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Sie halten mit den Polizeiwagen auf einem Parkplatz vor einer Pizzeria. Skagen steigt zusammen mit den anderen aus und sieht sich um. Das hier scheint der Mittelpunkt von Hultsjö zu sein. Sein erster Eindruck, den er von dem Dorf hat, lässt sich in einem Wort zusammenfassen: trostlos.

Die Wohnhäuser, der Supermarkt, das Restaurant und die Tankstelle mit dem Recyclingplatz daneben wirken leicht vernachlässigt. Skagen weiß, dass das an der extremen Witterung in Schweden liegt. Warme Sommer und kalte, feuchte Winter, das Klima nagt stetig an den Gebäuden und macht es den Bewohnern schwer, mit den Instandhaltungen hinterherzukommen.

Gegen die Sonne anblinzelnd blickt er zu Göran Berg hinüber, der die Beamten für die Suche in Gruppen einteilt. Skagen hält sich bewusst ein wenig abseits, da er noch nicht abschätzen kann, wie er sich integrieren soll, ohne Berg auf den Schlips zu treten. Der Polizeiinspektor scheint nicht der Typ zu sein, der es mag, wenn man sich einmischt. Doch das hat Skagen auch nicht vor. Sein Ansinnen ist es, zu helfen, und nicht, zu bestimmen.

Allerdings ist ihm klar, dass er gar nicht hier sein dürfte. Zumindest nicht als ermittelnder Beamter. Denn eigentlich ist er krankgeschrieben.

Wegen gestern. Er war wirklich kurz davor, es zu tun. War bis ins Letzte entschlossen. Aber während er in der warmen Nachtluft auf dem Fensterbrett kauerte und in die Tiefe starrte, streifte ihn eine Erinnerung. Es war Maja, wie sie damals an der Mole im Hafen von Karlskrona gestanden und ihn herausgefordert hat. »Traust du dich?«, hat sie gefragt und auf das dunkle Wasser zu ihren Füßen gezeigt. Dann hat sie ohne Vorwarnung Anlauf genommen und ist hineingesprungen. Der damals furchtlose Skagen hat nicht eine Sekunde gezögert und ist ihr gefolgt, kopfüber ins kalte Meer.

Mit diesem Gedanken saß er noch eine ganze Weile auf der Fensterbank, bis er merkte, dass er längst seine Entscheidung getroffen hat. Und schließlich zog er sich in die Wohnung zurück und begann, seine Sachen zu packen. Er wollte sich seiner Angst stellen. War entschlossen, sie zu umarmen. Wenigstens diesen einen Versuch war er Evelyn und Maja schuldig. Mit einer Mail bat er in Evelyns Praxis um eine Krankschreibung und war eine Stunde später unterwegs gen Norden. Im Morgengrauen erreichte er endlich vertrauten Boden und blickte mit müden Augen zum ersten Mal seit vielen Jahren auf die Stadt, die er lange nicht zu betreten gewagt hat.

Dass er in Karlskrona jedoch gleich in die Ermittlung mit eingebunden werden würde, damit hat er nicht gerechnet. Leider hat er vorhin auf dem Präsidium den Moment verpasst, den Irrtum aufzuklären. Deshalb würde er zumindest diesen Tag so tun müssen, als sei er Teil des Teams. Danach könnte er Maja und Göran Berg alles beichten und sich aus der Ermittlung zurückziehen. Und sich um das kümmern, weshalb er eigentlich hergekommen ist.

Skagen blickt zur Hauptstraße von Hultsjö. Einige Autos fahren vorbei und werden langsamer, neugierig gucken die Insassen zu ihnen herüber. Die vielen Polizisten erregen Aufmerksamkeit. Ein roter Pick-up hält an und der Fahrer ruft Skagen ein paar Worte zu. Der versteht nicht ganz und tritt an den Wagen heran.

»Was ist denn hier los?«, wiederholt der Fahrer, ein älterer Herr mit grüner Arbeitskleidung, Schirmmütze und graumeliertem Bart. Auf der Ladefläche seines Pick-ups liegen zwei Motorsägen, eine Axt und andere Gerätschaften für die Waldarbeit. »Wofür braucht es denn dieses Großaufgebot der Polizei? Eine Verkehrskontrolle wird das ja wohl nicht, was?« Der Mann lacht.

