Читать книгу Wall Street Blues - Annette Meyers - Страница 13

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Das Caravanserie.

Sie hatte Barry zu Harry’s mitgenommen, als sie ihn damals bei Jake Donahue getroffen hatte. Harry’s war eine der beliebten Schwemmen für Börsenmakler in der Gegend der Wall Street. Jeder pries etwas an, meistens sich selbst, und jeder feierte seinen erfolgreichen Tag oder eines anderen Pleite. Es war ein Ort der Selbsterhöhung. Und die Zahlen, von denen gesprochen wurde, waren oft aus der Luft gegriffen oder entsprangen einer blühenden Phantasie.

Wetzon hatte sich immer gewundert, wie hektisch, fast hysterisch alle diese Männer, denn die Männer waren eindeutig in der Überzahl, redeten und sich aufführten. Es war, als wären Irre aus ihrer Anstalt losgelassen worden. Ganz anders als Schauspieler und Tänzer nach den Vorstellungen. Schauspieler und Tänzer, ihresgleichen, ließen es gern langsam ausklingen. Die Vorstellung war gewissermaßen eine Abreaktion. Tänzer machten nach einer Vorstellung, was sie am liebsten taten – sie gingen tanzen.

Für die Börsenmakler und Händler, die zu Harry’s kamen, war Harry’s die Abreaktion.

»He, Barry, wie geht’s, Alter?«

Nach dem hellen Licht draußen mußte Wetzon mehrmals blinzeln, bis sie in der Dunkelheit deutlich sah.

»He, Kumpel«, hatte Barry gesagt, »lange nicht gesehen. Wie läuft’s so bei Witter? Du bist doch noch dort, oder?« Letzteres wurde mißbilligend gesagt. Der »Kumpel« war ein kleiner, sehr gut gekleideter junger Mann mit einer tiefen Welle im hellbraunen Haar. Es war entweder eine Dauerwelle, oder sie war mit Hilfe von Klips und Haarfestiger gemacht. Eine Haarsträhne fiel über eine glatte Stirn.

»Prima, ganz prima. Das ist mein bester Monat. Und ich mag Witter. Es ist eine tolle Firma, und sie sind mir gegenüber anständig gewesen.«

»Bestimmt. Kann ich mir denken.«

»Was treibst du so? Wer ist deine Freundin?«

»Entschuldigung, das ist Wetzon, von Smith und Wetzon.« Barry lachte laut. »Der Kleine hier ist Scott Fineberg.«

Wetzon gab Fineberg die Hand, ohne sich anmerken zu lassen, daß sie seit sechs Monaten im Gespräch waren. Am Telefon – getroffen hatten sie sich nie. Sie hatten in letzter Zeit sogar ernsthafter geredet, weil Scott bereit war, bei Dean Witter abzuspringen. Er hatte einige Rekordverkäufe zustande gebracht und seine Bruttoleistung um hundert Prozent gesteigert, aber die Firma hielt es immer noch für angebracht, ihn wie Luft zu behandeln. Er mußte sich mit acht anderen Maklern eine Verkaufsassistentin teilen, und deshalb war es mehr als wahrscheinlich, daß niemand an sein Telefon ging, wenn er einmal auf die Toilette ging oder mit einem Kunden zum Mittagessen oder, Gott behüte, einen Termin beim Arzt oder Zahnarzt hatte.

Sie hatten ihm endlich ein eigenes Büro gegeben, aber das war ein umgebauter Lagerraum, ein enges Loch ohne Fenster, und aus der Parisreise, die er für seine alle Rekorde brechenden Zahlen im Vergangenen bekommen sollte, war auch nichts geworden. Da nur zwei Makler in der Atlantikregion für die Reise in Frage gekommen waren, hatte die Geschäftsleitung beschlossen, nochmals zu überdenken, ob sie ihm die Reise dieses Jahr schenken sollte. Sie hielten ihn genaugenommen hin und hatten ihm statt dessen San Francisco angeboten.

Wetzon mußte sich immer wieder wundern, wie dumm Firmen waren und wie schäbig. Sie riskierten lieber, einen Makler zu verlieren, als daß sie ihm eine Hilfe gegeben hätten, damit er mehr Geld für sie hereinholen konnte. Und mit dem wohlverdienten Klaps auf die Schulter – in Scotts Fall die Parisreise – waren sie knickrig.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Wetzon«, sagte Scott Fineberg, ohne bei dem Namen mit der Wimper zu zucken.

