Читать книгу Der letzte Vorhang - Annette Meyers - Страница 18
7. Kapitel
Оглавление»Leslie? Hier ist Nancy Stein. Zu der Notiz, die ich dir und Carlos …«
»Ich wollte dich auch schon anrufen. Wir stimmen völlig mit Mort überein, daß wir die Kosten möglichst niedrig halten wollen. Was spricht gegen Standardgrößen?«
»JoJo sagt, die würden besser wirken.«
»Ich schätze, JoJo glaubt, es dreht sich alles um das Orchester. Persönlich glaube ich, es geht nur ums Tanzen. Medora denkt ganz sicher, das Buch wäre das wichtigste … Ach, vergiß es. Wir sind für Standardgrößen.«
New York war eine Stadt der Fußgänger. Unter den strammen Schritten der Einwohner und den schlendernden Füßen der Touristen, die in hellen Scharen aus der ganzen Welt herbeiströmten, um die Sehenswürdigkeiten zu sehen und sich auf die New Yorker einzulassen, schien mitunter die ganze Insel Manhattan zu erbeben. Jeder ging zu Fuß, besonders Frauen. Geschäftsfrauen und Sekretärinnen, Ärztinnen, Empfangsdamen, alle trugen sie die unvermeidlichen weißen Laufschuhe und weiße Socken über Strumpfhosen. Die Beine waren schlank und straff. Untere Schreibtischschubladen in der ganzen Stadt dienten als Behälter für elegantere Schuhe, in die man bei der Ankunft im Büro schlüpfte.
Um diese Jahreszeit genoß Wetzon normalerweise einen strammen Marsch quer durch die Stadt zum Broadway, aber der Fund des Gegenstands, der angesichts der Furche in Darlenes Pelzhut vielleicht der Rest einer echten Kugel war, brachte sie durcheinander.
Die plötzliche Flut der Anrufe von Marissa Peiser, die an der Anklage gegen Richard Hartmann wegen Geldwäsche arbeitete, und von Arthur Margolies, Wetzons eigenem Anwalt, von denen sie keinen einzigen beantwortet hatte, beunruhigte sie. Peiser hatte versprochen, sie herauszuhalten – aber … es gab zu viele Aber.
Und dann war da auch noch das unheimliche Skelett im Schrankkoffer. Und das Unterlassungsurteil. Aufgewühlt – so fühlte sie sich.
Der Spaziergang machte ihr keinen Spaß.
Als sie eine Straße von ihrem Büro entfernt an Steve Sondheims Haus vorbeiging, tippte sie automatisch an ihre Baskenmütze und verbeugte sich schwungvoll, um ihm ihre Hochachtung zu bezeigen, bevor sie weiterging.
Vor jedem Bürogebäude an der Madison Avenue stand ein versprengtes Häuflein von Rauchern, die zitternd an ihren Zigaretten zogen. Die Nichtrauchergesetze hatten sie hinaus auf die Bürgersteige getrieben, damit sie zur allgemeinen Luftverschmutzung beitragen konnten.
Paul Stuart, wo die Creme der Wall Street ihre Nadelstreifenanzüge und weißen Hemden kaufte, vom Rest der Garderobe ganz zu schweigen, hatte hölzerne Truthähne, die Cashmereschals präsentierten, ins Schaufenster gestellt. Wollte er alle behutsam daran erinnern, daß Weihnachten nicht mehr fern sein konnte, wenn Thanksgiving vor der Tür stand? Ein Obdachloser benutzte das Seitenfenster mit seiner reichen Auswahl an Cashmerepullovern als Spiegel, zog sein mottenzerfressenes Tweedsportsakko gerade, strich glättend über die Khakihose, drehte sich zur Seite, wieder nach vorn, und ging wie ein Model auf dem Laufsteg auf sein Abbild zu.
Kein Mensch achtete auf ihn oder machte auch nur einen großen Bogen um ihn. Was Wetzons Aufmerksamkeit erregte, war das Theaterhafte an der ganzen Vorstellung – eben das, was Laura Lee Day, vom Mississippi nach New York verpflanzt, einen New Yorker Moment genannt hätte.
Mort Hornberg unterhielt ein kleines Büro im siebten Stock des Sardi-Gebäudes in der West 44. Street, im Herzen des Theaterdistrikts.
