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Tina weiß nicht, wie lange sie schon um Hilfe ruft, ihre Stimme ist kurz davor, zu versagen.

»Hilfe! Hört mich denn keiner? Bitte, ich will hier raus!« Mehr ein Krächzen als ein ernstzunehmender Schrei, viel zu leise, als dass er nach draußen dringen könnte. Außerdem ist sie durch das Rufen durstig geworden. Ihre Zunge klebt am Gaumen und ihre Kehle ist voller Schleim, von dem sie dauernd husten muss. Was wiederum dafür sorgt, dass die Schmerzen in ihrem Schädel immer wieder neu aufflammen.

Keuchend lässt Tina den Kopf sinken. Der Geruch nach Erde ist überwältigend. Ihr ist kalt, so kalt. Immerhin ist mittlerweile ihr rechter Arm aufgewacht, weil sie die Hände permanent öffnet und schließt.

Eine erste Erinnerung streift sie. Doch sie lässt nicht zu, dass sie sich voll entfaltet. Weil es nichts Gutes ist. Wenn sie bloß mit der Polizei reden könnte, dann würde sie alles erzählen. Aber jetzt kann sie sich dem nicht stellen.

Kraftlos bringt Tina einige Rufe hervor. »Hilfe. Hilfe. Hilfe.«

Dann ist ihre Stimme plötzlich weg, und Tina schließt den Mund. Lange liegt sie da, hört ihrem eigenen Atem zu und wünscht sich, sie hätte einen einzigen Schluck Wasser.

Wieder tauchen Fetzen von Erinnerung vor ihrem geistigen Auge auf. Tina kneift fest ihre Augen zu, sie will nicht daran denken. Ihr Körper verkrampft sich, als wehre auch er sich gegen die Bilder, die vor ihr auftauchen.

Sie stößt ein Wimmern aus.

Nein, nein, geht weg. Ich ertrage das nicht. Geht weg!

Doch anstatt zu verschwinden, werden die Visionen deutlicher. Tina beginnt zu weinen. Sie kann das nicht sehen. Nicht jetzt, nicht morgen, nicht in diesem dunklen Loch. Es ist zu furchtbar.

Sie wendet sich hin und her, in der Hoffnung, dass der Schmerz erwacht und die Erinnerungen verscheucht. Sie muss verhindern, dass alles zu ihr zurückkommt. All ihre Fehler. Ihr Versagen. Es interessiert sie nicht, wer sie in diesem Loch eingesperrt hat. Alles, was sie sich wünscht, ist, dass in ihrem Kopf Ruhe herrscht. Nur für einen Augenblick. Damit sie schlafen kann.

Tina hört auf zu wimmern und wartet auf die erlösende Leere des Schlafes, der Ohnmacht, des Todes. Egal was. Hauptsache, sie muss sich nicht erinnern.

Ein ungewohnter Laut dringt in ihr Bewusstsein und lässt sie aufschrecken. Mit aufgerissenen Augen lauscht sie in die Dunkelheit.

Ist da draußen jemand?

Sie nimmt ein leises Knacken wahr, ein Geräusch, das wie Schritte klingt. Ein rhythmisches, dumpfes Stampfen. Es wird von Mal zu Mal lauter.

Tina mobilisiert ihre letzten Kräfte und öffnet den Mund. »Hilfe! Ich bin hier! Ich bin eingesperrt! Hil-fe. Hi-f-e.« Mehrfach versagt ihre Stimme, doch krächzend schreit sie weiter. Wer immer da draußen ist, er muss sie einfach hören.

Tina lauscht. Ein Schaben, etwas kratzt über Holz. Es klingt ganz nah. Als wäre jemand an der Tür zu ihrem Gefängnis.

Tinas Herz macht einen Sprung. »Hal-lo!«, keucht sie. »Ich bin hier dri-nnen!«

Ein weiteres Schaben ertönt, gefolgt von einem lauten Klacken wie von einem Riegel, der zurückgezogen wird.

