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4. Kapitel

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»Häschen!«

»Was?«

»Ich stehe diese vielen Zahlen einfach nicht durch. Du schaust sie dir an und läßt mich wissen, was du davon hältst.«

»Carlos, stell dich nicht so an. Es ist ganz einfach.«

»Liebes, wenn man’s kann, ist’s einfach. Außerdem dachte ich, von jedem an der Wall Street wird verlangt, daß er kreative Buchhaltung beherrscht.«

Silvestri hatte gesagt, Walker’s an der Ecke North Moore und Varick, und sie hatte Ahmed die Adresse genannt, der ein wenig zu schnell »Ja, Lady« erwidert hatte, was ihre Antennen vibrieren ließ.

»Wissen Sie, wo das ist? Es ist Richtung Süden.«

Auf der East 49. Street bildete sich hinter ihnen ein Stau, und Hupen stimmten eine mißtönende Melodie an.

»Ja, Lady«, wiederholte Ahmed. »Steigen Sie ein, schnell, sonst verschaffen Sie mir noch einen Strafzettel.«

Wetzon stieg ein, und Ahmed fuhr mit einem Blitzstart los. Tempo für ein Peitschenschlagsyndrom. Klar, probiere es und kassiere. Außer seiner vorläufigen Taxifahrerzulassung, die dreist so angebracht war, daß ein Fahrgast sie erst sehen konnte, wenn er bereits im Taxi saß, verriet ihr noch etwas anderes, daß Ahmed keine Ahnung hatte, wohin er fuhr. Spätestens wußte sie es an dem Punkt, als er Richtung Norden abbog.

»Nach Süden«, sagte sie durch zusammengebissene Zähne.

»Ich weiß, Lady, ich weiß. Ich will bloß eine Baustelle umgehen.«

Vielleicht gab es eine Baustelle, vielleicht nicht. Schließlich befand man sich in New York. Mach es dir bequem und entspanne dich, sagte sie sich. Sie tat es widerwillig und schloß die Augen. Ahmed konnte recht haben.

Es lag einfach daran, daß sie wegen dieser Begegnung nervös war. Sie wollte auf Rita Silvestri, seine Mutter, einen guten Eindruck machen. Mann, sie wollte einen sensationellen Eindruck auf sie machen.

Denk an was anderes. Ja, aber woran? An Tom Keegen, der auf ihre neue Mitarbeiterin schoß? Sie konnte es nicht einmal in Erwägung ziehen, ohne zu grinsen. Es war ein Witz. Würde er wirklich so dumm reagieren? Tatsächlich sah es so aus, als wäre der Pelzhut von einem Streifschuß beschädigt worden – aber wer konnte sagen, daß es wirklich so war?

Und wie stand es um Darlene Ford? Falls sie wirklich eine phantastische Headhunterin war, spielte es dann eine Rolle, ob sie wie ein Flüchtling aus einer Kleinstadt aussah, wo man bei der Kleidung immer ein wenig zuviel des Guten tat und die Frauen Sweatshirts mit Pailletten trugen? Und Wetzon hatte Carlos einen Snob genannt!

Überlege dir folgendes: Darlene war eine Goldgrube, wenn man Smith glauben konnte. Sie hatten jahrelang davon gesprochen, ihren Büroraum zu erweitern. Dann, während des Einbruchs der Immobilienpreise, hatte man ihnen das Sandsteinhaus in der 49. Street nahe der Second Avenue, wo sie ihr Büro hatten, für ein Butterbrot angeboten. Und obwohl alle Wohnungen auf den vier Etagen über ihnen vermietet waren, spielten sie immer wieder mit dem Gedanken, eines Tages ihr Erdgeschoß mit dem ersten Stock zu verbinden und es zu einem Büro auf zwei Etagen zu bringen.

