wollte damals nicht dem Ideal entsprechen? FDH und Brigitte-Diät. Aber heute heißt es Ab Crack, Thigh Gap oder Bikini Bridge. Gefährliche Anzeichen der Unterernährung, die durch trendige Namen hip gemacht werden. Dazu jede Menge Schminke, die ein halbes Vermögen kostet. Typisch für die Generation Z: Selbstoptimierung bis über die Schmerzgrenze und immer bereit für das nächste Selfie. Tina hat viel darüber gelesen, sie hat überhaupt viel gelesen, um ihre ältere Tochter besser verstehen zu können. Gebracht hat es allerdings nichts.
Sie unterdrückt einen Seufzer, als sie bemerkt, dass Lola zu ihrem Handy hinüberschielt. Zum Glück haben sie hier kein WLAN, also muss Lola über ihr Guthaben surfen. Das bedeutet: Wenn es aufgebraucht ist, war es das.
»Ich hatte gar keine Angst, als ich den Troll gesehen habe«, ruft Ronja stolz.
»Du bist ja auch unsere kleine Trollprinzessin. Siehst auf jeden Fall aus wie eine. Heute noch nicht gekämmt, oder was?« Jochen fährt ihr durch das verwuschelte Haar. Egal, was man morgens mit Ronja anstellt, binnen kürzester Zeit ist alles an ihr wieder unordentlich.
Jochen wendet sich an Tina. »Und was war das jetzt für ein Troll, den sie gesehen haben will?«
»Keine Ahnung.« Sie hebt die Schultern. »Ich war letzte Nacht nicht dabei, als Madame durchs Haus geschlichen ist, obwohl sie eigentlich im Bett liegen sollte.« Sie wirft Ronja einen mahnenden Blick zu, doch ihre jüngere Tochter kichert nur. »Jedenfalls behauptet sie, dass sie draußen etwas im Wald gesehen hat.«
»War bestimmt ein Elch. Der Bauer Dahlberg sagt, dass es in Südschweden mehr Elche gibt, als man glaubt.«
»Und Trolle!«, ruft Ronja triumphierend.
Tina bemerkt, dass Lola auf ihrem Smartphone herumtippt. »Lotta, bitte nicht bei Tisch.«
»Mann, ich schreibe Jenny nur schnell, wie öde es hier ist.«
»Wenn dir langweilig ist, such dir eine Beschäftigung. Du musst mal lernen, ohne dieses Ding klarzukommen.«
»Hey, ich bin ein Digital Native«, entgegnet Lola, ohne aufzusehen. Ihre Finger fliegen über das Display. »Das ist für mich wie für euch früher der Kassettenrekorder.«
Jochen stößt einen amüsierten Laut aus. »Damit konnte man aber nur Kassetten abspielen, sonst nix. Keine tausend Sachen gleichzeitig. Chatten, shoppen und YouTube-Videos angucken.«
»Siehst du, wie gut das Handy ist?«
»Lola, draußen ist so ein super Wetter, und dann diese schöne Natur. Das hast du in Hamburg nicht.«
»Zum Glück!«
»Was hältst du davon, wenn wir nachher zum Badesee fahren?« Jochen gibt nicht auf. Er lächelt Lola an, doch die bewegt sich keinen Millimeter auf ihn zu.
»Und mich überall von den ätzenden Mücken stechen lassen? Nee! Bestimmt nicht.« Mit verächtlicher Miene verschränkt sie die Arme vor der Brust.
»Du könntest uns auch am Haus helfen. Die Außenfassade muss abgeschabt und neu gestrichen werden.«
»Pfff. Bin ich euer Sklave? Das ist Kinderarbeit.«
Jochen verzieht das Gesicht, und Tina seufzt erneut. Sie bezweifelt, dass es eine gute Idee war, Lola ohne ihre Freundin Jenny mit nach Schweden zu nehmen. »Wenn du nicht aufhörst zu nörgeln, schicken wir dich mit dem Zug früher nach Hause.«
Erfreut blickt Lola auf. »Oh, wirklich? Prima!«
»Zu Oma und Opa«, fügt Tina hinzu.
Lolas Gesichtsausdruck verfinstert sich. »Ihr seid so was von lame.«
»Und Trolle sind so was von grooooß und megasüüüüß«, brüllt Ronja dazwischen.
»Mann, Ronja! Hör endlich mit deinen dämlichen Trollen auf. Du bist echt ein Pain in the ass.«
»Lola, es reicht!« Tina funkelt ihre ältere Tochter an.
