Читать книгу Mörderisches Musical - Annette Meyers - Страница 8
ОглавлениеDie Gasse hinter dem Theater war feucht und gespenstisch still. Urin von Generationen von Katzen und Menschen hatte Backsteine und Zement mit einem bleibenden scharfen Gestank imprägniert. Wenn eine Show ausverkauft war, bemerkte man ihn kaum, doch er wurde aufdringlich, wenn das Theater dunkel war, und am schlimmsten war es bei Regen. Eine Feuerleiter hing an der Außenwand wie ein blattloser Weinstock.
Der Bühneneingang war verschlossen. Die ganze Nacht über hatte ein scharfer Nordostwind mit Regenwänden und stürmischen Böen die Stadt gepeitscht. Jetzt hatte sich das Wetter etwas beruhigt, doch unter den eisigen Februarnieselregen mischten sich gelegentlich Graupeln.
Carlos trat gegen die Stahltür. »Verdammt!« Er war nervös, gespannt wie eine Sprungfeder.
Der Regen trommelte auf ihren Schirm. Sie nahm ihn in die rechte Hand und legte den Arm um Carlos’ Schulter. Die Inspizientin der Produktion glänzte durch Abwesenheit. Dilla Crosby, nicht gerade liebevoll als Killa Dilla bekannt, hätte ihnen den Bühneneingang aufschließen sollen. »Es ist noch früh…«
»Ich habe Dilla gesagt, daß ich sie früh hier brauche – jetzt sieh dir das an, kein Portier, und Walt ist auch nicht da, um Licht zu machen.« Carlos stampfte mit dem Stiefel in eine schmutzige Pfütze. »Diese Undankbarkeit. Warum gebe ich mich überhaupt…?«
»Weil du das alles liebst, und das weißt du selbst am besten. Und du weißt auch, daß Killa Dilla dich nie im Stich läßt. Bei all ihren Fehlern, sie schafft es immer…«
»Für Mort. Sie schafft es für Mort. Und für mich nur, wenn es ihr paßt. Oder wenn es Mort paßt.«
Wetzon legte den Kopf schräg. »Aber, aber. Wer ist denn diese paranoide Person? Gewiß nicht mein bester Freund Carlos.«
Carlos schien einen Moment sprachlos, dann nahm er sie in die Arme und drückte sie samt Schirm fest an sich. »Ich liebe dich, Häschen, Schatz. Weißt du das?«
»He!« Die Gestalt, die auf sie zukam, war halb unter einem gewaltigen Regenschirm verborgen.
»Na, siehst du, da ist sie ja.« Bevor Wetzon zu Ende gesprochen hatte, bemerkte sie den Irrtum: sie kannte Dilla von früher, und die Gestalt unter dem Schirm war nicht Dilla.
»Das ist nicht Dilla, Dummerchen. Das ist Phil Terrace. Assistenzinspizient und vielseitig einsetzbarer Laufbursche. Und den kennst du nicht.« Carlos trat unter Wetzons Schirm vor, um sich unter Phils zu stellen. Noch eine Gestalt patschte durch den Schneematsch auf sie zu. »O gut. Da kommt Walt. Gott sei Dank, dann machen wir uns keines gemeinsamen Vergehens schuldig.«
»He, wen haben wir denn da.«
Walt Greenow war ein Hüne, gebaut wie ein Footballspieler. Mit den Jahren waren seine Schultern weicher geworden; um die Hüfte hatte er sich einen altmodischen Rettungsring zugelegt. »Leslie, richtig?« Sein schütteres braunes Haar war jetzt mit Grau durchsetzt. Trotz seiner Größe hatte Wetzon Walt als lieben, gutmütigen Kerl in Erinnerung. Er hatte im Lauf der Jahre alles gemacht: Requisiteur, Elektriker, Zimmermann. Er strahlte übers ganze Gesicht. »Habt ihr den Killa gesehen? Ich war schon einmal hier, aber sie war nicht zu sehen.« Er hielt einen Schlüsselring hoch. »Ich mußte die Ersatzschlüssel von den Shuberts holen. Sie sagen, sie hat die Schlüssel letzte Nacht nicht abgegeben.«
