Читать книгу Wall Street Blues - Annette Meyers - Страница 10
ОглавлениеWetzons Augen brannten, als wäre ihre Wimperntusche verlaufen. Sie blinzelte schnell. »Entschuldigen Sie«, sagte sie, den Kopf in die Hände gestützt. »Das ist so ein Schlamassel. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
»Lassen Sie sich nur Zeit«, sagte Silvestri geduldig. Er zog ein kleines Notizbuch aus der Innentasche und sah sie erwartungsvoll an. »Wer war Barry Stark?«
Wer war Barry Stark, gute Frage, dachte sie, indem sie die Augen schloß. War, Vergangenheit. Barry Stark war vorbei. Kein Barry Stark mehr. Mit Mühe unterdrückte sie ein irres Kichern, das in ihrer Kehle aufstieg. Sie schlug die Augen auf und starrte verlegen und verwirrt auf den unbewegten Detective.
»Nein, das genügt nicht«, begann sie. »Barry Stark … Barry Stark war Börsenmakler. Bei Jacob Donahue und Co.«
»Jacob Donahue und Co.?« Silvestri schrieb es in sein Notizbuch. »Nie gehört.«
»Es ist eine kleine Maklerfirma, unten am Hanover Square.«
»Sie meinen, wie Merrill Lynch, nur kleiner?«
»Nein, ganz anders.« Sie schüttelte so heftig den Kopf, daß sich ihr Haar in dem ordentlichen Knoten bedenklich lockerte. »Die wichtigen Maklerfirmen, die Kabelhäuser wie Paine Webber, Dean Witter, Merrill Lynch, Shearson und Pru-Bache, sind alles Firmen mit dem vollen Angebot und Zweigstellen überall im Land, in der Welt.«
»Kabelhäuser?«
Wetzon steckte ihr Haar wieder fest. »Wenn eine Firma in der guten alten Zeit viele Zweigstellen hatte, wurde das Geschäft von den Außenstellen über die Zentrale mittels privat gemieteter Telefone oder Telegrafenleitungen geführt. Daher der Name ›Kabelhaus‹. Heute trifft das nicht mehr zu, weil alle auf Computer umgestellt haben, und die Bezeichnung steht inzwischen einfach für eine große Firma.« Sie befühlte ihre Frisur, zufrieden, sie so gut hinbekommen zu haben, wie es unter den Umständen möglich war.
Silvestri nickte. »Fahren Sie fort«, sagte er. »Erzählen Sie mir von …« Er warf einen Blick auf sein Notizbuch. »Jacob Donahue und Co.«
»Es ist eine kleine Firma für Neuemissionen mit ungefähr fünfundsiebzig Maklern und keinen Zweigstellen anderswo. Jake Donahue möchte gern alles in der Hand haben. Ich glaube, er könnte nicht mit einem Netz von Filialen umgehen. Es würde seine Befehlsgewalt verwässern.«
»Sie kennen ihn?«
»Nicht persönlich. Aber so, wie jeder Jake kennt. Er ist interessant. Er wird von Zeitschriften wie Manhattan, Inc. und Forbes interviewt, und er wird ständig zitiert.« Sie runzelte die Stirn. »Vermutlich würde ich ihn nicht erkennen, wenn ich ihn sähe. Er ist jedenfalls massig, von der Figur her. Irgendwie fleischig.«
Silvestris Blick folgte ihren Händen, und sie merkte plötzlich, daß sie gestikulierte und Jake Donahues mutmaßliche Statur mit Handbewegungen beschrieb. Sie machte das immer ganz unbewußt. Ärgerlich ließ sie die Hände in den Schoß fallen.
»Jedenfalls«, fuhr sie fort, indem sie auf ihre Hände blickte und ihnen befahl, stillzuhalten, »sagt er, daß er gern mit den Maklern persönlich zu tun hat. Sie sind handverlesen, und er bietet ihnen gute Bedingungen, fünfzig Prozent Auszahlung.«
Silvestri unterbrach sie mit einem Blick. Er übte eine eigenartige Anziehungskraft aus, die sie auf den ersten Blick nicht empfunden hatte. Oder vielleicht fühlte sie sich, müde und verwirrt wie sie war, einfach von der Ordentlichkeit angezogen, die er ausstrahlte.