Er stand ernsthaft mit Oppenheimer und Paine Webber im Gespräch, nachdem Wetzon die Kontakte hergestellt hatte.

»Also, was verkaufst du, Kleiner?« fragte Barry ungeduldig. »Was trinken Sie, Wetzon?«

»Heineken.«

»Zwei Heineken hier drüben bitte«, rief Barry durch den Lärm. An der Bar standen sie nun in drei Reihen, und hinter ihnen schoben sich immer noch Leute zu Harry’s hinein.

»Ich habe letzten Monat sechzig Mille mit diesen neuen Staatsanleihen gemacht, die wir anbieten.«

»Mann, sechzig Mille, toll!« Barry schlug Scott Fineberg auf den Rücken, dann nahm er die Biergläser, die ihnen über die Köpfe anderer Gäste gereicht wurden. »Bis später.« Er wandte sich abrupt ab und entfernte sich von Fineberg; Wetzon folgte, indem sie kurzen Blickkontakt mit Fineberg suchte und nickte.

»Verlogenes Arschloch«, sagte Barry. »Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, aber genau das ist er. Er sieht solche Zahlen nicht einmal von weitem. Ich kenne ihn. Das bringt der unmöglich.«

»Warum sagen Sie das?«

»Weil er eine taube Nuß mit guten Beziehungen ist, und sie geben ihm einfach was zu tun.«

»Tatsächlich?«

»Klar, Mann, das weiß doch jeder. Glauben Sie mir, auf mein Wort.«

»Hey, Mann, daß man dich mal wieder sieht? Lange her,

was?«

»Wie gefällt’s dir bei Jake, Stark?« fragte eine whiskeyschwere Stimme. Der dichte Zigarettenrauch und die gedämpfte Beleuchtung der Bar machten es schwierig, jemanden zu erkennen, bevor man mit ihm zusammenstieß, was allerdings ständig passierte, da sich so viele Leute hin und her schoben. Man mußte schreien, um von seinem Nebenmann gehört zu werden. Wetzon fragte sich, wie die Kellner behalten konnten, wer was bestellte und wie sie zahlten. In diesem Augenblick streckte ein Kellner in weißer Schürze eine Rechnung in den kleinen freien Raum zwischen ihr und Barry.

Barry übersah den Zettel und beugte sich zu der kleinen, unansehnlichen Frau hinunter, die nach seiner Stelle bei Jake gefragt hatte. Wetzon sah den Kellner an, der die Rechnung hielt, und nahm sie an. »Vielen Dank«, sagte sie.

»Keine Ursache«, bedeutete er mit den Lippen, verbeugte sich leicht und verschwand im Rauch.

»Es ist phantastisch, Mildred, du solltest es irgendwann mal probieren.« Barry lachte höhnisch.

»Zieht er immer noch seine Pyramidenmasche ab?« fragte Mildred genauso höhnisch. Ihr Gesicht war mehr als reizlos, es war ausgesprochen häßlich. Lederne Haut, fleckig, ein Bärtchen auf der runzligen Oberlippe, darüber eine sehr große Hakennase. Selbst in dem Schummerlicht glitzerten ihre Augen vor Bosheit. »Paß auf, was du tust, Mr. Klugscheißer.« Sie reckte sich und stieß mit einem knochigen Finger nach Barrys Brust.

»Hör mal, Mildred«, sagte Barry ruhig zu ihr hinunter, »du willst doch nicht etwa, daß meine Freundin hier glaubt, du drohst mir?« Seine bisher freundliche Stimme bekam einen gefährlichen Unterton. »Und nimm deinen verdammten Finger von meiner Brust.«

»Ich drohe dir nicht, du kleiner Scheißer, ich warne dich. Häng deinen Arsch nicht zu weit raus, oder Jake macht Gulasch aus dir und spült dich das Klo runter.« Sie blies ihm Zigarettenrauch ins Gesicht und ging weg.

Wetzon sah, wie Barry in der Dunkelheit die Faust ballte. Er machte einen Schritt hinter Mildred her, dann blieb er stehen und zuckte die Achseln.

»Du meine Güte, wer war denn die Schreckensgestalt?« fragte Wetzon, eine Hand auf seinem Arm. Sie konnte die Spannung durch seinen Rockärmel spüren.

