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ОглавлениеIn der Woche davor
Tina läuft durch den Wald und ruft nach Ronja, aber nirgendwo ist ihre Tochter zu entdecken. Sie bleibt stehen und formt mit den Händen einen Trichter. »Ronjaaa! Wo bist du?«
In der Ferne ertönt der kollernde Ruf eines Raben, als antworte dieser an Ronjas Stelle. Ansonsten herrscht eine allumfassende Stille. Nicht mal Vögel zwitschern. Ist das normal?, fragt sich Tina. Sind Vögel normalerweise nicht überall? Auch kann sie keine Grillen hören. Der Wald wirkt irgendwie … tot.
Ängstlich dreht sie sich um. Die Nadelbäume stehen dicht an dicht und lassen kaum Sonnenlicht durchsickern. Dazwischen liegen große, moosbewachsene Findlinge, als hätten sich Riesen damit beworfen. Natürlich kennt Tina den richtigen Grund dafür, aber die geologische Erklärung mit dem Gletschergeröll erscheint ihr auf einmal weniger plausibel. Sie ahnt, warum sich die Skandinavier all diese düsteren Geschichten erzählen. Der Wald sieht tatsächlich aus, als bräche gleich ein zotteliges Fabelwesen durchs Unterholz, um sie, den Eindringling, aufzufressen. Keine Frage, der Wald in Schweden besitzt eine weit bedrohlichere Qualität als der in Deutschland. Vermutlich ist es die schiere Größe, die auf Tina so bedrückend wirkt. Wer weiß schon, was sich alles darin verbirgt?
»Ronja?«, ruft sie erneut, diesmal leiser. Zweige knacken unter ihren Füßen. Der Rabe antwortet in der Ferne, und nun haben auch die Mücken sie entdeckt und sirren um sie herum. Tina verscheucht sie mit der Hand.
Dieses diffuse Gefühl von Angst, das gegen ihren Nacken drückt und mit jeder Sekunde stärker wird. Unwillkürlich zieht Tina die Schultern hoch und blickt sich um. Ob es hier Wölfe gibt? Oder Bären? Was, wenn Ronja nicht mehr auftaucht? Wenn sie sich verlaufen hat? Sie ist bestimmt in den Wald gegangen, weil sie ihre Trolle suchen wollte.
Schweiß läuft Tinas Hals hinab und in den Ausschnitt ihres T-Shirts. Die Luft ist feucht und stickig. Das Surren der Mücken wird nervtötender. Das ist definitiv ihr Reich. Der Mensch hat nichts darin verloren. Er ist lediglich Futter.
Tina beschleunigt ihre Schritte. Das Rufen hat sie aufgegeben. Sie will raus aus dem Wald. Immer schneller rennt sie über den unebenen Grund, weiß eigentlich gar nicht, in welche Richtung sie sich wenden soll. Die dünnen Sohlen ihrer Ballerinas lassen sie jeden Stein unter ihren Füßen spüren.
In ihrer Hast stolpert sie über einen Ast und fällt hin. Erschrocken saugt sie Luft ein, weil ein scharfer Schmerz durch ihr Bein schießt. Als das Stechen nachlässt, sieht Tina an sich hinab. Aus einer Schramme am Schienbein sickert Blut. Aber da ist noch etwas anderes. Es liegt neben ihr im niedrigen Blaubeergestrüpp, und ein süßlich muffiger Geruch geht davon aus.
Ein totes Tier.
Das bräunliche Fell hängt in Fetzen von den bleichen Knochen, die von schwarz verfärbten Geweberesten zusammengehalten werden. Der Kopf ist nicht zu sehen, dennoch glaubt Tina, dass es sich um ein junges Reh handelt. Viel ist nicht mehr davon übrig, andere Tiere haben sich daran satt gefressen, haben Knochen zermalmt und den halben Rumpf verschlungen.
Tina muss würgen. Schnell stemmt sie sich auf die Füße und entfernt sich von dem verwesenden Kadaver. Mit ungehaltenen Bewegungen streicht sie sich den Schmutz vom Rock. In Hamburg wäre ihr das nicht passiert. Dazu noch diese vielen Mücken. Wild fuchtelt Tina in der Luft herum und fühlt sich nicht zum ersten Mal absolut fehl am Platz.
Sie richtet sich auf, muss Ronja finden und dann endlich raus hier. Aber von ihrer Tochter ist nach wie vor nichts zu sehen. Allerdings hat Tina mittlerweile auch keine Ahnung mehr, welcher Weg zum Haus zurückführt. Oder zur Straße. Sie hat nicht darauf geachtet, in welche Richtung sie gegangen ist, als sie das Grundstück verlassen hat. Definitiv ein Fehler bei ihrem schlechten Orientierungssinn. Wie weit hat sie sich vom Haus entfernt? Wenn sie ihr Handy dabeihätte, würde sie einfach die Standortbestimmung benutzen, aber das Gerät liegt im Schlafzimmer auf dem Nachttisch. Sie könnte nach Jochen rufen. Tina verwirft den Gedanken. Der hört sie bestimmt nicht, schließlich ist er dabei, die Wand einzureißen. Nein, sie wird das allein schaffen müssen.
Tina will gerade losgehen, als ein lautes Knacken sie zusammenfahren lässt. Langsam dreht sie sich um und blickt in den finsteren Wald. Dort ist niemand.
»Ronja?«, ruft sie unsicher. »Bist du das?«