»Die meisten Makler bringen es im Schnitt auf fünfunddreißig Prozent Auszahlung vom Bruttoauftrag«, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage. »Jake zahlt seinen Maklern fünfzig Prozent, aber um diese Provision zu verdienen, müssen sie verkaufen, was er ihnen sagt. Er verlangt Loyalität und vollkommenes Eingeschworensein auf seine Geschäftsmethoden. Das ist einmalig. Aber es ist nicht jedermanns Sache. Und Jake kann ein gefährlicher Feind sein.«
Silvestri notierte wieder etwas, aber es schien keine Beziehung zwischen dem, was sie sagte, und den Notizen, die er hinwarf, zu geben.
Eine blaue Uniform kam an den Tisch. »Sergeant, der M. E. ist hier. Und der Lieutenant ist auf dem Weg.« Silvestri sah auf und zuckte die Achseln, entschuldigte sich aber nicht. »Bin gleich wieder da«, sagte er.
Sie reagierte nicht, denn es gab nichts zu sagen. Er war am Zug.
Was war ein M. E.? überlegte sie. Ihr Kopf funktionierte nicht. Komm schon, Wetzon, schalt sie sich, reiß dich zusammen, du wirst es doch bringen. Silvestri würde zurückkommen, und sie wollte weder stumm wie ein Fisch noch, Gott behüte, wie eine hysterische Frau wirken.
M. E. mußte für »Medical Examiner« stehen. Natürlich, der Arzt, der die amtliche Leichenschau vornahm. Gut gemacht. Aber sie fühlte sich trotzdem gelähmt und benommen. Ihr war klar, daß sie eine Art Schockreaktion durchmachte. Die Zeit schien stillzustehen, bis Silvestris Stimme sie wieder in die Wirklichkeit zurückholte.
»Er war noch warm. Weniger als eine Stunde tot«, hörte sie ihn einem der anderen Polizisten erklären, einem großen Mann mit hängenden Schultern und tiefen Säcken unter den Augen. Silvestri setzte sich wieder ihr gegenüber. »Ich möchte wirklich so schnell wie möglich eine vollständige Aussage von Ihnen, Miss Wetzon.«
»Noch warm«, hatte er gesagt. Er sprach von Barry, als wäre er eine Sache.
Sie hörte jemanden aufstöhnen und merkte erschrocken, daß sie es selbst war. Silvestris Blick fiel auf sie, als sähe er wirklich sie, sie … Leslie Wetzon … keine Zeugin. Er hatte blaugrüne Augen und dunkle Wimpern, stellte sie fest. Türkise Augen. Komisch. Sie war sich sicher, daß sie vorher nicht diese Farbe gehabt hatten. Als ließ er diese Farben nicht in seine Augen kommen, wenn er sich dienstlich gab.
»Silvestri, einen Augenblick bitte.« Ein Mann Ende Fünfzig, unpassend in Abendkleidung, machte Silvestri von der Treppe zum Grillroom her ein Zeichen.
Silvestris Augen wurden dunkel. »Entschuldigung«, murmelte er im Weggehen.
Der Mann im Abendanzug legte Silvestri eine Hand auf die Schulter und redete gespannt mit ihm. Silvestri hörte zu und nickte. Der ältere Mann ging wieder die Treppe hinunter in die Lobby, und Silvestri sprach mit einem der Uniformierten und steuerte wieder auf Wetzon auf dem Balkon zu.
»Sie bringen jetzt die Leiche weg«, sagte er. »Kennen Sie jemand von seinen nächsten Verwandten? In seiner Brieftasche war nichts.«
Es war immer noch schwer zu glauben. Wie ein expressionistischer Traum. Dunkle Schatten, verzerrte Gestalten. Harte, grelle Farben.
Sie schüttelte den Kopf. »So gut habe ich ihn nun wieder nicht gekannt. Das ist erst das dritte Mal, daß ich ihn getroffen habe.« Was hatte sie überhaupt über sein Privatleben gewußt? Sie hatte ihn nur beruflich gekannt. Sie überlegte einen Moment. »Er sagte einmal, er sei in der Bronx aufgewachsen …« Was hatte er gesagt … wo kann ein armer Junge aus der Bronx soviel Geld verdienen … und auf legale Weise … außer als Börsenmakler. Etwas in der Art.
Silvestris aufmerksamer Blick wanderte über das Balkongeländer hinunter zum Grillroom. Er stand auf. Ein anderer Polizist gab ihm von unten ein Zeichen. »Der Lieutenant ist da«, rief der Polizist.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte Silvestri. »Brauchen Sie etwas? Es kann eine Weile dauern.«
Wetzon schüttelte den Kopf, geistesabwesend, ohne ihn weggehen zu sehen. Sie erinnerte sich daran, wie sie Barry Stark zum zweitenmal begegnet war … in Jake Donahues Büro.