Читать книгу Mörderisches Musical - Annette Meyers - Страница 10

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Die Kälte war wie Säure, die in die Knochen kroch und sich mit Angst und Entsetzen mischte. Auf dem Rang oben ging die Tätigkeit der Polizei voran. Die Leute auf der Bühne und in den ersten Reihen des Parterres sahen zu. Eine Theatervorstellung in Umkehrung.

Wetzon spürte, wie ihr Rücken vom endlosen Sitzen steif wurde. Kälte lähmte ihre Finger und Knie. Sie rieb sich die Hände. In ihrer Tasche steckten Handschuhe, aber ihre Finger waren mit einem krustigen hellen Film aus getrocknetem Blut überzogen. Sie holte ein Erfrischungstuch aus ihrer Kosmetiktasche und rieb sich verstohlen das Blut von den Händen. Dann faltete sie das Tuch zusammen und stopfte es wieder in das Tütchen und das Tütchen in die Manteltasche. Sie zog die Lederhandschuhe mit dem Cashmerefutter heraus. Vermutlich hätte sie die Hände nicht reinigen sollen, doch sie hatte Dilla nicht getötet, warum sollte sie dann hier sitzen und unter der Kälte leiden?

Bernstein war nicht zurückgekommen. Sie sah den Detective immer wieder kurz im Rang, wo er hin und her ging und mit Leuten redete. Sie stand auf und dehnte die Wirbelsäule. Aline ließ sich immer noch von Edward massieren, dessen starrer Blick nicht auf das Objekt seiner Dienste gerichtet war, sondern auf die Bühne, wo Carlos mit geschlossenen Augen ein langsames Klagelied tanzte, ohne auf die anderen zu achten.

Auf der Bühne lehnte Mort am Klavier und sprach mit Sam Meidner, während Sam zwanghaft die Hände über die Tasten laufen ließ, ohne sie anzuschlagen. Den Inhalt ihres Gesprächs konnte man allenfalls ahnen. Morts Körpersprache drückte Strenge aus.

Das Klavier dröhnte plötzlich auf.

Sam spielte die Partitur für Hotshot in einem rasenden Tempo und schlug den Takt mit dem einen Fuß, während er mit dem anderen auf dem Pedal stand. Die Blicke aller wurden durch die schockierende Lautstärke zur Bühne gezogen. Die Rockrhythmen wirkten irgendwie unpassend, wo Dilla ermordet oben auf dem Rang lag. Aber, dachte Wetzon, das war wohl auch typisch für die Selbstbezogenheit von Menschen im Showbusineß.

Als Wetzon sich von der Bühne abwandte, saß Phil nicht mehr auf seinem Platz in der letzten Reihe des Parterres. Wohin war er gegangen? Hatte er diesen Augenblick benutzt, um zu verschwinden? Oder war er zur Toilette gegangen? Der Assistenzinspizient war der einzige gewesen, der Dillas Leiche aus der Nähe gesehen hatte. Und er hatte sie bewegt. Wetzon schüttelte sich. Vergiß es. Phil war jung, und ein gewaltsamer Tod hatte so etwas von…

»Schatz…«

Sie drehte sich schnell um. Auf der Bühne stand Mort und gab jemandem Zeichen. Sie sah hinter sich und zur Seite, dann formte sie, die Hand auf der Brust, lautlos: Ich?

»Ja«, antwortete der Produzent und Regisseur. »Komm herauf. Ich möchte mit dir reden.« Es war ein Befehl, und sie gehorchte.