Ihr Mieter im ersten Stock, ein Antiquar, hatte ihnen gerade gekündigt, um in eine größere Wohnung in der Second Avenue umzuziehen. Wenn Darlene wirklich so gut war, wie es Smith anscheinend glaubte, konnte ein erstklassiges Jahr vor Smith und Wetzon liegen. Und falls es so käme, würden sie vielleicht in Zukunft ein doppelstöckiges Büro besitzen.

Das Taxi kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Sie schlug die Augen auf und hatte keinen Schimmer, wo sie waren. Ihr Fahrer … wo war der? Ahmed stand mitten auf der Straße und winkte ein anderes Taxi zu sich. Sie sah auf die Uhr – halb eins. Sofort kurbelte sie das Fenster herunter und schrie: »Verdammt, Ahmed, was bilden Sie sich eigentlich ein?« Wütend stieg sie aus.

»Bleiben Sie, Lady. In zwei Minuten setze ich Sie dort ab.«

»Vergessen Sie’s.« Sie steckte einen Fünf-Dollar-Schein unter seinen Koran auf dem Vordersitz und marschierte los. Glücklicherweise hatte sie einen Orientierungspunkt erkannt: Direkt hinter ihr lag der Friedhof der Trinity Church.

Den Rest des Wegs zum Restaurant legte sie zu Fuß zurück, wobei sie sich nur einmal zwischendurch nach der Richtung erkundigen mußte – bei einer Frau mit breitem Hinterteil in der grauen Hose des US-Postdienstes, die einen großen Postsack auf einem dreirädrigen Karren schob.

Als sie die Tür zum Walker’s aufstieß, hatte sie nur zehn Minuten Verspätung. Sie befand sich in einem Salon des späten 19. Jahrhunderts – Bar aus Holz, geätztes Glas undsoweiter. Perfekt. Aber es war voll. Kein Platz an der wunderschön auf alt getrimmten Bar – soweit sie das durch die vielen Leute, die davorstanden, erkennen konnte. Alle Tische waren mit Speisenden voll besetzt, eine Mischung aus Bankern und Leuten aus dem Viertel. Der Lärm stieg zur verzinkten Decke auf und fiel auf die Gäste zurück. Niemand schien sich daran zu stören.

»Miss Wetzon? Miss Leslie Wetzon?«

Sie drehte sich nach der Stimme um. Der Mann hatte einen dicken roten Schopf, einen großzügigen Schnurrbart und Koteletten bis fast zur Kinnlinie. »Der Lieutenant und seine Begleitung warten im Hinterzimmer. Ich bin Casey. Möchten Sie Ihren Mantel abgeben?« Als sie den Kopf schüttelte, sagte Casey: »Dann kommen Sie bitte mit.«

Das Hinterzimmer war ebenfalls proppenvoll, doch standen die Tische hier nicht so dicht beieinander. Wetzon fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, als sie ihr Spiegelbild flüchtig inmitten des in die Glasfelder der Tür geätzten Art-Nouveau-Musters erblickte, während sie Casey folgte.

Ob Rita etwa …

Sie blieb abrupt stehen. Silvestri saß an einem Ecktisch, aber die Frau, mit der er redete und die Wetzon den Rücken zuwandte, war zu jung, um Rita Silvestri zu sein. Wieder einmal geirrt, Wetzon, sagte sie zu sich, während sie spürte, wie Verlegenheit ihre Wangen rötete. Wenn das nicht Rita war, wer war es dann? Ein Hauch, nicht mehr als ein Hauch von Ungewißheit traf sie.

»Tag«, sagte sie und dachte sofort, daß ihre Stimme zu laut und voll falscher Begeisterung klang. »Tut mir leid, daß ich zu spät komme.« Sie ließ sich auf den Stuhl fallen, den Casey für sie zurechtschob, und wand sich aus ihrem Mantel. Dann warf sie einen prüfenden Blick auf ihre Konkurrentin, während Silvestri sie angrinste. Wenigstens meinte sie, daß er grinste.