»Sind Sie aus Hultsjö?«, fragt Skagen.

»Ja. Aber du nicht, oder? Ich habe dich in der Gegend noch nie gesehen.«

Skagen begreift, dass er der Einzige ohne Uniform ist und der Mann ihn für einen Zivilisten hält. »Ich gehöre zur Polizei«, erklärt er, woraufhin sich der Autofahrer schnell entschuldigt.

»Kein Problem«, entgegnet Skagen. »Wir suchen nach einer vermissten Person. Einer Frau. Vielleicht kennen Sie sie. Sie heißt Christina Nowak und ist deutsche Staatsbürgerin.« Er zeigt ihm ein Foto von Tina auf seinem Handy.

Der Mann wird bleich und nickt. »Und ob ich die kenne. Die Nowaks haben das Haus der Egmans gekauft und sind somit quasi meine Nachbarn. Ich bin Ture Dahlberg und mein Land grenzt an das ihre. Ich habe mit Herrn Nowak den Deal, dass ich mich um seinen Wald kümmere, der zu seinem Haus gehört, und dafür kriege ich einen Teil seiner Bäume, wenn sie erntereif sind.« Dahlberg macht eine Pause und schluckt, sein großer Adamsapfel hüpft auf und ab. Hinter ihm beginnt es, unruhig zu fiepen, und erst jetzt bemerkt Skagen den Jagdhund auf dem Rücksitz. Ihm kommt der Gedanke, dass ein oder zwei Spürhunde für ihre Suche nicht verkehrt wären, und er beschließt, mit Göran darüber zu sprechen, sobald sich die Gelegenheit bietet.

»Das ist Nelly, unser Elchhund«, erklärt Dahlberg und tätschelt das Tier liebevoll. »Sie ist sehr lieb.« Er schluckt erneut. »Schrecklich, das mit Herrn Nowak und seinen Töchtern.«

»Sie haben davon gehört?«

Dahlberg stößt einen beinahe amüsierten Laut aus. »Es ist das Gesprächsthema in Hultsjö. Der Buschfunk ist hier eine größere Pest als der Borkenkäfer. Über die Nowaks wird ohne Ende spekuliert.«

»Aha, und was?«

»He, Tom!« Es ist Maja, die nach ihm ruft, und Skagen gibt ihr zu verstehen, dass er gleich bei ihr sein wird.

»Ihr Typ wird offensichtlich verlangt«, sagt Dahlberg und zwinkert ihm zu. »Kommen Sie doch später bei mir vorbei, ich wohne auf dem Ärkilsgård, den Hof kennt jeder in der Gegend. Sie brauchen nur danach zu fragen. Ich erzähle Ihnen dann, was ich weiß. Meine Frau kann bestimmt auch was dazu sagen. Aber Tina haben wir seit Längerem nicht gesehen. Ich hoffe, Sie finden sie.«

»Das hoffe ich auch. Danke erst mal.«

Dahlberg tippt sich an die Mütze und fährt weiter.

»Na, hast du schon Freundschaft geschlossen?«, fragt Maja, als er sich zu ihr gesellt. Neben ihr stehen Göran und ein rothaariger Polizist, der wirkt, als sei er gerade erst volljährig geworden. Göran blickt Skagen durch seine Sonnenbrille im Pilotenlook an. Alles an ihm sitzt perfekt, die Uniform, die kurzgeschnittenen dunklen Haare, selbst das überlegen wirkende Lächeln. Skagen kann zwar seine Augen nicht sehen, dennoch spürt er deutlich, dass sich Berg durch seine Anwesenheit herausgefordert fühlt. Soll er ihm direkt sagen, dass er nur zufällig hier ist, um ihm die Sache zu erleichtern?

»Joakim und ich werden weiter die Leute im Ort befragen, während die anderen in Richtung des Nowak-Hauses ausschwärmen«, erklärt Maja. »Willst du uns begleiten oder bei der Suche helfen?«

Skagen zögert, blickt von Görans kontrolliert cooler Miene zu Joakims gerötetem Gesicht. »Ich glaube«, sagt er vorsichtig, »ich möchte mir zuerst einen Eindruck von dem Haus verschaffen. Ist es von der Kriminaltechnik freigegeben?« Bei der Durchsuchung kann er, ohne die Befugnisse dafür zu haben, nicht viel falsch machen, bei Befragungen schon. Also würde er sich da vorerst raushalten.