Sie stieg die enge Treppe hinauf und kam durch die Seitenkulisse auf die Bühne. Sofort spürte sie jenen eigenartigen freudigen Ruck in der Magengegend und gleich darauf die prickelnde Erwartung, die sie immer empfunden hatte, sobald ihre Füße die Bühne berührten. Sie blickte hinaus über die Sitzreihen und stellte sich all die Gesichter vor, die gespannt auf die Tanznummer warteten…

»Schatz!« Mort schlang die Arme um sie, als wäre kein einziger Tag vergangen, als hätte sich nichts geändert. Dabei waren mehr als ein Dutzend Jahre vergangen, seit sie in einer seiner Shows gearbeitet hatte. »Hör zu, Leslie, du kennst doch jetzt die ganzen Geldsäcke.« Mort strahlte sie mit seinem charmantesten Zahnpastenreklamelächeln an, während er sie ein wenig beiseite führte. Er hatte etwas an seinen Zähnen machen lassen, denn die Lücke zwischen seinen zwei vorstehenden Schneidezähnen war verschwunden. Er trug einen blauen Pullover, der seine Augen betonte, und Jeans, sein Regisseurskostüm. Produzenten – Geschäftsleute– trugen Anzüge und Krawatten. Eine braune Wildlederjacke hing um Morts Schultern, und eine Tweedmütze bedeckte seinen allmählich kahl werdenden Kopf. Er wirkte einigermaßen gut im Schuß, nicht so dick wie letztes Jahr, als er ihr im Lincoln Center über den Weg gelaufen war.

»Ende der Ouvertüre«, sagte Sam. »Ah, die schöne Leslie.«

»Tag, Sam.« Sie wunderte sich, daß der Komponist sich an sie erinnerte. Sie hatte nur ein einziges Mal ganz zu Anfang in einer Show von ihm gearbeitet, und er war sehr nett gewesen. In New Haven hatte er ihr nach der Show einen Drink ausgegeben und komische Geschichten aus dem Showbusineß erzählt. Und er war reizend gewesen, als sie ihn abgewiesen hatte.

Doch jetzt gab er sich nicht charmant. »Bist nicht gerade wählerisch in deinem Umgang.« Sams Feindseligkeit war giftig.

Mort drängte sie vom Klavier weg, unzufrieden, ihre Aufmerksamkeit teilen zu müssen, selbst wenn es sich um Sam handelte. »Er ist sauer wegen Dilla«, flüsterte Mort so laut, daß Sam es hören konnte. »Hat Angst, daß es der Show schadet.«

Wetzon unterdrückte die Antwort, die ihr auf der Zunge lag: »Du nicht?« Sam hatte seit gut fünf Jahren keine Partitur für ein Musical mehr geschrieben. So etwas wie eine Schreibhemmung. Er hatte zwei Nervenzusammenbrüche gehabt, gefolgt von einem Aufenthalt in der Betty-Ford-Klinik wegen Drogenmißbrauchs. Sein Berufsweg war eine Landkarte aus Tälern und Gipfeln, zwei Shows, die Hits waren – Megahits – und drei Flops, dann Jahre, in denen er nicht zur Ruhe kam. Hotshot sollte seine erfolgreiche Rückkehr zur Broadwaybühne markieren.

»…Geldsäcke«, wiederholte Mort in halb verführerischem, halb stichelndem Ton.

Wetzon war völlig verwirrt. »Wovon redest du, Mort?«

»Schatz, diese ganzen Börsentypen, die du kennst. Interessiert sich keiner von denen für das THEATER?« Man konnte die Großbuchstaben hören.

»Ein paar schon, klar.« Mort roch nach schalem Gin und Obsession for Men. Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen. »Worum geht es denn?«

Zwei rosa Flecken zeichneten sich auf Morts Wangen über dem grauen Bart ab. »Die Wahrheit ist, Leslie, und ich weiß, du behältst das für dich…?« Er hielt inne. Die Frage hing zwischen ihnen.

»Erster Akt, Liebeslied«, sagte Sam an und stürzte sich in die Musik. Die Lautstärke war ohrenbetäubend.

»Nun mach mal halblang, Mort«, protestierte Wetzon. »Ich bin draußen. Wem sollte ich etwas erzählen, außer vielleicht Carlos, und ich nehme an, daß er sowieso Bescheid weiß, worum es geht…?« Jetzt war sie an der Reihe, eine Behauptung mit einem Fragezeichen zu versehen.

Mort zuckte die Achseln und betrachtete seine Bally-Slipper. Immer noch der stockkonservative Bauer, dachte sie. Du meine Güte, er trägt keine Socken. Es ist eiskalt, und er trägt keine Socken.