Sie freute sich nicht auf diese Sitzung. Carlos hatte ihr versprochen, daß sie sehr wenig mit Mort zu tun haben würde, aber Versprechungen, Versprechungen …
Von der Stelle aus, wo Wetzon stand und wartete, daß die Ampel umschaltete, konnte sie die Anzeigentafel des Palace Theatre sehen, nur wenige Straßen nach Norden, wo Disneys Musical Die Schöne und das Biest zum Kummer der durchaus nicht schweigenden Theatergemeinde immer noch lief. Als eine keine Kosten scheuende Runderneuerung des Films betrachtet, der mit Eimern von Disneygeld aus den Kinos getrickst worden war, wurde es 1994, dem Jahr seiner Nominierung, von den Juroren des Tony-Preises verschmäht. Die Show mißfiel anscheinend allen außer einem Publikum, das normalerweise nicht ins Theater ging – also heutzutage den meisten Leuten. Selbst die wenigen, für die Theaterbesuche eine Familientradition bedeuteten, waren von unverschämten Eintrittspreisen vertrieben worden. Und wer die Zeche zahlte, wollte für sein Geld von der großen Show geblendet werden. Die Schöne und das Biest lief jeden Abend vor restlos ausverkauftem Haus.
Auf der anderen Seite des Broadways in der 45. Straße, im Minskoff, gab man Sunset Boulevard, ein weiteres Ausstattungsstück von Andrew Lloyd Webber, diesmal nach einem amerikanischen Filmklassiker. Es war ein rauschender Erfolg, doch Wetzons Theaterfreunde nahmen gegenüber Webber und seinem Pomp eine sehr zwiespältige Haltung ein. Er hatte sich dem Broadway an den kollektiven Hals geworfen, und sie mußten ihn widerwillig akzeptieren, weil er viele Zuschauer und deshalb das große Geld hereinbrachte.
Bei Disney allerdings hatten viele eine Grenze gezogen. Die Zirkusatmosphäre bei Die Schöne und das Biest wurde zu offensichtlich von den großen Mickymausvermarktern geschaffen. Vom Eingang bis zum Sitzplatz wurden einem bis zum Überdruß Kleidung, Platten, Bücher angeboten.
Im Shubert schleppte sich immer noch Verrückt nach dir hin und zog das Publikum an, und gegenüber vom Sardi-Gebäude lief weiterhin Der Kuß der Spinnenfrau, wobei die Titelrolle von Chita über Vanessa an Maria Conchita übergegangen war. Weiter im Westen fühlte sich im schönen alten St. James noch immer Tommy sehr wohl, wenn er auch nicht mehr vor vollem Haus spielte.
Der Wandel der Zeit am Broadway war einer der Gründe, warum soviel Interesse an Combinations in concert bestand, das Teil des alten Broadways war – Erinnerung an eine Zeit bot, als man sich die Eintrittspreise noch leisten konnte und neue Stücke selten überinszeniert wurden, um einem Publikum zu gefallen, das zwischen fünfundsiebzig und fünfundachtzig Dollar für die Karte zahlte und vor allem nur sich selbst präsentieren wollte. Ein Preis, den die Theaterleute – Darsteller, Regiemannschaft und Theaterbesitzer – im Hinblick auf die eigene Tasche viel zu hoch fanden.
Die Wände von Mort Hornbergs Empfangsbereich waren mit Plakaten jeder Show, an der er mitgewirkt hatte, bedeckt; ob Renner oder Flop, jede hatte ihren Platz ohne Entschuldigung. In der Wand gegenüber gab es zwei grifflose Türen, die beide fest verschlossen waren. Tatsächlich wirkte der Raum wie luftdicht versiegelt, vermutlich weil es Mort zuwider war, wenn sich jemand in seine Höhle wagte. Einmal, so erzählte man sich, mußte er beschwatzt und bedroht werden, ehe er aus seinem Büro kam und einem Investor, der gerade einen Scheck über hunderttausend Dollar auf ihn ausgestellt hatte, die Hand schüttelte.
An einem kleinen Tisch saß eine junge Frau, den Hals in einem eigenartigen Winkel unter einem Vorhang aus langem blondem Haar nach vorn gebeugt, und redete mit sich selbst. Sie hob den Kopf, um Wetzon anzuschauen, ihr Haar teilte sich, und ein winziger Telefonhörer erschien zwischen Schulter und Hals geklemmt. »Ja, tut mir leid«, sprach sie ins Telefon, während sie unaufhörlich Sonnenblumenkerne aus einem Tütchen mampfte. Ein blau eingebundenes Manuskript, das auf dem Schreibtisch lag, war mit Teilen der Hülsen übersät. »Ah, klar.« Die junge Frau redete mit einem gekünstelten britischen Oberschichtakzent. »Wenn Sie bitte eine Nachricht hinterlassen möchten? Er ist im Moment nicht im Büro.« Sie hob eine Ecke des Manuskripts hoch, wobei sie den Abfall verstreute, und zerrte einen Block Notizzettel darunter vor. Nachdem sie die Nachricht notiert hatte, zog sie den Hörer durch den Haarvorhang und legte auf.
