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Lernen ist ein Grundbedürfnis

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Lange haben Entwicklungswissenschaftler gestritten, ob ein Kind eher von seinen Erbanlagen (Genen) oder durch die Umwelt geprägt werde. Ob es ein »Werk« der Gesellschaft oder seiner selbst sei. Heute ist sich die moderne Entwicklungspsychologie einig, dass Neugeborene zwar einen genetischen Plan (in der Fachsprache nature genannt) mitbringen, aber dass die Umwelt ( nurture ) und somit die Erfahrungen, die ein Kind macht, eine nicht minder wichtige Rolle spielen. Nicht zuletzt trägt auch die eigene Motivation des kleinen Menschen zur Entwicklung bei: Er will sich weiterentwickeln und hat den inneren Drang, die nächste Stufe zu erklimmen. Kinder entwickeln sich also aus eigenem Antrieb und mit allen Sinnen. Es macht ihnen Spaß, Neues zu lernen, zu entdecken und zu verstehen, weil sie von Natur aus neugierig sind.

Auch die These, dass Babys hilflos und rein reflexgesteuert seien, ist lange widerlegt. Seit über 20 Jahren weiß man, dass sie vom ersten Tag an lernbegierig sind. Hat ein Kind zum Beispiel nach vielen Monaten endlich gelernt zu krabbeln, gibt es sich damit nicht zufrieden. Sehr bald will es sich hochziehen. Kaum kann es sicher laufen, möchte es seine Fertigkeit optimieren und auf einer Mauer balancieren. Es will sich weiterentwickeln – und das ein Leben lang. Auch das kulturelle Umfeld beeinflusst die Entwicklung: Die Umgebung, in der ein Kind aufwächst, spielt dabei eine ebenso bedeutende Rolle wie die dort üblichen Sitten und Gebräuche. Denn Kinder passen sich ihren individuellen Entwicklungsbedingungen sehr gut an (Entwicklungswissenschaftler nennen diesen Prozess Adaption). So können zum Beispiel die meisten Kinder mit eineinhalb Jahren allein aus einer Tasse trinken oder ein Geschenk auspacken – vorausgesetzt, sie hatten vorher regelmäßig die Möglichkeit, andere bei dieser Tätigkeit zu beobachten und es selbst immer mal wieder auszuprobieren. Hatte ein Kind aufgrund seiner Herkunft keine Gelegenheit, diese Fähigkeiten zu üben, wird es sich dagegen mit hoher Wahrscheinlichkeit dabei schwertun. Das bedeutet jedoch nicht, dass es in seiner Entwicklung zurückläge oder auffällig wäre. Es konnte bisher einfach nur keine Erfahrung in den entsprechenden Fertigkeiten sammeln.

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Das Klavier und der Klavierspieler

Auf die genetische Ausstattung eines Babys haben Eltern – abgesehen von der Wahl des Ehepartners – keinen Einfluss. Dagegen können sie sehr wohl Einfluss darauf nehmen, wie sich das Kind entfaltet. Vergleichen Sie ein Kind einmal mit einer Klaviersonate; das Klavier entspräche den Genen, der Pianist der Umwelt. Ist das Klavier gut gestimmt, kommt es auf den Spieler an, das Musikstück zum Leben zu erwecken. Klimpert er andauernd nur wahllos auf den Tasten herum, klingt das genauso schräg, als würde er nur ab und zu die immer gleichen Töne anschlagen. Damit die Sonate schön klingt, ist ein harmonisches Spiel der Tasten erforderlich.

Was heißt normal entwickelt?

»Dein Kind kann schon krabbeln, obwohl es sechs Wochen jünger ist als meins.« »Mein Kleines kann immer noch nicht laufen, während dein Sohn die ersten Schritte schon mit elf Monaten gemacht hat.« Auf der ganzen Welt vergleichen Eltern ihre Kinder mit anderen, weil sie Angst haben, dass der Nachwuchs sich nicht altersgemäß entwickelt. Damit ist Stress vorprogrammiert, denn kein Kind gleicht dem anderen. Dasselbe gilt, wenn sich Eltern zu stark an Entwicklungstabellen orientieren, die sie in Büchern und Zeitschriften entdeckt haben. Diese Übersichten sollten lediglich als Orientierungshilfe dienen. Was als »normal« definiert wird, ist ein rein statistischer Befund. Diejenige Fähigkeit, die Entwicklungswissenschaftler bei den getesteten Kindern am häufigsten beobachtet haben, wird als Norm deklariert.