»Mildred Gleason. Jake Donahues Ehemalige.«

Das war also Mildred Gleason. Eine der berühmten First Ladys der Wall Street, dachte sie, wer hätte geahnt, daß sie so eine derbe Frau war, die wie ein Mann aussah und redete.

»Mann, wie sie ihn haßt«, bemerkte Wetzon.

»Sie hat wohl allen Grund dazu«, grollte Barry. »Sie hat ihm auf die Sprünge geholfen. Er nahm ihr Geld, dann ließ er sie fallen. Er begann als Makler in der Firma ihres Vaters, heiratete die Tochter des Chefs, übernahm die Firma, als der Alte starb, und änderte den Namen in seinen eigenen. Sie wird stinksauer, wenn sie nur hört, daß er gute Leute anheuert und ein Schweinegeld verdient oder überhaupt Geld verdient.«

»Aber hat sie jetzt nicht ihre eigene Firma?«

»Ja, aber sie macht nicht so mit links Geld wie Jake. Jake scheffelt es geradezu. Und sie wird nicht immer notiert.« Er lachte. »Sie kann nicht anders, als so gemein sein, aber ich verstehe sie. Also kann ich sagen, wir sind in gewisser Weise Freunde. Sie ist nur manchmal schwer zu ertragen.« Er beruhigte sich allmählich.

»Von was für einer Masche hat sie da geredet?«

»Wenn manche Kunden ins Aktiengeschäft gebracht werden, wenn es eröffnet, und andere hineingebracht werden, wenn sie nach oben schnellt, so daß die Kunden, die unten einsteigen, das Geld machen, und die, die oben dazukommen, weniger …«

»Oder nichts.«

»Oder verlieren. Aber es klappt alles, glauben Sie mir, weil man jedem das eine oder andere Mal die Chance gibt, unten einzusteigen, jedem, außer solchen Widerlingen.«

»Was macht einen Widerling aus?«

»Jemand, der sich ständig beklagt, daß man nicht genug Geld für ihn macht. So Zeug.«

»Verstehe.«

»Das ist fair«, sagte Barry. Sie sah ihn zweifelnd an. »Jedenfalls eine genauso faire Chance, wie man sie überall auf dem Markt mit Neuemissionen bekommt.«

»Sogar bei Jake Donahue?«

»Ja.« Er hörte nur noch halb zu. Barry hatte einen Drang zur Geselligkeit, sein Blick huschte mit einer Art nervöser Intensität hin und her. Sie hatten ihr Bier ausgetrunken, und Barry war bei einem anderen Makler stehengeblieben, um ihm einen Tip für eine neue Aktie zu geben. Wetzon fand einen Kellner und bezahlte die Getränke.

»Gehen wir«, sagte Barry. »Ich nehme Sie mit hoch. Wohin wollen Sie?« Mit einem durchdringenden Pfiff rief er direkt vor Harry’s ein Taxi bei.

»West 86. Street.«

»Gut, dann steige ich unterwegs aus.« Er hielt die Tür für sie auf, da er voraussetzte, daß sie sowieso ein Taxi genommen hätte, um dorthin zu kommen. Aber sie wäre nicht Taxi gefahren. Sie wäre hinunter in den Schacht der IRT gestiegen und mit der U-Bahn nach Hause gefahren. Eine Taxifahrt hinauf kostete zwanzig Dollar, und Wetzon arbeitete zu hart für ihr Geld, um es an einem schönen Tag für eine Taxifahrt rauszuwerfen.

»Wohin?« fragte der Fahrer gelangweilt. Ein Paar Würfel baumelten an seinem Rückspiegel, und auf dem Armaturenbrett stand eine kleine Statue der heiligen Jungfrau. Das Radio spielte Hard Rock.

»65. und York.« Barry wandte sich an Wetzon. »Ich gehe noch ins Caravanserie. Tolles Lokal. Schon mal dort gewesen?«

»Noch nicht. Ich weiß aber, daß es Ihrem Freund Georgie Travers gehört.«

»Ja, ich bin Gründungsmitglied. Bekam die allererste Karte, die ausgegeben wurde.«

»Was genau bekommt man als Mitglied außer der Karte?«

»Den Fitneß-Club, Tennis- und Squashplätze, Poolbillard und nicht zu vergessen, die Disko. Die Disko ist das beste.«