»So weit, ja«, entgegnet Göran. »Natürlich kann es sein, dass wir noch nachträgliche Beweise sichern müssen, also verändern Sie nichts, okay?«

»Klar.« Auch wenn sich der Ermittlungsleiter ihm gegenüber wie eine einzige Provokation verhält, hütet Skagen sich, darauf einzusteigen. Allerdings nicht, weil er generell Kompetenzgerangel meidet, sondern weil es in seiner prekären Situation äußerst unklug wäre, einen Streit anzuzetteln.

»Okay«, sagt Maja. »Dann knüpfen wir da an, wo wir gestern aufgehört haben, und arbeiten uns systematisch durch die Straßen.«

»Alright, wir halten Funkkontakt.« Göran Berg gibt ihnen ein Zeichen, und die vier Gruppen von Polizisten marschieren los. Zuerst in Richtung der Bahngleise, die den Ort in zwei Hälften schneiden, danach wartet das unwegsame Gelände des Waldes auf sie.

Keine zehn Minuten später hält Berg mit dem Mannschaftswagen vor der Polizeiabsperrung in der Einfahrt der Nowaks. Auf dem Weg hierher hat Skagen ein Schild mit »Ärkilsgård« darauf entdeckt. Ture Dahlberg wohnt also tatsächlich in der Nähe.

Als sie aussteigen, rückt Göran Berg seine Sonnenbrille zurecht und faltet die Karte von Hultsjö und Umgebung auseinander, die er an der Windschutzscheibe des Busses befestigt.

»Halten Sie das eigentlich für angemessen?«, fragt er, ohne sich umzudrehen.

»Was meinen Sie?«, erkundigt Skagen sich irritiert.

Der Ermittlungsleiter zeigt auf sein T-Shirt. »Na, der Spruch. Reichlich unpassend für einen Polizisten, finden Sie nicht?«

Skagen schaut an sich hinunter und begreift. Auf seiner Brust prangt der Satz »Who can you trust?«, der Titel seiner Lieblingsplatte von Morcheeba. Göran Berg hat recht. Es spiegelt tatsächlich nicht das Bild eines seriösen Polizeibeamten wider. Normalerweise trägt er das Shirt nicht bei der Arbeit, aber als er gestern Nacht losgefahren ist, wusste er ja nicht, dass er heute an einer polizeilichen Aktion teilnehmen würde.

Ohne einen Kommentar zieht Skagen das T-Shirt aus und dreht es auf links. Dabei entgeht ihm nicht, dass Göran seinen bloßen Oberkörper taxiert und die Narben auf der Brust entdeckt. Schnell streift er das Shirt wieder über und fragt, ob es so okay ist. Fast hätte er erwartet, dass Göran jetzt auch noch die Schweißflecke unter seinen Achseln moniert, doch der Polizeiinspektor nickt mit großzügiger Geste. Danach zieht er sein Funkgerät aus der Halterung an seinem Gürtel und folgt Skagen auf dem Weg zum Haus. Das ständige Knacken und Knistern des Funks durchbricht dabei die Stille des Waldes.

Skagen versucht, alles Störende auszublenden, und geht mit wachen Sinnen die Schotterauffahrt entlang. Zuerst kommt eine Scheune in Sicht. Langgestreckt und windschief kauert sie neben dem Weg. Bestimmt ist sie über 100 Jahre alt. Das hier muss mal ein Bauernhof gewesen sein. Aber eher einer von der ärmlichen Sorte, auf dem sich die Menschen den Rücken krumm gearbeitet haben, um in dieser kargen Umgebung zu überleben. Keine dieser hübschen småländischen Bilderbuchvillen mit ihren Mansardengiebeldächern, wie man sie aus Reiseprospekten kennt.

Das Wohnhaus der Hofstelle sieht in Wirklichkeit wesentlich heruntergekommener aus, als es das auf den Bildern der Nachbarstochter Jenny getan hat. Vermutlich liegt es daran, dass gerade renoviert wird. Jemand hat begonnen, die Farbe an der Fassade abzukratzen und einige der weißen Rahmen um die Fenster abzulösen. Skagen nimmt an, dass sie morsch geworden sind und nach dem Streichen gegen neue ersetzt werden sollten. Doch das wird wohl erst mal nicht geschehen.

