Читать книгу Wall Street Blues - Annette Meyers - Страница 9
ОглавлениеMein Gott, mein Gott«, murmelte Wetzon und wich zurück. Ihr Fuß stieß an den Diplomatenkoffer, und ohne nachzudenken, hob sie ihn auf. Überall war Blut, auf Barry, auf dem Boden.
Ein paar Schritte von der Telefonzelle entfernt war der Garderobenraum. Es war kein Betrieb, weil der Tag so mild gewesen war. Sie schob sich durch die Tür und ging so ruhig sie konnte zur Garderobe.
»J. P.«, sagte sie zu dem jungen Mann hinter der Theke. Ihr Gesicht schien ihr wie erstarrt. »In der Telefonzelle liegt ein Verletzter. Schnell, holen Sie Martin, bitte.«
Mit der unerschütterlichen Selbstsicherheit, die mit dazu beitrug, daß er so ein guter Oberkellner war, nahm Martin sofort die Sache in die Hand. J. P. wurde mit einem Auftrag nach oben geschickt, den Wetzon nicht hören konnte, weil Martins Stimme im Geplapper und Hin und Her der Gäste unterging. Zuerst war Wetzon sich sehr vernünftig vorgekommen, aber jetzt wurde ihr die Ungeheuerlichkeit dessen, was geschehen war, bewußt. Alles hörte sich jetzt an, als käme es vom Ende eines langen Tunnels. Anscheinend vergessen, sank sie dankbar in einen der Korbsessel, die den Lobbybereich zierten.
Es war kaum zu glauben, daß ein sehr lebendiger Barry Stark vor weniger als einer Stunde bei ihr gesessen hatte, mit seiner ganzen Verrücktheit und dennoch wirklich, ein Barry aus Fleisch und Blut – Blut –, aus Fleisch und Blut und atmend, der ihr unbedingt seine Geschichte erzählen wollte: Seine Geschichte.
Ihre Augen waren blind auf den Diplomatenkoffer gerichtet, der mitten in der Lobby stand, zwischen ihr und den Telefonzellen, wo Martin jetzt mit dem Rücken zu ihr stand.
So etwas wie ein Sicherheitsposten tauchte aus dem Nichts auf, sehr amtlich aussehend, sehr stämmig, mit kurzgeschnittenem Haar, pockennarbiger Haut und groben Zügen. Ire, berstende Muskeln in einem dunkelblauen Anzug. Er und Martin sprachen kurz miteinander, dann hob Martin den Diplomatenkoffer auf und kam auf sie zu. Er reichte ihr mit einem mitfühlenden und besorgten Ausdruck die Hand und half ihr auf die Beine. Er hakte sie unter, führte sie die wenigen Schritte zur Treppe und dann hinauf, und bald darauf saß sie an einem Ecktisch auf dem Balkon über dem überfüllten Grillroom. Jemand, sie merkte nicht, wer, stellte einen Drink vor sie. Sie sah nicht auf.
»Leslie, bitte …« Es war Martin, der sehr freundlich sprach. »Trinken Sie davon einen Schluck. Das hilft. Ich verspreche es.« Sie sah ihn fragend an. »Das ist in Ordnung, es ist Wodka.« Wie immer wußte er goldrichtig, was er zu tun hatte. »Wir haben das Restaurant geschlossen und sagen jetzt etwas über einen Unfall an«, fuhr er fort. »Wir werden wohl leider alle hier festhalten müssen, bis die Polizei eintrifft.«
Wie auf ein Stichwort begann Tom Margittai gemeinsam mit Paul Kovi, Besitzer des Four Seasons, zu sprechen und bat um Ruhe. Zunächst achtete niemand auf ihn, aber in diesem Augenblick erschienen mehrere Männer in blauen Uniformen auf der Treppe, gefolgt von einigen anderen in Zivil.
»Verehrte Damen und Herren«, wiederholte Margittai, »ich muß Sie leider bitten, an Ihren Plätzen zu bleiben. Wir hatten unten einen Unfall, und die Polizei wird Ihnen einige Fragen stellen wollen. Wir bedauern sehr die Unannehmlichkeiten, die wir Ihnen damit zumuten, und wir übernehmen alle ausstehenden Rechnungen auf das Haus. Die Bar bleibt offen für alkoholfreie Getränke, bis Sie das Haus verlassen dürfen.«
Rufe wurden laut. »Was ist passiert? … Ich komme zu spät zum … Ich muß telefonieren … Was ist mit Lucy, sie will mich hier treffen …«
Die Proteste wurden lauter. Viele standen an ihren Tischen auf, hatten vielleicht vor, trotzdem aufzubrechen. Die Kellner hielten sich alle in der Nähe des Oberkellners auf und warteten auf ein Zeichen von Martin.
»Meine Damen und Herren«, sagte ein dunkler, untersetzter Mann in einem zerknitterten Anzug, gerade so laut, daß man ihn über dem Stimmengewirr hören konnte. »Wir haben nicht vor, Sie länger als unbedingt notwendig festzuhalten, helfen Sie also bitte mit.«
Wetzon bemerkte zwei uniformierte Polizisten, die den Eingang zu dem Korridor bewachten, der zum Poolroom, dem eleganteren Speiseraum, führte.