»Die Wahrheit ist, daß uns eine Dreiviertelmillion fehlt.«

»Was?« Wetzons Stimme übertönte Sams Solovortrag.

»Scht! Nicht so laut. « Mort warf einen heimlichen Blick über die Schulter, dann ordnete er den Inhalt seines Slips vor aller Augen. Auch das hatte sich nicht geändert. Es war wie ein nervöser Tick. »Dilla hatte da nämlich einen an der Hand, der ihr heute nach der Probe den Scheck geben sollte.«

»›Zeig ihr deine heiße .45‹«, sang Sam, während er in die Tasten haute. Es war nichts Melodisches an dem komischen Gassenhauer, wenigstens nicht so, wie Sam ihn herunterspielte. Über Wetzons rechtem Auge begann es zu hämmern. Eine heftige Migräne kündigte sich an.

»Warum kannst du das Geld nicht immer noch von ihm bekommen? Sprich einfach mit ihm… «

Morts Blick drückte tatsächlich Mitleid wegen ihrer Dummheit aus. »Er war Dillas Investor.«

»So? Buchstabiere es für mich, Mort. Ich bin nicht besonders gescheit.«

»Sie hat seinen Namen für sich behalten. Du kennst doch Dilla. Jemand, der ihr etwas schuldig war, hat sie gesagt.«

»Himmel, Dilla war schon eine Type.« Wetzon fröstelte, und sie schlug die Arme zusammen und rieb sie, um warm zu bleiben. »Vielleicht gibt er sich zu erkennen.«

»Äußerst unwahrscheinlich. Und wir können nicht warten. Wir haben gerade noch soviel, daß wir nach Boston fahren können. Wir haben einen anständigen Vorschuß für die ersten zwei Wochen, aber wenn die Kritiken nicht gut ausfallen und das Geschäft in der letzten Woche zurückgeht, sind wir am Ende. Du mußt doch jemand kennen.«

Wetzon dachte, ich kenne allerdings jemanden, und ich fahre direkt in die Hölle, wenn ich den guten armen Twoey ins Theater bringe. Auf der anderen Seite tue ich womöglich allen einen Gefallen, und dann komme ich in den Himmel. Also antwortete sie: »Kann sein, ich kenne jemand, Mort. Er ist Teilhaber einer Wall-Street-Firma gewesen, und er macht gerade eine Midlife-crisis durch. Der arme Narr wäre gern Broadway-Produzent.« In Wirklichkeit war Twoeys Krise dadurch ausgelöst worden, daß Smith ihm im vergangenen Jahr wegen des berühmt-berüchtigten und extravaganten Strafverteidigers Richard Hartmann den Laufpaß gegeben hatte. Am Boden zerstört hatte Twoey sich bei Rosenkind Luwisher beurlauben lassen und war entschlossen, sein Leben zu ändern.

»Leslie, Schatz!« Mort packte sie an den Ellenbogen und hob sie in die Luft. »Du bist ein Engel! Wer ist es? Wann kann ich ihn treffen?«

Das Leitprinzip ihrer Teilhaberin Xenia Smith blitzte in leuchtend rotem Neon vor Wetzons Augen auf: NICHTS GRATIS.

In diesem Fall hatte Smith vielleicht recht. Obwohl Dilla bereits als Koproduzentin auf den Plakaten erschien, wußte Wetzon nur zu gut, daß Dilla auch Prozente vom Anteil des Produzenten am Gewinn der Show verlangt hatte. George Abbott, der legendäre Broadway-Regisseur, hatte behauptet, daß Schauspieler immer mehr nach einem guten Platz auf dem Plakat als nach Geld strebten. Gib ihnen Reklame, riet er. Und er hatte recht. Weil sie auf Ruhm aus waren. Doch Dilla hatte die Schauspielerei vor langem aufgegeben. Sie hätte ganz gewiß das Geld vorgezogen.

Leslie Wetzon, Extänzerin und Headhunterin in Wall Street, pfiff auf Reklame; auch sie würde lieber das Geld nehmen. Und da Produzenten bei den Prozenten sehr zurückhaltend waren, würde sie Mort die Zahl aus der Nase ziehen müssen. Sie würde es mit Vergnügen tun.