Er bleibt stehen und nimmt den Gesamteindruck der Gebäude in sich auf. Hinter ihm stoppt Göran, Skagen fühlt dessen Blick in seinem Rücken. Er kann es dem Ermittlungsleiter nicht verübeln, schließlich ist er eine unbekannte Komponente. Wenn er Berg wäre, würde er ihn genauso im Auge behalten.

Skagen konzentriert sich wieder auf das Haus. Es ist einstöckig mit einem stinknormalen ziegelgedeckten Satteldach, das von Moos übersät ist. Der Hauseingang wird durch einen Windfang mit Einfachverglasung geschützt. Der Bau wirkt insgesamt schlicht, weist kaum Zierelemente auf und besitzt ein Steinfundament, in dem sich vermutlich ein Kriechkeller befindet, wie es für solche Häuser typisch ist.

Skagen wendet den Kopf und entdeckt am Rand des Gartens, der von einer Mauer aus Findlingen begrenzt wird, einen Erdkeller, dessen Tür offen steht. Auf dem vertrockneten Rasen wachsen mehrere alte Apfelbäume, die lange nicht mehr professionell geschnitten worden sind. Eine Wand aus hohen Tannen umringt das Grundstück auf drei Seiten und nimmt viel Licht weg. Alles in allem ist es ein nicht besonders gepflegter Besitz. Viel können die Nowaks dafür nicht bezahlt haben.

Langsam geht Skagen um das Haus herum. Die Funkgeräusche verraten ihm, dass Göran ihm folgt. Doch Skagen versucht weiterhin, die Stimmung einzufangen. Das ist wichtiger als sein Ärger über den aufdringlichen Kollegen.

Auf der Rückseite des Hauses befindet sich eine überdachte Veranda, die definitiv bessere Tage gesehen hat. Einige der Planken sind durchgemodert und bilden gefährliche Stolperfallen.

Das Gelände auf dieser Seite des Grundstücks fällt leicht ab, und rasch hat Skagen eine Kloakengrube entdeckt, die am Waldrand hinter einem Erdwall liegt. Der Geruch nach Fäkalien dringt in seine Nase, als er sich dem Betondeckel nähert. Ein Stück weiter links liegt ein altes Sickerbecken, das seinen Dienst an den Menschen getan hat, bevor die modernere Mehrkammertechnik eingeführt wurde. Verdorrtes Schilf zeigt an, dass in dem kleinen Tümpel normalerweise Wasser steht, jetzt ist er bis auf den rissigen Grund ausgetrocknet. Jemand hat darin gegraben, Skagen bemerkt Spatenstiche und eingetrocknete Fußspuren.

»Sind die gesichert worden?« Er dreht sich zu Göran um, der ihn durch seine Sonnenbrille anstarrt.

»Gehe ich von aus. Unsere Jungs sind sehr gründlich. Und? Was denken Sie?«

»Bis jetzt noch nichts.« Diese Aussage stimmt zwar nicht, aber Skagen hat keine Lust, seine Meinung mit jemandem zu teilen, der bisher nichts anderes getan hat, als ihn misstrauisch zu beäugen. Außerdem will er zuerst in Ruhe seinen Rundgang beenden.

Als er sich dem Wohnhaus nähert, entdeckt er zu seiner Linken ein schiefes Toilettenhäuschen und eine andere ähnlich labil aussehende Hütte, in der früher bestimmt Werkzeug und Gartensachen aufbewahrt worden sind. Alles in allem zählt er auf dem Gelände fünf Gebäude, und das ist beinahe wenig für schwedische Verhältnisse. Eigentlich fehlen noch ein Gewächshaus, ein Gartenpavillon und mindestens ein Gästehaus. Besser wären zwei oder drei – man weiß ja nie, wer alles zu Besuch kommt.

Am Haupteingang mit dem Windfang bricht er nach einem zustimmenden Nicken von Göran das polizeiliche Siegel auf. Im Flur bleibt Skagen stehen und lässt zuerst die verschiedenen Gerüche auf sich wirken, die das Haus ausatmet. Altes Kiefernholz mit einer frischeren Harznote, Staub und muffiges Papier und etwas dumpfer darunter ein Hauch von Erde, am deutlichsten sticht der Gestank nach Kloake und gammelndem Müll hervor, der vermutlich in der Küche darauf wartet, rausgebracht zu werden.