Phil machte ein besorgtes Gesicht. »Ich weiß nicht.« Phil Terrace war ein ernster junger Mann mit feuchten Augen und einem dunklen spärlichen Bart. Die schwarze Fischermütze verbarg sein Haar. »Wir sollten uns um elf hier treffen, um die Bühne zu markieren. Sie muß verschlafen haben.«
Wetzon schüttelte den Kopf. »Killa Dilla? Das kann ich mir nicht denken. Es sei denn, sie hätte sich radikal verändert.«
»Hat sie nicht«, versicherte Carlos. »Wahrscheinlicher ist, daß Mort ihr etwas Dringendes aufgetragen hat, einen Milkshake für ihn holen oder so, verdammt noch mal.«
»Hallo, Schatz!«
»Morgen allerseits.«
»Herrlicher Tag, Jungs!«
Drei junge Frauen kamen, mit übervollen Umhängetaschen und Schirmen kämpfend, durch die Gasse auf sie zu. Daß sie Tänzerinnen waren, konnte man kaum übersehen. Sie trugen ihre Strumpfhosen, Legwarmers und weichen flachen Stiefel mit einer gewissen Lässigkeit, die Füße auswärts gesetzt, der Gang leicht watschelnd. Während Wetzon sie beobachtete, spürte sie einen scharfen Stich des Neides.
Eine fragte: »Warum stehen wir hier draußen im Regen?«
»Das klingt mir wie ein Stichwort«, sagte Carlos, wirbelte Phils Schirm herum und trat mit einem weichen Stepschritt à la Gene Kelly in eine Pfütze.
»Scheiße! Irgendein Idiot hat da was reingesteckt.« Walt holte einen Miniwerkzeugkasten aus der Innentasche seines abgetragenen hellbraunen Regenmantels und machte sich an dem Schloß zu schaffen. »Allmächtiger, diese alten Schlösser…«
»Ich probiere es am Vordereingang.« Phil lief weg.
»Muß das sein?« Carlos richtete einen flehenden Blick zum trüben Himmel und ließ den Regen auf sein Gesicht fallen. »Was geht hier vor, Walt?«
»Kommt her! Es ist offen!« Sie blickten alle zum Eingang der Gasse, wo Phil ihnen zuwinkte.
Hinter Phil warteten die drei jungen Tänzer, die Carlos’ Truppe komplett machten, und alle zusammen stapften im Platzregen zur 45. Street, zur Vorderseite des Hauses. Eine unbeleuchtete Anzeigetafel, noch mit der Ankündigung der letzten Show, die ein Flop gewesen und vor acht Wochen abgesetzt worden war, hing wie eine düstere Warnung über dem Eingang.
Wetzon fröstelte. Es war immer gruslig, die Überbleibsel des Vergangenen zu sehen…beinahe als wäre das Begräbnis vorbei, doch die Kleiderschränke des Toten müßten noch aufgeräumt werden. Die Kasse war dunkel, obwohl wahrscheinlich schon ein Kassenleiter eingesetzt war. In gut einem Monat würden die Voraufführungen beginnen. Das Kassenpersonal am Broadway bestand normalerweise aus einem Kassenleiter, einem Stellvertreter und ein oder zwei anderen, je nach Erfolg der Show. Sie alle verkauften Eintrittskarten und beantworteten telefonische Anfragen, doch die besondere Verantwortung für die Abrechnung trug der Kassenleiter.
Gegenüber, wo man die Nachmittagsvorstellungen vorbereitete, zeichneten die Neonlichter an den Anzeigetafeln des Golden für Falsettos und des Plymouth für The Song of Jacob Zulu verschwommene Anpreisungen in den Regen. Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie gerade noch das Martin Beck sehen, wo die Wiederaufnahme von Guys and Dolls ein Riesenerfolg war. Sam’s neben dem Imperial und bevorzugtes Hamburgerrestaurant des Broadwayvölkchens, ging glänzend im Mittelpunkt dieser ganzen Betriebsamkeit.