»Les, das ist Nina Wayne. Nina, Leslie Wetzon.«

Wetzon verließ der Mut. Nina Wayne war sehr schön. Hohe Backenknochen, strahlender Teint, grüne Augen. Sie trug kein Make-up, und ihr sandfarbenes Haar war zu einer eleganten Rolle frisiert, bei der kein Härchen aus der Reihe tanzte. Wetzon haßte sie. Als sie sich die Hand gaben, sah sie, daß Ninas Fingernägel stumpf, kurz und unlackiert waren und daß sie keine Ringe trug.

Nina begrüßte Wetzon mit einem festen Händedruck und sagte: »Ich habe viel von Ihnen gehört.«

»Ach wirklich?« Sie warf Silvestri einen mißtrauischen Blick zu.

»Bestellen wir doch«, bemerkte Silvestri, hinter seiner Speisekarte versteckt.

Sie bestellten Hamburger mit Speck und Pommes frites, dazu Bier vom Faß. Um sie herum wogte das stetige Gesumme zwangloser Gespräche.

Wetzon breitete umständlich ihre Serviette auf dem Schoß aus, dann begann sie, an einer Salzstange zu knabbern.

Während er die beiden Frauen betrachtete, räusperte sich Silvestri. Er wirkte erleichtert, als das Bier, schäumend in großen Glashumpen, gebracht wurde.

»Wie ich gehört habe, sind Sie Tänzerin«, begann Nina Wayne. Sie lächelte Wetzon herzlich an.

»Ich war es. Das ist lange her.«

»Und Sie waren am Broadway?«

»Ja. Und auf Sommerfestivals und Tourneen.«

»Sie tanzen nicht mehr? Wie geht es Ihren Gelenken?«

»Sehr gut, danke – wie geht es Ihren?«

»Les …«, begann Silvestri.

Nina Wayne lächelte.

Wetzon sagte: »Ich belege Kurse und halte mich an meiner Barre zu Hause beweglich. Sind Sie Physiotherapeutin?«

»Ich bin Gerichtsanthropologin«, antwortete Nina Wayne.

Die Hamburger wurden aufgetischt, saftig auf ovalen Platten, der Speck braun, die Pommes frites dick und knusprig. Nach einem kurzen Augenblick der Würdigung wurde eine inoffizielle Auszeit angenommen, während der sich das Interesse auf das Essen verlagerte.

»Les plant ein Comeback«, sagte Silvestri schließlich. Er hatte seine Platte leergegessen und angelte jetzt nach Wetzons Pommes frites. Hatte Wetzon etwa Stolz in seinem Ton gehört? Nein. Nicht möglich. Nicht bei Silvestri.

»Wirklich?« fragte Nina.

»Nein, nicht richtig. Ich trete in zwei Vorstellungen eines konzertanten Revivals von Combinations auf, einem Musical, bei dem ich vor einigen Jahren mitgewirkt habe. Es ist eine Benefizveranstaltung zugunsten von Aidskranken, um drei Personen aus der Originalbesetzung, die gestorben sind, zu ehren.«

»Combinations«, entsann sich Nina. »Das habe ich gesehen, als ich auf der High-School war.«

Silvestri hustete hinter vorgehaltener Hand und ignorierte Wetzons funkelnden Blick.

»Dann haben Sie auch mich gesehen. Ich war bis zur letzten Vorstellung dabei. Leute, warum verratet ihr mir nicht, aus welchem Grund ich hier bin? Was ist ein Gerichtsanthropologe?«

»Wenn es kein Gesicht und keine Fingerabdrücke gibt, kommt man zu mir«, erklärte Nina. »Meine Aufgabe ist es, nicht erkennbare – also nicht mit den üblichen Methoden zu bestimmende – menschliche Überreste zu identifizieren.«

»Nina ist Beraterin des Leichenbeschauers der Stadt New York«, ergänzte Silvestri.