Achtsam durchschreitet Skagen den Flur, der zu einem Wohnzimmer mit niedriger Decke und breitem Panoramafenster führt. Hier herrscht ein großes Durcheinander. Nichts scheint an seinem ursprünglichen Ort zu stehen. Zum Teil, weil die Spurensicherung auf der Suche nach Hinweisen die Möbel verrückt hat, aber auch weil zuvor offensichtlich renoviert worden ist. Die Zwischenwand zur Küche ist herausgerissen worden, und eine feine Staubschicht bedeckt den Dielenboden. Das Holz, das zur Wand gehört, ist nirgends zu entdecken, wahrscheinlich ist es von den Nowaks bereits rausgebracht worden. Dafür liegen überall Spielzeuge und Bücher herum. Außerdem Kleidungsstücke von Kindern und Erwachsenen, was wohl der Durchsuchung seiner schwedischen Kollegen zuzuschreiben ist. Skagen denkt an die jüngere Tochter im Krankenhaus und fühlt einen Stich im Magen. Überhaupt bereitet es ihm oft mehr Probleme, in den Sachen der Opfer herumzuwühlen, als zum Beispiel Todesbotschaften zu überbringen. Auch wenn es zum Job eines Polizisten gehört und er meistens gut darin ist, Zusammenhänge zu entdecken, wo andere nur Chaos sehen, heißt das noch lange nicht, dass er solche Dinge gerne tut.

Er dreht sich zu Göran um, der mit dem Funkgerät in der Hand hinter ihm steht. »Haben Sie Gummihandschuhe?«

Wortlos zupft der Kollege ein Paar aus seiner Tasche. Nachdem Skagen es sich übergestreift hat, beginnt er nacheinander Gegenstände aufzuheben und zu betrachten. Er untersucht einen Werkzeugkasten, eine pinkfarbene Haarspange in Blütenform – Zugehörigkeit unbekannt –, eine halbvolle Tüte mit Chips, einen massiven Kerzenleuchter aus Kosta-Boda-Glas und ein Dalapferd mit einem abgebrochenen Bein. Das fehlende Glied findet er einige Meter weiter unter dem Panoramafenster. Daneben liegt ein verschmutztes Ringelshirt, das vom kindlichen Schnitt und der Größe her mit Sicherheit Ronja Nowak gehört. Danach fühlt er vorsichtig in die Ritzen zwischen den Polstern, doch das Sofa scheint relativ neu zu sein, denn da ist nicht der kleinste Krümel. Auf dem klobigen Couchtisch, der wirkt, als sei er zusammen mit dem Haus gebaut worden, liegen Comichefte verstreut und ein abgerissener Knopf. Das dazugehörige Kleidungsstück kann Skagen nicht entdecken. Er sieht sich in den anderen drei Räumen um. Das Gestell des Doppelbetts im Schlafzimmer des Ehepaares ist alt, die Betten der Kinder und sämtliche Matratzen hingegen neu. Die Nowaks müssen als Erstes einen Ausflug zum nächsten Jysk unternommen haben.

Skagen öffnet den Kleiderschrank in Lolas Zimmer. Die Kleidungsstücke sind von den Kollegen der KTU zerwühlt worden. Neben dem Schrank steht eine Umhängetasche auf dem Boden und Skagen wirft einen Blick hinein. Schminksachen, ein Jugendmagazin, Kaugummis, sonst nichts. Er legt die Tasche auf das Bett und stellt sich ans Fenster, schaut hinüber zum Waldrand. Dabei streichen seine Finger gedankenverloren über das Fensterbrett. Kleine unregelmäßige Löcher befinden sich darin.

Wenig später geht Skagen zurück in den Flur und betritt das einzige Bad des Hauses. Es ist winzig und ein Traum aus den 70ern. Waschbecken, Toilettenschüssel, PVC-Wände und der Boden – alles in Beige. Sogar die einstmals durchsichtigen Plastikwände der Duschkabine sind vom huminhaltigen Wasser bräunlich verfärbt. Die Familie hätte noch einiges tun müssen, um alles auf einen halbwegs modernen Stand zu bringen. Im Bad stinkt es durchdringend nach Kloake. Skagen öffnet den Klodeckel, braunes Wasser steht in der Schüssel. Vielleicht Probleme mit dem Abwasser? Das ist bei alten Häusern nicht selten.