»Sie gehen jetzt trainieren?«

»Noch nicht. Georgie nutzt die Disko vor der Öffnungszeit für Kontakttreffen. Er macht das einmal im Monat, von sechs bis halb acht. Ich gehe jetzt zu einer. Möchten Sie mitkommen? Es ist nicht Ihr Verein heute abend, es ist die Unterhaltungsbranche, wissen Sie, Showbusineß.«

Sie lächelte ihn an. »Sie haben recht, nicht mein Verein. Was nimmt Georgie dafür?«

»Sechs Mäuse mit einer Einladung. Ich habe dort mehr Kontakte geknüpft als irgendwo anders, natürlich alle geschäftlich. Interessiert?«

»Ich kann heute abend nicht.«

»Ich lasse Sie auf die Liste setzen.« Barrys Großzügigkeit hörte sich wichtigtuerisch an. »Eine Menge Makler verkehrt dort. Ich habe durch diese Sitzungen viele dicke Konten eröffnet.«

Sie waren an der First Avenue. Barry beugte sich vor. »Sie können mich an der 65. Street absetzen und die Dame … wohin haben Sie gesagt?«

»86. und Columbus.«

»Ach ja«, sagte Barry geistesabwesend. Er bot nicht an, den Fahrpreis zu bezahlen. »Bis dann.« Er war aus dem Taxi gestiegen, ohne sich umzusehen.

Und Wetzon hatte ihn bis heute nicht mehr gesehen.

Sie legte eine Hand vor die Augen. Es kostete sie große Mühe, sie offenzuhalten. Sie merkte, wie ihr Kopf heruntersank. Sie legte ihn auf die Arme auf dem Tisch. Dann spürte sie eine Hand auf der Schulter, eine warme Hand durch ihre Kostümjacke.

»Es tut mir leid«, sagte Silvestri freundlich. Sein Atem strich über ihr Ohr. »Am besten lasse ich Sie von einem meiner Leute nach Hause bringen, und wir unterhalten uns morgen.«

Sie machte mit einiger Anstrengung die Augen auf und versuchte, ihn anzulächeln. »Ja. Nein«, sagte sie. »Entschuldigen Sie. Ich kann mich anscheinend nicht konzentrieren.«

»Wie ist Ihre Adresse?« Er winkte, und ein junger Bursche in Uniform kam an den Tisch. »Das ist Officer Lyons. Jimmy, bringen Sie bitte Miss Wetzon nach Hause.« Er holte ein paar Schlüssel aus der Jackentasche und gab sie Lyons. »Sie wissen, welcher meiner ist?« Lyons nickte. »Ich möchte morgen früh als erstes mit Ihnen sprechen, Miss Wetzon … falls es Ihnen recht ist. Können Sie so um zehn ins Revier kommen?«

Sie nickte, als er ihr seine Karte gab, die sie gedankenverloren in die Kostümtasche steckte. Sie wollte noch nicht nach Hause. Sie wollte Smith sehen, mußte mit Smith darüber reden, was passiert war. »Wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte sie, »möchte ich lieber in die Wohnung meiner Freundin gehen.«

»Okay, Jimmy bringt Sie hin. Schreiben Sie mir einfach die Adresse und Telefonnummer auf und auch Ihre Nummer zu Hause, für den Fall, daß ich Sie vor morgen erreichen muß.« Silvestri reichte ihr sein Notizbuch und stand auf, um mit Lyons mit dem Milchgesicht und Metzger mit den Tränensäcken zu reden.

Wetzon betrachtete die Seite in seinem Notizbuch. Seine Handschrift war scheußlich, ein unleserliches Gekritzel. Sorgfältig druckte sie ihre Adresse und Telefonnummer auf die Seite, dann Smith’ Adresse und Nummer. Sie fühlte sich so zerknittert, wie sie alle aussahen. Und müde. Ihr Gesicht war feucht und kalt. Sie stand auf, die Handtasche an sich geklammert, mit unsicheren Beinen, und schob den Stuhl zurück. Gelbe Punkte tanzten vor ihren Augen. Hätte keinen Wodka auf nüchternen Magen trinken sollen. Sie berührte die Tischkante mit den Fingern und atmete tief durch. Sie strich über ihren Rock und zog die Kostümjacke glatt. Es war warm, sehr warm, ungemütlich warm.