Wie ungenau solche Angaben sein können, zeigt der Vergleich zweier Statistiken, die deutsche Kinderärzte oft verwenden, um den Entwicklungsstand eines Kindes zu beurteilen: die »Münchner funktionelle Entwicklungsdiagnostik« (MFED) und der »Denver-Suchtest« (Denver Developmental Screening Test). Obwohl für beide streng wissenschaftlich und statistisch korrekt Daten von Kindern ausgewertet wurden, unterscheiden sich die Altersangaben zuweilen deutlich. So sollte ein Baby nach MFED mit 12 Monaten frei stehen können, laut Denver Developmental erst mit 13 Monaten.

INDIVIDUELLES TEMPO – ABER (FAST) IMMER IN DERSELBEN REIHENFOLGE

Besonders im zweiten Lebenshalbjahr geht die Entwicklungsschere weit auseinander. So drehen sich zum Beispiel einige Babys schon mit fünf Monaten vom Rücken auf den Bauch, andere erst mit neun. Auch beim Krabbeln und Laufen sind die individuellen Zeitunterschiede groß. Viel wichtiger als bloße Altersangaben ist daher die entwicklungschronologische Abfolge. Diese Abfolge und Zeiträume, bis wann ein Kind zum Beispiel krabbeln sollte, sagen weit mehr über die Entwicklung Ihres Kindes aus als bloße Momentaufnahmen. So kann beispielsweise eines von drei Babys im Alter von zehn Monaten flink durch die Wohnung krabbeln, sich am Sofa hochziehen und dort mit wackeligen Beinen stehen bleiben. Das zweite Baby bewegt sich robbend vor und hat gerade den wackligen Vierfüßlerstand erreicht. Das dritte macht die ersten Schritte. Was für Mütter und Väter wichtig ist: Jedes dieser drei Kinder ist unterschiedlich, aber altersgerecht entwickelt. Denn jedes Kind hat sein eigenes Tempo. Die Reihenfolge der einzelnen Entwicklungsschritte bis zum Ziel ist bei fast allen Kindern gleich. Lediglich um die zehn Prozent überspringen manchmal eine Phase.

Dazu kommt: Es gibt Kinder, die zum Beispiel im motorischen Bereich weit entwickelt sind, aber sprachlich etwas zurückliegen. Andere, die sich nicht viel bewegen, beobachten dafür die Welt ganz genau und saugen buchstäblich alles in sich auf. Grund dafür können unter anderem unterschiedliche Anlagen und Interessen sein.

Für jeden einzelnen Entwicklungsabschnitt braucht ein Kind ausreichend Zeit. Es ist zu jedem Zeitpunkt das vorläufige Ergebnis einer unvorhersehbaren Entwicklung. Denn jeder Mensch entwickelt sich auf individuelle und einzigartige Weise. Ein afrikanisches Sprichwort besagt: »Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.« Im Gegenteil, es würde wahrscheinlich sogar darunter leiden.

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Besser gleich zum Kinderarzt

In kaum einer anderen Wissenschaft melden sich so oft Laien zu Wort wie in der Entwicklungspsychologie. Auch wenn Sie, was die Entwicklung Ihres Kindes betrifft, unsicher sind: Setzen Sie sich nicht unter Druck, indem Sie andere Mütter und Väter um Rat fragen, sondern gehen Sie besser gleich zu Ihrem Kinderarzt oder einem Kinder- und Jugendpsychiater. Denn selbst wenn Ihr Kind einen Meilenstein noch nicht erreicht haben sollte, ist in den meisten Fällen keine Behandlung nötig. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich lediglich um eine Entwicklungsvariante.

Die ersten 3 Jahre meines Kindes

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