»Bitte nehmen Sie alle Platz«, sagte Mr. Margittai. Er sprach leise mit dem Mann im zerknitterten Anzug, dann fügte er hinzu. »Unsere Kellner bedienen Sie gern mit alkoholfreien Getränken und kleinen Gerichten.«
»Ich bin Sergeant Silvestri, und ich gehöre zum 17. Revier«, sagte der Mann im zerknitterten Anzug, indem er nach vorn kam. »Meine Leute werden jetzt Ihre Namen und Adressen aufnehmen und Sie bitten, irgendein Ausweispapier vorzulegen. Wenn diese überprüft sind, werden wir Sie nicht weiter aufhalten, aber möglicherweise werden wir später noch einmal mit Ihnen Verbindung aufnehmen. Wir werden versuchen, Sie sowenig wie möglich zu belästigen«, schloß er und sah sich in der unruhigen Menge um.
»Was ist passiert?« rief eine Frau. »Wollen Sie uns nicht wenigstens sagen, worum es hier geht?« Wieder wurden Stimmen laut, die zunehmend gereizt klangen, als weitere Detectives in ihrer saloppen Straßenkleidung in den Grillroom und den Barbereich ausschwärmten. Sie stachen von den teuer gekleideten Stammgästen ab.
»Ein Mord. Es ist jemand ermordet worden«, sagte Silvestri, und wieder drohten Proteste seine Stimme zu übertönen. Er lehnte am Podium des Oberkellners und wartete geduldig, während er über die Tische blickte, bis sich der Lärm legte.
Ein Mord, dachte Wetzon. Barry war »ein Mord« geworden. Und sie war wütend gewesen, weil er sie allein gelassen hatte und nicht zurückgekommen war. Er war egozentrisch und vielleicht kein guter Makler, und wahrscheinlich war er nicht sehr ehrlich, verkaufte den Leuten zweifellos Dinge, die sie nicht brauchten, und er könnte sogar ein Drogenhändler gewesen sein, wie Smith behauptete, aber er hatte es nicht verdient zu sterben, und gewiß nicht so. Ihre Hand zitterte. Sie umklammerte die Tischkante, um sich zu beruhigen, die Finger weiß gegen das glänzende dunkle Holz. Dann sah sie den Drink, den sie vergessen hatte, und nahm einen kräftigen Schluck aus dem kleinen Schnapsglas. Stolichnaya. Ihr Wohl, Martin. Sie fühlte die brennende Wärme wie einen Schock, und dann entspannte sie sich, schloß die Augen und wartete. Sie würden irgendwann zu ihr kommen, aber sie wußte instinktiv, daß sie eine Weile hierbleiben würde. Sie schlug die Augen wieder auf. Auf dem Stuhl neben ihr stand der Diplomatenkoffer. Barrys Diplomatenkoffer. Sie versuchte, sich zu erinnern, was Barry gesagt hatte. Sie fühlte sich wie betäubt, und konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Sie sah den Detectives zu, wie sie sich durch die Menge um die Bar arbeiteten, und bald war dieser Bereich leer und still. Die Geräuschkulisse vom Grillroom wurde gedämpfter, und zwei Polizisten kamen auf den Balkon herauf, jedoch nicht zu Wetzon. Ihre Lider wurden schwer. Sie hatte Mühe, sich wachzuhalten. Ein Mann kam und setzte sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tischs. Sie starrte ihn an. Es war der Detective, der sich gerade als Sergeant Silvestri vorgestellt hatte. Sie trank noch einen Schluck.
»Geht es Ihnen gut, Miss Wetzon?« fragte er höflich. Sie nickte. Er hatte ein freundliches Gesicht, dunkles Haar, das sich über einer hohen Stirn lichtete. »Gut, dann möchte ich, daß Sie genau nachdenken und mir alles erzählen, was hier passiert ist. Sie fanden die Leiche?«
»Ich fand ihn«, sagte sie mit den Lippen, aber ihre Stimme funktionierte nicht. Sie brachte keinen Ton heraus. Sie begann zu frösteln.
Silvestri legte seine massige Hand auf ihre und sagte in einem ruhigen, bestimmenden Ton: »Ist schon gut. Atmen Sie tief durch.« Er hatte etwas Beruhigendes an sich, und Wetzon begann wieder zu atmen, ganz tief, wie eine Tänzerin atmet. Das Zittern legte sich allmählich. Er hatte feine dunkle Härchen auf seinem Handrücken.
Silvestri zog seine Hand weg und zog etwas aus der Innentasche seines Jacketts. Es war eine schwarze lederne Brieftasche. Er nahm ein paar Ausweiskarten aus der Brieftasche, und sie sah, daß sie Barry gehörte, denn es waren seine Zulassung als Börsenmakler, ein Führerschein und einige Kreditkarten – Visa, MasterCard, American Express und andere. Silvestri legte sie vor sich auf den Tisch und schien sie eingehend zu betrachten.
»Er rief mich heute nachmittag an«, erklärte Wetzon. »Es sei dringend, meinte er, und er müsse mich sehen. Er hatte irgendein Problem, glaube ich, im Büro oder …« Ihre Stimme verlor sich, als sie Silvestri ansah.
Er erwiderte ihren Blick, und die Überraschung stand ihm im Gesicht. »Damit ich das richtig verstehe«, sagte er langsam. «Sie kannten ihn? Sie kannten Barry Stark?«
»Ja«, antwortete sie. »Sicher. Ich dachte, daß wüßten Sie. Ich kannte Barry seit mindestens drei Jahren.«
Silvestri lehnte sich zurück. »Okay, Miss Leslie Wetzon.« Der Ton seiner Stimme veränderte sich merklich; sein Verhalten war nicht mehr ganz so freundlich. »Erzählen Sie mir von Barry Stark.«