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Von Bindung und Erkundung

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Babys bringen zwei angeborene Verhaltenssysteme mit, die sich gegenseitig beeinflussen: das Bindungs- und das Erkundungssystem (Explorationssystem). Dabei verfügen sie über ein universelles Verhaltensrepertoire, mit dem sie das Bedürfnis nach Nähe, Geborgenheit, Zuwendung und Fürsorge ausdrücken. Je nachdem, wie alt sie sind, benutzen sie unterschiedliche Verhaltensweisen, um unangenehme Situationen (zum Beispiel Hunger, Müdigkeit, Krankheit oder Unruhe) zu beenden. Diese Verhaltensweisen nennt man Bindungsverhalten, weil sie ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit herstellen. Ein Neugeborenes weint oder schreit, wenn es hungrig ist oder friert. Dieses Weinen ist ein angeborenes Bindungsverhalten, um Beziehungen aufzubauen, aber auch um die eigenen Grundbedürfnisse zu befriedigen. Durch Schreien, Anschauen, Festklammern, Nach-Personen-Suchen und Nachkrabbeln signalisiert das Kind seiner Bezugsperson, dass etwas nicht in Ordnung ist und es Hilfe benötigt. Dabei wird die Bindung zu dieser Person jedes Mal intensiviert.

INFO

Kuschelhormon Oxytocin

Direkt im Anschluss an die Geburt ist das Neugeborene für eine Weile besonders ansprechbar. Etwa 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) besitzt der neue Erdenbürger, und jede davon beginnt sofort, Kontakt zu anderen zu suchen. Die ersten Minuten auf dem Bauch der Mutter, ihre körperliche Nähe, ihre zarten Berührungen, ihre liebevolle Stimme, ihr Geruch: Was im Gehirn wie ein Feuerwerk wirkt, ist der Beginn einer jahrelangen Vernetzung. Wer jemals die hellwachen Augen eines Neugeborenen erlebt hat, wird den Moment nie wieder vergessen. Dass die Mutter ihrerseits gleichzeitig fundamentale und positive Zuneigung zu ihrem Kind verspürt, wurde früher mit einem natürlichen Mutterinstinkt begründet. Den tatsächlichen Botenstoff für diesen »Instinkt« haben Wissenschaftler erst in den letzten Jahren gefunden: Oxytocin, auch Bindungs- und Liebeshormon genannt. Der weibliche Körper produziert Oxytocin am Ende der Schwangerschaft und während der Geburt in hohen Dosen. Lange nahm man an, dass es vor allem die Kontraktionen der Gebärmutter und den Milcheinschuss beeinflusst. Heute weiß man, dass das Kuschelhormon (das übrigens auch beim Liebesakt ausgeschüttet wird) außerdem das Bindungsverhalten unterstützt. Bei Haut-Haut-Kontakt (am besten Bauch an Bauch) schüttet auch das Baby eine Extraportion des Hormons aus, was nicht nur stressmindernd und beruhigend wirkt, sondern auch hilft, die emotionale Bindung aufzubauen. Ein anderes Beispiel: In fast jedem Fotoalbum findet sich ein Foto, auf dem Mutter oder der Vater mit dem Baby auf dem Bauch auf dem Sofa liegen, sich gegenseitig zärtlich anschauen oder beide schlafen. Auch dabei wird das Bindungshormon ausgeschüttet.