»Reprise! « rief Sam.

»Setz mich besser ab, Mort«, sagte Wetzon zur Oberseite seiner karierten Mütze. »Wir müssen ernsthaft miteinander reden.«

»Klar, Schatz.« Er stellte sie wieder auf die Beine und zog umständlich für sie ihre Kleider gerade.

Sie unterdrückte ein Kichern. »Ich stelle dich einem Mann vor, der das nötige Geld zur Verfügung stellt… unter der Bedingung, daß du ihn zuschauen und lernen läßt.«

»Abgemacht! Du bist… «

»Und ich möchte eine Vermittlungsgebühr.«

»Leslie…« Mort legte eine Hand auf die Brust und machte ein gequältes Gesicht.

»Aber, aber, Mort. Du hast doch Dilla Prozente gegeben, oder etwa nicht?«

»Das war was anderes.«

»Wieso?«

»Sie hat an der Show mitgearbeitet. Aber gut. Wir werden uns schon einig. Verabrede ein Treffen.« Er sah auf die Uhr.

»Erster Akt, Finale. Alle auf die Bühne«, rief Sam ins Leere. Er hatte es nicht mitbekommen.

»Zwei Prozent, Mort. Ich möchte zwei Prozent der Bruttoeinnahmen von Tag eins an.«

»Leslie, verdammt… «

»Abgemacht, Mort?«

Er schüttelte ungläubig den Kopf. Sie hatte ihn offenbar bis ins Mark verletzt. »Du bist hart geworden, Leslie… Zwei Prozent vom Netto, nach allen Abzügen.«

»Ein Prozent vom Brutto von Tag eins an.«

»Das ist Erpressung.« Sie schwieg. Er seufzte. »Also gut. Ein Prozent vom Brutto.«

»Von Tag eins.« Er nickte. »Abgemacht.« Sie streckte die Hand aus. Aus den Augenwinkeln sah sie, daß Carlos immer noch ein Trauerballett tanzte.

»Zweiter Akt, Einleitung!« brüllte Sam.

»Okay, Vampir. Dilla ist nicht einmal kalt.«

»Habe ich damit angefangen, Mort?« Sie war sauer und ließ ihn stehen.

Er lief ihr nach. »Okay, okay, das war unfair von mir…«

»Morgen zum Mittagessen, zwölf Uhr dreißig im Four Seasons.«

»Du meine Güte, das Four Seasons…«

»Nimm’s als Sport, Mort.« Sie grinste ihn an. Dann entdeckte sie Aline in der Seitenkulisse, die auf sie zusteuerte, und verdrückte sich. Sie ließ ihre Tasche an der Rückwand fallen und fand sich in Carlos’ Rhythmus, als tanzten sie noch immer zusammen. Langsam begann sie, ihn in die alten Fosse-Kombinationen zu locken, gespreizte Finger, kleine weiche Schritte, lange Bewegungen aus der Hüfte heraus. Er trug eine prachtvolle neue Uhr. Sie griff seine Hand und betrachtete die Uhr aus der Nähe. Carlos hob den Kopf und lächelte sie an, ein strahlendes Lächeln, wie sie es von ihrem Carlos kannte. »Geschenk von Arthur. Cartier Panthere.«

»Todschick.«

»Häschen, was würde ich ohne dich anfangen?«

»Und ich ohne dich?«

Sie hielten einander einen langen Moment fest. Dann machte sie sich los und sah ihn an. »Aline erwähnte, daß hier gestern abend eine Besprechung stattgefunden hat.«

»Allerdings.« Sein Lächeln verging.

»Davon hast du nichts gesagt.«

»Weil ich explodiert bin, deshalb. Ich bin früh gegangen.« Er legte einen Arm um ihre Schulter. Seine Augen glitzerten. »Wenn ich geblieben wäre, hätte ich in Versuchung kommen können, sie umzubringen.«

»Aline?«

»Nein.« Carlos machte ein grimmiges Gesicht. »Dilla.«

Mörderisches Musical

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