»Ja! Bitte holt mich raus. Jochen? Bist du das?«

Die Tür öffnet sich, und grelles Licht fällt zu ihr in das Loch, das sie nun zum ersten Mal sehen kann. Es ist ein sehr kleiner Raum mit niedriger, gewölbter Decke aus dicken Steinen. Der Kriechkeller unter ihrem Haus? Warum kommt Jochen dann erst jetzt, um sie zu retten? Oder ist er es gar nicht?

Das Licht geht von einer Gestalt aus, die eine Stirnlampe trägt. Reglos hockt sie im Eingang.

Tina will ihrem Befreier etwas zurufen, doch eine neue Erinnerung blitzt in ihr auf. Bilder drängen sich in den Vordergrund, Momentaufnahmen von dem, was mit ihr passiert ist. Und in dieser Sekunde weiß sie, dass das dort nicht ihr Retter ist.

Sie schließt den Mund und starrt der Person angstvoll entgegen.

Diese bewegt sich, kriecht geduckt zu ihr ins Loch und kauert sich wie ein drohender Schatten neben sie. Eine Hand streckt sich nach ihr aus, und Tina zuckt furchtsam zusammen. Sie fühlt warme Finger über ihre Wange streichen.

Erneut keimt Hoffnung in ihr auf. »Bitte, lass mich raus. Ich werde auch nichts sagen.«

»Schhh«, kommt es als einzige Antwort. Die Hand fährt zärtlich über ihre Stirn und streicht eine Strähne zur Seite. Eine Flasche wird geöffnet und der Inhalt zuerst über ihr Gesicht und dann in ihren Mund gegossen. Gierig schluckt Tina das Wasser. Sie versucht das Gesicht des Kerls zu erkennen. Aber die Stirnlampe blendet sie, sie sieht nichts als grelles Licht und dahinter tiefe Schwärze.

»Bitte«, flüstert sie. »Niemand wird von alldem erfahren. Ich verspreche es. Lass mich gehen.«

Der Kerl hält unvermittelt inne. Zuerst denkt Tina, sie hätte ihn überzeugt. Doch plötzlich verpasst er ihr eine Ohrfeige.

Erschrocken keucht Tina auf, Tränen rinnen ihr aus den Augen. Nicht wegen der Heftigkeit des Schlags, sondern vielmehr wegen der schrecklichen Gewissheit, dass sie hier nie wieder rauskommen wird.

Weil dieser Mensch sie nicht gehen lassen wird.

Der Kerl stößt ein abfälliges Zischen aus. Er packt sie grob am Kinn und betrachtet sie eine Weile lang. Ohne Vorwarnung stopft er ihr etwas in den Mund. Ein Stück Stoff. Tina will sich dagegen wehren, versucht, das Knäuel mit der Zunge nach vorn zu schieben. Doch sie muss würgen, weil es tief in ihren Rachen drückt. Voller Schrecken hört sie, wie Klebeband von einer Rolle gerissen wird. Nein, nicht wieder das Klebeband! Sie spürt, wie es mehrfach fest um ihren Kopf gewickelt wird, damit sie den Knebel nicht wieder hinausbefördern kann.

Als der Kerl fertig ist, lässt er die Arme sinken und betrachtet stumm sein Werk.

Tina saugt panisch Luft durch die Nase ein, ihr wird schwindelig. Sie spürt, wie der Knebel sich langsam mit Speichel vollsaugt, und muss erneut würgen. Das Stück Stoff sitzt unverrückbar in ihrem Mund. Immer mehr Tränen verschleiern ihre Sicht, und nur schemenhaft bekommt sie mit, wie ihr Peiniger sich erhebt und das Loch verlässt. Die Tür schließt sich mit einem unbarmherzigen Knirschen und verbannt sie zurück in die Dunkelheit.

Kalte Nacht

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