»Das hört sich ja sehr interessant an.« Und es war interessant. Vielleicht sah Nina Wayne für sie schon ein wenig anders aus. Vielleicht deshalb, weil auch sie eine Frau in einer Männerwelt war?

Der Tisch wurde abgeräumt, und sie bestellten Kaffee: zwei normale und einen koffeinfreien für die Ex-Tänzerin, die auch ohne Koffein reichlich nervös war.

»Les, ich habe dich gebeten, mit uns zu Mittag zu essen, weil ich mit Nina an einem Fall arbeite und dachte, es gäbe eine kleine Chance, daß du uns helfen könntest.«

»Du wünschst meine Hilfe?« Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Dies war immer ein Zankapfel zwischen ihnen gewesen; Silvestri warf ihr ständig vor, sich in Polizeiangelegenheiten einzumischen, und nun bat er sie um Hilfe. Wirklich ein Tag, den sie im Kalender rot anstreichen mußte.

Nina Wayne meinte: »Natürlich ist es ziemlich unwahrscheinlich, aber ich schließe Zufälle nie aus, schon gar nicht in dieser Stadt.« Sie hielt inne, während der Kellner die Kaffeetassen hinstellte und ihre Wassergläser aufdeckte.

Wetzon fühlte sich plötzlich verwirrt. »Wovon um Himmels willen sprecht ihr beide?«

Mit einem Griff unter den Tisch holte Nina eine hellbraune Lederaktentasche vor und nahm einen braunen A4-Umschlag heraus. Dann stellte sie die Aktentasche wieder auf den Boden.

»Les, ich habe dir doch von dem Skelett im Schrankkoffer erzählt, weißt du noch?« fragte Silvestri.

»In dem Keller des Wohnhauses im Village?«

»Genau. In der Eleventh Street.«

»Aha, die Eleventh. Du hast mir nie gesagt, wo.«

»Es stand in den Zeitungen«, bemerkte Nina.

Wetzon lächelte. »Die Times und das Journal brachten es nicht als Aufmacher.«

»Wir können sie nicht identifizieren«, fuhr Nina fort.

»Sie?« Sie beobachtete Ninas Finger an der Lasche des Umschlags und verspürte eine seltsame, unbestimmbare Beklommenheit.

»Ja. Eine Frau. Tot seit ungefähr fünfzehn bis achtzehn Jahren.« Nina zog ein paar Schwarzweißfotos aus dem Umschlag. »Rücken Sie Ihren Stuhl herüber, Leslie, und ich zeige Ihnen, warum wir Sie hergebeten haben.«

Knochen, dachte Wetzon, während sie ihren Stuhl näherschob. Es waren Fotografien von Knochen.

Mit ihren stumpfen Fingern deutete Nina auf mehrere Bereiche an dem Skelett. »Abnutzungsfacetten an den Zehen«, sagte sie.

»Abnutzungsfacetten«, wiederholte Wetzon. Richtig.

»Eine große subchondral Zyste an der oberen Partie des Acetabulums.«

Wetzon nickte, während sie auf die Fotografien starrte. Klar.

»Das Becken – die Hüftknochen«, fuhr Nina fort, ganz auf die Fotografien konzentriert. »Nekrose im Acetabulum.«

Wetzon warf Silvestri einen flehenden Blick zu. »Bitte sag es mir in Worten, die ein Laie versteht.«

Doch es war Nina, die antwortete. »Die Abnutzungsfacetten an den Zehen rühren von Überdehnung her, die wir auch an den Knochen mittelalterlicher Mönche finden. Diese Frau war jedoch offensichtlich kein mittelalterlicher Mönch, der seine Zehen beim ständigen Niederknien strapazierte. Die Verbindung dieser besonderen Beckenzyste und die Abnutzungsfacetten an den Zehen weisen darauf hin, daß es sich hier um die Knochen einer Tänzerin handelt.«

Der letzte Vorhang

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