Dann fiel ihr Blick auf den Diplomatenkoffer. Auch das noch, dachte sie. »Sergeant Silvestri«, rief sie, aber er war schon zu weit weg und hörte sie nicht. Aus allen Ecken des Restaurants kam Lärm, überall waren blaue Uniformen und eine Menge Leute, die wie Kriminalbeamte aussahen. Es befanden sich immer noch einige Kunden, die befragt wurden, auf dem Balkon und im Grillroom.

»Geht in Ordnung, Miss«, sagte Jimmy Lyons und nahm ihren Arm. Er sah nicht alt genug aus, um sich rasieren zu müssen, geschweige denn Polizist zu sein. Sie wollte es ihm sagen, aber ihre Stimme ließ sie im Stich. »Hier, lassen Sie mich die Tasche tragen.« Lyons hob den Diplomatenkoffer auf, und sie fühlte sich die Treppe vom Balkon hinuntergeschoben, über den Boden des Grillrooms, von Männern aus einer anderen Welt, die nicht in die Eleganz des Raums zu passen schienen, angestarrt, vorbei an Angestellten des Four Seasons, die immer noch Speisen und Getränke servierten. Sie glaubte, Martin flüchtig zu sehen, aber der Druck an ihrem Arm war fest und stützend, und Jimmy hielt sie in Bewegung.

Sie kamen jetzt die Treppe in die Lobby hinunter, wo ihr Blick, so sehr sie sich auch anstrengte wegzusehen, direkt zum Telefonbereich ging, der jetzt seltsamerweise fast verlassen war. Ohne es zu wollen, fragt sie sich, was mit Barrys Leiche geschehen würde. Wer würde seine Familie benachrichtigen? Hatte er überhaupt Angehörige? Jeder hatte irgendeine Art Familie. Sie gingen jetzt durch die Tür und auf die Straße. Ein Schwall kühler Luft. Es war dunkel. Sie hatte das Gefühl für die Zeit verloren. Ein Blitzlicht flammte auf, blendete sie. Sie zog den Kopf ein und hielt eine Hand vor die Augen.

»Wie heißen Sie?« rief jemand barsch und zerrte an ihrem Arm. »Haben Sie’s getan?«

»Zurücktreten, zurücktreten!« Da waren noch mehr Uniformen. Wetzon fühlte sich schwindlig, geblendet von dem Blitzlicht, verwirrt von der Menschenansammlung. Sie taumelte, dann fühlte sie sich von starken Armen gehoben. Sie saß hinten in einem Auto. Sie saß auf etwas Unförmigem. Sie stemmte sich ein wenig hoch, griff unter sich und zog einen Lederhandschuh vor. Einen Baseballhandschuh. Sie legte ihn neben sich; alles strengte sie so an.

»So, Miss«, sagte Jimmy. »Jetzt ist es geschafft Ich bringe Sie hier raus.« Er schloß die Tür, und sie ließ sich in den Sitz sinken. Falls dies Silvestris Auto war, dann war er sehr unordentlich. Im trüben Licht von der Straße sah sie neben sich, unter dem Fanghandschuh, etwas, das nach einem Bündel Wäsche aussah. Auf dem Boden neben ihren Füßen lagen ein Paar sehr schmutzige, zerrissene Turnschuhe und zwei Baseballschläger. Sie beugte sich vor, um zu sehen, was draußen los war. Ein Gesicht preßte sich an die Scheibe. Leute starrten. Manche hatten Kameras dabei. Die Straße wimmelte vor geschäftigen Polizisten. Da waren Absperrgitter, Blinklichter, Rufe.

Jimmy stieg ein. »Ich bringe Sie in Null Komma nichts in die 78. Street hoch«, sagte er fröhlich. »Lehnen Sie sich einfach zurück, damit Sie sich nicht weh tun.«

Sie lehnte sich neben dem Wäschebündel zurück. Sie fühlte sich jetzt selbst wie ein Sack schmutziger Wäsche, und ihre Sehnsucht nach einem heißen Bad wurde stärker.

Auf der Third Avenue herrschte starker Verkehr, doch Lyons fuhr schnell, als habe er es eilig, zum Einsatz zurückzukommen. Sie starrte in die Dunkelheit und versuchte zu erkennen, wo sie waren, hielt nach einer bekannten Ladenfront Ausschau. Es wurde jetzt so viel gebaut an der Third Avenue; fast an jeder Ecke schien ein riesiger Kran aufzuragen.

Barry. Auf was hatte er sich da eingelassen? Sie wünschte, sie könnte aufhören, darüber nachzugrübeln.