Bindungsverhalten und Bindungsantworten

Wie fast jeden Nachmittag ist Lukas (14 Monate) mit seiner Mutter auf dem nahe gelegenen Spielplatz; einige der anderen Kinder und Mütter kennt er bereits, andere nicht. Anfangs spielen Mama und Sohn gemeinsam im Sandkasten, aber dann signalisiert Lukas, dass er allein mit der Schaufel buddeln will. Seine Mutter setzt sich daher auf eine Bank und beginnt ein Gespräch mit der Frau neben ihr. Lukas schaut ab und zu in ihre Richtung und schaufelt dann beruhigt weiter; Mama ist ja da. Einmal geht er mit tapsigen Schritten zu ihr, um ein bisschen zu kuscheln. Doch dann kehrt er in den Sandkasten zurück. Ein Blick genügt, und er weiß den sicheren Hafen in Reichweite. Als ein älteres Kind auf Lukas zukommt, genügt ihm ein Blickkontakt mit der Mutter, um zu signalisieren: »Der buddelt ja nur neben mir.« Etwas anderes wäre es, wenn Lukas schon einmal eine schlechte Erfahrung gemacht hätte (»Vielleicht will mir der Junge meine Schaufel wegnehmen, so wie das Mädchen gestern.«). Dann wäre der Blickkontakt vermutlich nicht ausreichend, und Lukas würde zu seiner Mutter hinüberlaufen, um bei ihr Sicherheit zu finden.

Glücklicherweise hat die Natur es so eingerichtet, dass Eltern ein fürsorgliches System mitbringen. Mit Bindungsantworten (zum Beispiel auf den Arm nehmen, ansprechen, schaukeln, Körperkontakt herstellen) reagieren sie auf das Bindungsverhalten ihres Babys. Wenn ein Baby oder Kleinkind sich wieder sicher fühlt – so wie Lukas nach dem Blickkontakt zu seiner Mutter –, kann es weiter die Welt entdecken.

Das Explorationssystem wird nur dann aktiviert, wenn das Bindungsverhaltenssystem beruhigt ist – und umgekehrt. Dies lässt sich sehr gut bei jungen Krabbelbabys beobachten: Sie suchen immer wieder den sicheren Hafen oder das Basislager (Mutter, Vater) und damit Körperkontakt. Erst wenn sie genug Bindungsenergie getankt haben, können sie wieder auf Entdeckungsreise gehen und Neues lernen. Der Heimathafen bietet ihnen die Möglichkeit, auszulaufen und wieder zurückzukehren – egal wie lange die Erkundungsfahrt dauert. Bindung ist somit die Quelle der Sicherheit und die sichere Basis, um die Welt zu erkunden. Ohne Bindung gibt es keine Bildung.

WAS BEDEUTET BONDING?

Bonding und Bindung werden oft als Synonyme verwendet, obwohl das nicht ganz korrekt ist. Bonding bezeichnet die ersten bindungsstiftenden Kontakte zwischen der Mutter und dem Baby nach der Geburt (oder dem Vater, zum Beispiel nach einer Kaiserschnittgeburt). Bindung dagegen ist quasi das Endprodukt. Die Bindung, die in den ersten drei Lebensjahren entsteht, wirkt sich auf die gesamte Lebensspanne des Kindes aus. Eltern haben somit eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe!

FEINFÜHLIGKEIT


Eltern, die sich bemühen, die Signale ihres Babys zu deuten und entsprechend darauf zu reagieren, schaffen die Voraussetzung für eine gute Bindung.

SICHERE BINDUNG UND FEINFÜHLIGKEIT

Bei der Bindung an Personen geht es um weit mehr als um bloße Anwesenheit und Versorgung. Das Kind muss sich verstanden fühlen, braucht Ermutigung und emotionale Zuwendung. Gerade im ersten Lebensjahr lernt das Baby von seinen Eltern, dass es getröstet wird, wenn es sich wehgetan, sich unwohl fühlt oder Angst hat. Mutter und Vater nehmen es auf den Schoß, liebkosen und streicheln das Kleine (Stressreduktion). Die positive elterliche Reaktion erzeugt beim Kind große Zuversicht. Es weiß, dass es bei seiner Bezugsperson in Krisensituationen Schutz und Nähe suchen und sich sicher fühlen kann. Wenn das Kind etwas nicht allein schafft, kann es Hilfe holen.

Wissenschaftler haben festgestellt, dass Eltern (und andere Bindungspersonen) über drei Fähigkeiten verfügen müssen, um eine gute Bindung zu ihrem Kind aufbauen zu können und so den Grundstein für das Selbstvertrauen, die Selbstsicherheit und die spätere Autonomie ihres Kindes zu legen:

• Feinfühligkeit: Feinfühlige Eltern sind den Signalen ihres Babys gegenüber aufmerksam und reagieren angemessen und prompt.