Phil hielt die Mitteltür auf. Sie zogen die nassen Schirme hinter sich her und marschierten in das dunkle Haus.
»Walt, schalte die Lampen an. Ich bringe Mort um, weiß Gott«, sagte Carlos zu Wetzon. »Eigentlich sollen wir alles teilen, und er vereinnahmt Dilla völlig. Um jede Minute, die ich bekomme, muß ich kämpfen.«
Sie traten bei den Orchestersesseln ein, und die Bühnenbeleuchtung flammte auf. Das Theater sonderte einen Geruch nach Moder und altem Schimmel ab.
Drinnen wurde Carlos merklich vergnügter. »Auf geht’s, Jungs und Mädchen. Ich möchte nur eine einzige winzige Änderung durchgehen.« Er schwang sich auf die Bühne, ein schlanker, eleganter Mann in einem schwarzen seidenen Rollkragenpullover unter einem schwarzen Ledertrenchcoat.
Wetzon, die ihn beobachtete, kam zu dem Schluß, daß er sich seit ihrer gemeinsamen Zeit beim Theater nicht sehr verändert hatte. Vielleicht hier und da ein Fältchen in seinem hübschen Gesicht. Ein wenig Grau an den Schläfen. Er war ein lieber Mensch, und sie waren seit über fünfzehn Jahren eng befreundet. Sie hatte seinen Weg zum Choreographen begleitet, und er hatte sie das Tanzen ganz aufgeben gesehen. Zu seinem Entsetzen war sie zusammen mit Xenia Smith in den Headhunterberuf an der Wall Street eingestiegen. »Ich warte hier… « Wetzon blieb vor dem Orchestergraben stehen.
»Du könntest auf die Bühne kommen, Häschen. Ich brauche nicht lange.«
»Nee.« Falls sie die Füße auf die Bühne stellte, fürchtete Wetzon, würde sie vielleicht wieder auf Zehenspitzen über den Broadway schweben wollen. Sie lachte laut auf, und Carlos warf ihr einen boshaften Blick über die Schulter zu.
Phil setzte die Mütze ab und schlug sie gegen seine Jeans, um sie abzutrocknen. Der Assistenzinspizient hatte eine hohe Stirn, die den Beginn vorzeitiger Kahlheit erkennen ließ, und einen Schopf aus krausem Haar. Verlegen strich er sein Haar glatt und setzte die Mütze wieder auf. »Ich kümmere mich lieber um das Markieren.« Er fragte mit einem Blick um Erlaubnis.
»Okay…klar…nur zu, Phil.« Carlos’ Aufmerksamkeit galt den Tänzern und seiner Arbeit.
Wetzon stand einen Moment da und starrte in die trostlose Orchestergruft – hoppla, dachte sie, wo hatte sie ihre Gedanken? Orchestergraben. Eine braune Papiertüte lag zerknüllt auf dem Sitz eines Stuhls mit einem abgebrochenen Bein, drei andere Stühle lagen da, wo sie gerade umgefallen waren. Ein einzelner verbogener Notenständer aus Metall und ein paar Blätter waren alles, was von der letzten Show geblieben war. Der bleibende Geruch nach dem Schweiß vergangener Orchester war fast zu greifen. Wenn dies ein Film wäre, dachte sie, wäre der Orchestergraben plötzlich mit Musikern im Frack gefüllt, die ihre Instrumente stimmten.
Lieber Gott, Wetzon, sagte sie zu sich. Es mußte am Regen liegen. Und Carlos war total erschöpft. In einigen Stunden würde die Durchlaufprobe der Gruppentänzer die Proben in New York abschließen, und alle würden ihre Sachen für Boston packen. Die Bühnenausstattung war schon unterwegs.
Ein leises Geräusch lenkte ihren Blick rechtzeitig in den Graben zurück, um gerade noch ein braunes Tier mit glänzenden Augen und langem Schwanz fliehen zu sehen. Igitt. Ja, wenn Theater dunkel waren, gab es Probleme mit Ratten. Verdammt, auch wenn sie nicht dunkel waren.