Dann fuhr Jimmy vor Smith’ Haus vor.

»Es geht schon, bestimmt«, sagte Wetzon zu dem jungen Polizisten, als er ihr aus dem Auto half. Er war sehr auffällig in seiner Uniform, und es war ihr ein wenig peinlich, als ob sie etwas verbrochen hätte. Es war das »Was-werden-die-Leute-sagen«-Syndrom. »Spießbürgerlichen Quatsch« nannte es ihr Freund Carlos.

»Ich bringe Sie nach oben«, bot Jimmy Lyons an.

»Nein, nein, es ist wirklich nicht nötig«, beruhigte sie ihn. »Tony ist da, und er kümmert sich um mich.« Smith’ Portier kam mit einem breiten Begrüßungslächeln und unverhohlener Neugier auf sie zu.

»Okay, Miss.« Jimmy schien sich zu freuen, sie los zu sein, weil er es kaum erwarten konnte, wieder in der spannenden Atmosphäre im Four Seasons zu sein.

»Abend, Miss Wetzon«, sagte Tony. »Sie ist vor einer guten Stunde nach Hause gekommen.« Er blieb dienstbereit stehen.

»Danke, Tony. Wie spät ist es überhaupt?«

»Fast neun. Alles in Ordnung?«

»Ja, danke.« Ihre Stimme schien einer anderen zu gehören.

Sie waren in der Halle, als Jimmy Lyons plötzlich wieder neben ihr stand, sehr groß und sehr blau. Im hellen Licht der Halle bemerkte sie, daß er ein spärliches blondes Bärtchen hatte. Warum hatte sie es vorher nicht bemerkt? »Ich hätte fast Ihren Koffer vergessen«, sagte er und stellte ihn auf den Boden neben sie. Er strahlte sie an. Die Aufzugtür glitt auf.

»Bitte, ich mach’ das schon«. Tony stellte den Diplomatenkoffer in den Aufzug.

»Warten Sie«, sagte Wetzon und streckte die Hand nach Jimmy aus. »Warten Sie … dieser …«

»Ist okay, Miss«, sagte Jimmy bescheiden. Er nahm wohl an, sie wolle sich erkenntlich zeigen.

Tony hielt die Aufzugtür offen und stand zwischen ihr und Lyons. Eine füllige Frau mit einem mit Schleifchen geschmückten Pudel kam durch die Halle gerauscht, starrte Lyons an, starrte Wetzon an und drängte sich naserümpfend an der Gruppe vorbei in den Aufzug. Dann sagte sie ungehalten: »Sie halten uns auf, wenn ich bitten darf.« Sie trug einen Nerzmantel, eine Menge Nerz. Der Pudel schnüffelte arrogant. Seine Zehennägel waren rot angemalt.

Wetzon – nervös, aufgeregt, müde – kicherte. Tony ließ die Tür los. »Sagen Sie Sergeant Silvestri …« rief Wetzon, und die Tür schloß sich.

»Was es heutzutage alles gibt.« Die indignierte Frau redete mit ihrem Pudel. »Drücken Sie lieber Ihr Stockwerk«, sagte sie zu Wetzon, »oder Sie fahren mit uns ins Penthaus.« Was heißen sollte, und ich möchte Sie nicht in der Nähe meines Penthauses sehen. Der Pudel bleckte höhnisch die Zähne.

Wetzon drückte auf 5, und als der Aufzug hielt, wollte sie sofort aussteigen.

»Sie vergessen Ihren Diplomatenkoffer«, sagte die Frau hochnäsig.

Ich vergesse immer meinen Koffer, dachte Wetzon plötzlich gereizt. Vielleicht weil der verflixte Koffer gar nicht meiner ist. Sie bückte sich, zerrte ihn mit einem Ruck aus dem Aufzug und schleppte ihn zur 5G, Smith’ Wohnung. Wie blödsinnig schwer das verdammte Ding war. Seufzend drückte sie auf die Türklingel.

Der Spion klickte. Sie streckte die Zunge heraus. Im Nu wurden die Riegel bewegt und die Tür geöffnet.

»Hey, Ma«, schrie Mark. »Alles okay. Ich hab’ dir doch gesagt, daß sie okay ist.« Tony hatte sie offenbar nicht angemeldet. Soviel zu diesen feinen Häusern an der East Side.

Wall Street Blues

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