Auf dem Weg in die Küche fällt ihm ein Buch auf, das unter einer Jacke verborgen auf dem Boden liegt. Das Kleidungsstück ist vermutlich von der Garderobe gefallen, die darüber an der Wand hängt. Als er das Buch aufhebt, sieht er, dass es illustrierte Märchengeschichten enthält.

»Wichtel, Trolle und Königskinder« lautet der Titel, und das Bild auf dem Cover zeigt eine der berühmtesten Arbeiten des schwedischen Märchenmalers John Bauer: eine kleine, zartgliedrige Prinzessin mit goldenen Haaren, die wie ein helles Licht mitten in einer Gruppe von grobschlächtigen, knollnasigen Trollen hockt, die sie neugierig betrachten. Prinzessin Tuvstarr, eine Sagengestalt, die in Schweden jedes Kind kennt. Das Bild ist voller Magie und Liebe, aber auch Witz.

»Was ist? Hat Ihre Oma Ihnen zu Weihnachten immer von ›Tomte Tummetott‹ vorgelesen?«, fragt Göran, und Skagen merkt plötzlich, dass er selbst still vor sich hinlächelt. Er hätte eher mit einem Zitteranfall gerechnet als mit diesem warmen Gefühl in seinem Bauch. Ist seine alte Heimat etwa schon dabei, ihn zu verändern?

Er wendet sich dem schwedischen Kollegen zu. »Natürlich. Kein Weihnachten ohne Tummetott. Und bei Ihnen?«

Göran leckt sich über die Lippen, als wolle er ein Schmunzeln verbergen. Kurz darauf ist wieder diese versteinerte Coolness zu sehen. »Maja erzählte mir, dass sie Sie von früher aus der Schule kennt.«

»Ich habe in Karlskrona gelebt, bis ich 16 war. Dann bin ich mit meiner Familie nach Deutschland gezogen, auf die Insel Amrum. Meine Mutter stammt von dort.«

»Und Ihr Vater war Kapitän auf der Aspö-Fähre?«

Skagen grunzt amüsiert. »Wissen Sie das von Maja?«

»Sie sagte, sie seien oft umsonst mitgefahren, um auf den Schären zu baden.«

»Das ist richtig.« Er lächelt bei der Erinnerung daran, wie Maja ihn damals angesehen hat, als sie auf dem Fährschiff zum ersten Mal Händchen gehalten haben. Hoffentlich hat sie ihrem Chef nicht auch davon erzählt.

»Sie waren mal ein Paar, stimmt’s?«

Ohne etwas zu sagen, wendet Skagen sich ab. Er hat keine Lust darüber zu reden, erst recht nicht mit diesem Charmebolzen von einem Ermittlungsleiter.

»Anyway«, bellt Göran hinter ihm, »Sie sprechen zwar wie einer von hier, sind aber keiner von uns. Ist das klar?«

Herzlichen Dank für die Belehrung, denkt Skagen und fragt sich, ob Göran vielleicht eifersüchtig ist.

Ein Funkspruch vom Suchtrupp lenkt den Polizeiinspektor ab, und schnell legt Skagen das Buch auf den Boden zurück und entfernt sich ein paar Schritte. Noch einmal sieht er sich im Haus um, betrachtet all die Gegenstände. Sie erzählen eine Geschichte, die er erst noch zusammensetzen muss. Vielleicht könnte er am Ende des Tages wenigstens eine kleine Theorie präsentieren, bevor er die Ermittlung verließ.

Er will nach draußen gehen, da schallt Görans Stimme hinter ihm her: »Hey, Monk, warten Sie!« Der Ermittlungsleiter holt auf und tritt nach ihm durch die Tür. »Kann ich jetzt vielleicht erfahren, was Sie denken?«

»Nun, bisher kann ich nichts finden, was auf einen Missbrauch der Tochter hindeutet oder darauf, was der Grund für einen erweiterten Suizid sein könnte. Wenn es das ist, was Sie hören wollen.«

Göran schüttelt den Kopf. »Nein, ich …«

»Gibt es eigentlich einen Computer, der von den Nowaks mit in den Urlaub genommen wurde?«, will Skagen wissen.