»Warum ich jetzt?«, empört sich Lola. »Ronja brüllt doch rum, nicht ich.«
»Ass! Ass! Ass!«, ruft Ronja weiter. »Mama, was ist ein Painsiass? Aaaaass! Painsiass!«
Dieses ewige Ringen um Aufmerksamkeit der beiden, denkt Tina, und spürt den Stachel der Schuld, den sie nie aus ihrem Fleisch würde ziehen können.
»Ronja, ist gut.« Schaltet sich Jochen ein, und ihre Jüngere verstummt sofort. Von klein auf hat Ronja besser auf ihren Vater gehört. Er dreht sich zu Lola. »Und nun zu dir, Fräulein – Mama, hat recht: Du bist diejenige, die schlechte Stimmung verbreitet. Warum musst du immer so destruktiv sein?«
»Destruktiv?« Lola stößt wütend Luft aus. »Ihr mit eurem dämlichen Lehrergequatsche.«
»Lotta!«
»Ach, macht doch einen auf happy Family. Aber ohne mich.« Lola springt auf und rennt davon. Die Tür zu ihrem Zimmer schlägt zu.
»Na super«, sagt Jochen.
Genau, denkt Tina. Und das soll ich fünf Wochen aushalten?
»Super, ass!« Ronja klatscht begeistert. »Papa, können wir in den Wald gehen und Trolle suchen?«
Nach dem Frühstück bringt Tina das Geschirr in die Küche, und da sie noch keine Spülmaschine im Haus haben, beginnt sie, alles abzuwaschen.
Als sie ihre Hände ins warme Spülwasser taucht, schnürt sich Tinas Kehle zu. Sie weiß wirklich nicht, wie sie es aushalten soll, fünf Wochen in diesem Haus zu verbringen. Ihrem Haus. Nein, Jochens Haus. Es war immer sein Traum. Ein eigenes Schwedenhaus. Sein kleines Bullerbü.
Tina stellt einen nassen Teller auf das Abtropfgitter. Hamburg ist weit weg. Ihre Wohnung, ihre vertraute Umgebung, alles ist weit weg. Sie vermisst die laute Stadt. Das entfernte Rauschen des Verkehrs, die Martinshörner, das Glockenläuten der Kirchen, das Geplapper der Menschen. Ein Geräuschteppich, der sich stets dämpfend über ihre Gedanken legt. Doch in der beängstigenden Stille Schwedens gibt es diesen schützenden Puffer nicht. Hier liegen ihre Gedanken offen wie der entzündete Nerv eines Zahns.
Sie muss etwas finden, mit dem sie sich ablenken kann. Muss die fünf Wochen irgendwie überleben. Jochen darf nichts von ihren Sorgen wissen. Er will zelebrieren, dass sie eine Familie sind, indem er das Haus für sie herrichtet. Eine Schöpfungsgeschichte der ganz eigenen Art. Am ersten Tag schuf Jochen die Harmonie. Dann erst kam das Licht.
Tina spürt, wie Tränen ihre Wange hinabrinnen und ins Spülwasser tropfen. Sie sind schon oft alle zusammen im Urlaub gewesen, als Familie. Aber nie hat es sich so bedrohlich angefühlt wie dieses Mal.
»Heulst du etwa?«
Tina schreckt zusammen. Rasch wischt sie sich über das Gesicht und dreht sich um. Lola lehnt lässig im Türrahmen. Ihre langen blonden Haare fallen offen über ihre Schultern, und ihr jugendliches Gesicht wirkt wie modelliert. Tina runzelt die Stirn. Hat Lola etwa Mascara und Lippenstift aufgetragen? Wofür? Sie sind mitten im Wald.
»Nein, ich habe nicht geweint«, entgegnet sie mit fester Stimme.
»Du lügst. Ich seh es doch.« Lola blickt sie abschätzend an. Ihre roten Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, das Tina nur schwer deuten kann. Mit ausgestreckten Armen geht Lola plötzlich auf sie zu und will sie umarmen.
Erschrocken weicht Tina zurück. »Nein. Bleib weg!«
Verblüfft hält Lola inne. Synchron zu ihren Mundwinkeln lässt sie die Arme sinken. »Jenny hat recht«, entgegnet sie bissig, »du bist ein Eisklotz.«
Am ganzen Körper bebend schaut Tina sie an. Einfach alles an Lola strahlt Verachtung aus. Ihre Augen, ihre Haltung, ihr verzerrter Mund. Verzweifelt sucht Tina nach Worten. So etwas wie: »Tut mir leid, ich hab dich ja auch lieb.« Oder: »Komm her, das war nicht so gemeint.« Aber sie bekommt es nicht heraus. Ihre Lippen sind wie zugeklebt.