Sie ging langsam den ansteigenden Mittelgang hoch. Die roten Samtsitze waren teils hochgeklappt, teils unten. Schnipsel von Bonbonpapier lagen zusammen mit einigen weggeworfenen Programmheften auf dem Boden. Wetzon strich mit der Hand über einen Platz in der Mitte des Parterres, nicht ganz unter der Brüstung des Ranges, und setzte sich. Walt hatte nicht sämtliche Lampen des Hauses angeschaltet, so daß es an ihrem Platz ziemlich dunkel war. Ihre Stiefelspitze berührte eine leere Limonadendose und verursachte einen hohlen Laut. Sie bückte sich, um sie aufzuheben, doch sie rollte schon die Schräge zum Orchestergraben hinunter. Niemand schien sich um die Reinigung des Theaters gekümmert zu haben, nachdem die letzte Show abgesetzt worden war.
Zum altbekannten »…fünf – sechs – sieben – acht…« schnalzten Finger den Rhythmus. Staubteilchen flirrten um den Lichtbogen von der Bühne, während Carlos mit den Tänzern arbeitete, eine Bewegung veränderte, Aufhebens um eine Nuance machte.
Phil rollte ein Korrepetierklavier auf die Bühne. Wetzon sah die Innereien und das nackte Holz. Der Flor des Sitzpolsters knirschte unter Wetzons hellbraunem Burberry. Das Theater war kalt. Ein eisiger Luftzug stieg vom Boden auf. Walt machte sich an den Lampen zu schaffen. An. Aus. An. Aus.
»Fünf – sechs – sieben – acht.«
Wetzon war müde. Die Sonne hatte sich seit über einer Woche nicht blicken lassen, und die anhaltende Düsterkeit bedrückte sie. Das Rekrutierungsgeschäft lief gut, doch sie fühlte sich ausgebrannt und ständig müde. Smith verhielt sich wie in der Anfangsphase ihrer Partnerschaft und traf selbständig Entscheidungen, als wäre Wetzon nicht ihre Partnerin, sondern eine Angestellte. Und außerdem war ihr Liebesleben unbefriedigend.
Ein quieksendes Geräusch, wie Gekicher, kam irgendwoher aus der Dunkelheit.
Lach du nur, Ratte, dachte sie, während sie die Beine vom Boden hochschwang auf den Nebensitz. Komisch. Sie berührte den Sitz. Feucht. Sie legte den Kopf in den Nacken, um die Decke abzusuchen, eine flache Kuppel, von der ein riesiger Kronleuchter hing – zweifellos von Spinnweben überzogen. Irgendwo drang Regen durch. Sie vergaß die Ratte und stand mit dem Rücken zur Bühne auf. Als sie in den Mittelgang trat, bemerkte sie jemanden, der hinter der letzten Reihe des Zuschauerraumes stand.
In diesem Augenblick schaltete Walt alle Lampen des Hauses an. Wer immer da gestanden hatte, war fort.
Der erste Rang war elegant geschwungen und mit Putten, Sträußen und Girlanden aus Gips und Blattgold geschmückt. Ein Messinghandlauf schimmerte stumpf. Und von dem Geländer baumelte ein Arm, der in einer cremefarbenen Jacke steckte.
»Walt!« Wetzons Knie gaben nach. Sie konnte den Blick nicht von dem dunkelroten Rinnsal losreißen, das am Arm hinunterlief und auf den Sitz neben ihrem Platz tropfte.
»Was ist?«
Wetzon warf sich herum. Walt war an den Bühnenrand getreten und hielt eine Hand über die Augen, während er nach oben blickte. Carlos und die Tänzer wirkten wie mitten im Sprung erstarrt.
»Was ist?« fragte Walt noch einmal.
Wetzon blickte wieder zum Rang hin.
Über den Messinglauf hing der obere Teil eines Körpers, der Kopf ein blutiger Brei.