»Nein, da war keiner, nicht mal ein Tablet. Muss so eine ›pädagogisch wertvolle‹ Familie gewesen sein.«

Skagen ignoriert Görans abfällige Bemerkung und zeigt auf eine niedrige Tür im Fundament des Wohnhauses. »Ich geh mir den Keller ansehen.«

»Da waren wir zwar auch schon, aber bitte sehr. Ich warte hier, die Suchtrupps müssen jeden Augenblick eintreffen.«

Skagen geht zu der Kellertür und drückt sie auf. Dahinter empfangen ihn Dunkelheit und ein dumpfer Geruch nach Erde. Sein Handy als Taschenlampe benutzend wagt er sich hinein. Der Raum ist nicht groß und der Boden aus festgestampftem Lehm. Doch bis auf einen vergammelten Schlitten befindet sich nichts darin.

Als er aus dem Keller in das helle Sonnenlicht tritt, nimmt er aus dem Augenwinkel eine Bewegung am Waldrand wahr. Es ist eine Polizistin mit gelber Weste, die sich aus dem Gestrüpp zwischen den Bäumen schält, dicht gefolgt von mehreren Kollegen. Keine fünf Minuten später sind alle vier Gruppen vereint. Verschwitzt und deprimiert gehen die Polizisten an Skagen und Göran vorbei zum Bus, wo sie Wasserflaschen hervorholen und durstig trinken.

»Ihr habt nichts gefunden?«, fragt Göran ungläubig.

»Nichts«, entgegnet die Frau. Ein kleiner Zweig hängt in ihrem lockigen Haar. Sie bemerkt ihn und zieht ihn heraus.

Während Göran und die Suchmannschaft sich zu der Karte auf der Windschutzscheibe des Busses begeben, nutzt Skagen die Gelegenheit und marschiert zur Scheune hinüber. Er schiebt das verwitterte Tor auf und lässt den Blick schweifen. Auf dem Boden entdeckt er einen Fleck, von dem er zuerst denkt, es sei Blut. Doch es scheint nur Farbe zu sein, gemischt mit einer anderen, dunkleren Flüssigkeit. Die kleine Lache ist bereits eingetrocknet. An einer Stelle wirkt es, als sei etwas verwischt oder hindurchgezogen worden. Skagen macht ein Foto davon und wendet sich der Kommode zu, in der laut Maja die Knochen entdeckt wurden. Es ist ein altes Ding, das wohl in die Scheune abgeschoben wurde, weil es zu schäbig geworden ist. Mit den Fingerspitzen nimmt Skagen Holzmehl aus dem Innern auf und betrachtet es mit gerunzelter Stirn. Er korrigiert seine Annahme: kein Auswurf von Holzwürmern, sondern getrockneter Lehm.

»He, Skagen?«, hört er Göran rufen. »Da drinnen ist nichts, das kann ich Ihnen versichern. Wir haben gestern alles gründlich abgesucht.« Der Polizeiinspektor klingt, als wolle er nicht, dass er ohne seine Aufsicht weiter herumschnüffelt. Markiert ganz klar, dass er der Chef ist.

Bereitwillig, und weil er eh nichts daran ändern kann, schiebt Skagen das Scheunentor zu, auch wenn er mit seiner Untersuchung nicht fertig ist. Als er sich umdreht und zu den Tannen hinaufblickt, die neben dem Gebäude stehen, fällt ihm etwas auf. Da hängt ein Gegenstand an einem der Äste und glänzt im Licht der Sonne wie ein Stück durchsichtiges Plastik. Skagen weiß sofort, was es ist.

»Berg, sehen Sie mal!«

»Was gibt’s?«, fragt Göran.

»Nun kommen Sie schon. Ich will es nicht anfassen, bevor Sie es nicht selbst in Augenschein genommen haben. Und bringen Sie einen Beutel mit, es könnte eine Spur sein.«

Während Skagen nach einem langen Stock sucht, um das Ding vom Baum zu fischen, hört er, wie sich Görans Schritte nähern.

»Ich sagte doch, dass wir alles abges…« Als der Ermittlungsleiter den Gegenstand entdeckt, hält er mitten im Satz inne. »Scheiße noch mal. Das ist uns wohl entgangen.«

Kalte Nacht

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