»Weißt du was, Mama?«, sagt Lola und stößt einen Finger in die Luft. »Du bist das Letzte!« Mit fliegenden Haaren dreht sie sich um und rennt aus der Küche. Wenig später sieht Tina sie draußen über den Rasen laufen.
»Wo willst du hin?«, ruft Jochen ihr hinterher, doch Lola reagiert nicht und verschwindet auf dem Schotterweg in Richtung Straße. Tinas Blick ist schon wieder nach innen gerichtet, auf den abgrundtiefen Graben, der zwischen ihr und ihrer Tochter gähnt wie ein gieriges Schwarzes Loch. Seit Lola ihre erste Periode bekommen hat und sich Schminke ins Gesicht schmiert, um den Jungen zu gefallen, ist dieser Graben nicht nur tiefer, sondern vor allem düsterer geworden. Tina macht sich nichts vor. Sie weiß, dass er von Anfang an dagewesen ist.
Ihre Gedanken kehren in die Gegenwart zurück, und sie schaut aus dem Fenster hinüber zum Waldrand. Vielleicht sollte sie einfach alles stehen und liegen lassen und in den Wald gehen … nie wieder auftauchen.
Wie betäubt beendet sie den Abwasch, trocknet ihre Hände ab und schleppt sich ins Wohnzimmer. Ronja kommt hereingeprescht, Jochen im Schlepptau.
»Wo ist denn Lola hin?«, fragt er.
»Keine Ahnung. Ich glaube, sie will allein sein.«
Jochen gibt einen nachdenklichen, fast sehnsuchtsvollen Laut von sich. Sanft streicht er über Tinas Rücken. »Ich wäre auch mal wieder gerne allein mit dir«, flüstert er.
Tina muss sich zwingen, nicht zu erschauern. Nicht aus Lust, sondern aus Verzweiflung. Warum nimmt Jochen diese Schwingungen nicht wahr? Warum merkt er nicht, wenn sie sich schlecht fühlt? Sie kennt die Antwort. Jochen weicht allem Negativen aus.
Sie sieht zu Ronja hinüber, die sich vor dem Panoramafenster auf den Boden plumpsen lässt und das Märchenbuch mit den Trollbildern aufklappt.
»Ich glaube«, sagt sie zu Jochen, »das können wir vorerst vergessen, ohne dass die Kinder es mitbekommen.«
»Ach was. Lass uns in den Wald gehen. Da ist eh niemand. Wir haben die ganze Weite der schwedischen Wälder nur für uns. Das wär doch mal aufregend. Na?« Jochens Hand wandert zu ihrer Hüfte.
Tina wendet sich ab. »Du bist nicht bei Trost.«
»Schade«, seufzt Jochen.
»Vielleicht später«, sagt sie, um ihn zu besänftigen. Es bereitet ihr Unbehagen, ihm seinen Wunsch abzuschlagen. Normalerweise wagt sie das nicht, aber heute kann sie einfach nicht anders.
»Okay, dann werde ich damit anfangen, die Wand aufzustemmen. Wir wollen schließlich eine offene Küche haben.«
»Bist du dir sicher, dass die Wand nicht tragend ist?« Tina ist erleichtert, dass er eine Ablenkung gefunden hat.
»Laut Bauplan, den der Makler uns gegeben hat, ist es eine nachträglich eingezogene Holzwand. Die kann ruhig weg.«
»Das Haus ist über 100 Jahre alt, meinst du, die haben damals schon die Statik berechnet?«
Jochen zuckt fröhlich mit den Schultern. »Wir werden es erfahren.«
Tina beneidet ihn um seine Unbekümmertheit, trotzdem wirft sie einen skeptischen Blick auf die Holzwand.
Jochen lacht. »Keine Sorge, ich weiß, was ich tue. Geh am besten mit Ronja auf die Terrasse. Hier wird’s gleich laut.«
Tina nickt und schlägt ihrer Tochter vor, ihren Collegeblock mitzunehmen und vielleicht ein paar Farbstifte. Begeistert sammelt Ronja alles zusammen. Mit ihren unbeholfenen, polternden Schritten läuft sie nach draußen.
Na schön, denkt Tina, vielleicht bekomme ich jetzt endlich ein bisschen Ruhe und kann das Buch lesen, das Jochen mir für den Urlaub geschenkt hat. Sie holt sich »Ein Mann namens Ove« vom Nachttisch und ein Glas Limonade aus der Küche. Außerdem ein Kissen und die Sonnenbrille.
Auf der Terrasse stellt Tina das Glas auf den Tisch und sieht sich nach Ronja um. Ihre Malsachen und der Block liegen im Gras. Ronja aber ist weg.