• Verlässlichkeit: Das Baby weiß, dass seine Bedürfnisse befriedigt werden. Es kann seinen Eltern in jeder Situation vertrauen und auf sie zählen (Urvertrauen).

• Vorhersehbarkeit: Sie gibt dem Baby Sicherheit, weil es weiß, dass die Eltern in ähnlichen Situationen auch immer ähnlich reagieren (nicht heute so und morgen anders).

Schließen Sie die Augen und denken Sie an einen großen Baum. Er hat viele tiefe Wurzeln, die ihm bei Sturm und Wetter Halt schenken. Sein Stamm ist gerade, die Krone weit ausladend. Dieser Baum ist ein Bild für eine sichere Bindung: Die Wurzeln symbolisieren Nähe, Geborgenheit, Vertrautheit, Schutz und Liebe. Sie geben auch später noch Halt. Der Mensch muss manche Herbst- und Frühjahrsstürme überstehen, ohne umzufallen. Je kräftiger seine Wurzeln sind, desto widerstandsfähiger ist er (Resilienz, >).

LOSLASSEN – TEIL DER BINDUNG

Rufen Sie sich noch einmal den starken Baum ins Gedächtnis. Stellen Sie sich vor, dass auf seinen weitverzweigten Ästen unzählige Vögel sitzen. Die jüngeren unter ihnen machen unter der Aufsicht ihrer besorgten Mutter gerade die ersten Flugversuche. Jene, die schon etwas mehr Flugpraxis haben, dürfen alleine starten.

Die Vögel auf Ihrem Gedankenbaum sind ein Sinnbild für Wachstum und beständige Entwicklung. Auch Kinder werden »flügge«. Sie wollen selbstständig sein und ihre Flügel ausbreiten. Ein Wunsch, der sich nicht erst mit dem Auszug aus dem Elternhaus entwickelt, sondern bereits viel früher. Schon das Krabbelkind testet seine Selbstständigkeit, indem es zum Beispiel auf dem Spielplatz oder in der Spielgruppe von seinen Eltern fortkrabbelt – hin zu einem anderen Kind und dessen Mutter.

Sichere Bindung führt nicht zu Abhängigkeit, sondern im Gegenteil zu größerem Selbstvertrauen und zur Autonomie des Kindes. Eine alte chinesische Weisheit lautet: »Wenn die Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln. Wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel.« Zur sicheren Bindung gehört auch das Loslassen.

WIE VIELE BINDUNGSPERSONEN BRAUCHT EIN KIND?

Lange ging man vor allem in der klassischen Psychoanalyse davon aus, dass ein Baby nur zu einer einzigen Person eine feste Bindung aufbauen kann, nämlich zur Mutter; die Experten nennen dieses Phänomen Mutter-Kind-Dyade (»dyas« bedeutet auf griechisch »Zweiheit«). Heute weiß man jedoch, dass kleine Kinder zu bis zu drei Personen Bindungen aufbauen können – auch wenn die stärkste davon in den meisten Fällen tatsächlich die Bindung zur Mutter ist.

Mit der Zeit lernen die Kinder auch, Bindungen zu unterscheiden (hierarchisch zu ordnen), so wie sie lernen, ihre Eltern zu unterscheiden – nicht nur, weil sie anders aussehen, sondern auch, weil sie verschiedene Dinge mit dem Kind machen und sich ihm gegenüber unterschiedlich verhalten. Außerdem erkennen die Kinder den Unterschied zwischen Primärbindungen (Mutter, Vater) und Sekundärbindungen (beispielsweise Oma und Opa, Krippenerzieherin oder Tagesmutter). Zwar gelten Letztere »nur« als Bezugspersonen. Doch deshalb sind sie nicht weniger wichtig für das Kind. Es kann ja jederzeit einmal sein, dass Mutter oder Vater zum Beispiel krank werden und nicht bei ihm sein können. Dann ist es trotzdem nicht allein und darf sich sicher fühlen.

Die ersten 3 Jahre meines Kindes

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