Es war eine Vorstellung, die es durchaus mit der des Obdachlosen vor Paul Stuarts Schaufenster aufnehmen konnte.
»Ich bin Leslie Wetzon«, sagte Wetzon.
»Ja?« In den Augen der Frau zeigte sich kein Schimmer des Erkennens.
»Die Besprechung um vier Uhr wegen Combinations in concert. Würden Sie Nancy ausrichten, daß ich hier bin?«
»Wie, sagten Sie, war Ihr Name?«
»Leslie Wetzon.«
Die junge Frau nahm den Hörer ab und drückte auf einen Knopf. »Eine Leslie Watson ist hier wegen einer Besprechung um vier Uhr.« Ihr britischer Akzent hatte stark nachgelassen. Jetzt gelang es ihr nur noch, wie eine schlechte Imitation von Billie Dawn zu klingen.
Die eine der beiden luftdicht versiegelten Türen tat sich auf, und Nancy eilte so schnell heraus, daß ihre schulterlangen Ohrringe bebten. »Oh, Leslie, du kommst zu früh! Mort hat eine wichtige Besprechung, und Carlos ist noch nicht hier.«
Alles an Nancy bebte, bis auf ihr Haar, das wegen des Bürstenschnitts nicht konnte. Sie trug einen langen schwarzen Rock, der bis zur halben Wade bebte, schwarze hochhackige Stiefel und einen schwarzen Bustier, in dem ihre Brüste unter einer schwarzen Strickjacke mit Gürtel bebten. In der Hand – mit fünf Zentimeter langen roten Nägeln – bebte ein großer schwarzer Schnellhefter.
In jeder Hinsicht glich sie einem Ausrufezeichen.
»Gibt es einen Platz, wo ich ein paar Anrufe erledigen kann?« fragte Wetzon.
»Natürlich.« Nancy lächelte Wetzon mit bebenden Lippen an. »Du kannst meinen Schreibtisch benutzen.« Sie schob Wetzon durch die Tür und zog sie hinter sich zu – innen, bemerkte Wetzon, gab es einen Griff –, bis sie mit einem dumpfen Klicken ins Schloß fiel. »Möchtest du Kaffee oder was anderes? Ein Diätcola? Der Kühlschrank steht da drinnen. Bediene dich. Du findest mich im hinteren Zimmer. Ich muß ein paar Zahlen für Mort überprüfen.«
»Ich komme schon zurecht«, sagte Wetzon und empfand durchaus Mitgefühl für Nancy. Sie hatte die besonnene Sunny Browning, die jetzt ihre eigenen Shows produzierte, als Morts Assistentin ersetzt. Für Mort zu arbeiten, mit seinen Ansprüchen, seinen Stimmungen, seinen Beschimpfungen zu jonglieren, mußte gewiß die normalste Person zum Beben bringen.
Sich hinter Nancys Schreibtisch setzend griff sie zum Telefon und rief Silvestri an. Sie mußte lange warten, bis er an den Apparat kam. Während sie ihm von Darlene und dem Klümpchen Blei berichtete, konnte sie ihn buchstäblich knurren hören. Als sie fertig war, sagte er: »Du lieber Himmel, Les, warum hast du das nicht sofort gemeldet, als es passiert ist?« Er hörte sich ärgerlich und ungeduldig an.
»Weil ich das verdammte Ding erst vor fünfzehn Minuten gefunden habe … zufällig. Es fiel aus der Fußmatte, als ich sie verschob.« Warum gab er ihr immer das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben?
»Aber der Hut …«
»Vielleicht war es keine Kugel, und Darlene ist ein bißchen verrückt.«
»Ich bitte Metzger bei dir anzurufen, wenn ich ihn erreichen kann.« Artie Metzger war Silvestris alter Partner vom Siebzehnten, dem Bezirk, in dessen Zuständigkeit Wetzons Büro fiel.
»Ich bin nicht im Büro. Ich bin bei Mort Hornberg.«
»Dann rufst du Metzger an. Muß los, Les …«
»Silvestri, Moment noch. Wann bist du heute abend zu Hause?«
»Spät.« Es krachte in ihrem Ohr, als er den Hörer auf die Gabel schmiß.
»Klar, auf Wiedersehen, Liebster, Herzblatt, Schatz«, sagte sie, während sie ebenfalls auflegte. Soviel zum Abendessen. Bei der nächsten Inkarnation bitte keine Polizisten. Aber Silvestris Überstunden bedeuteten, daß sie den Abend für sich haben würde, was auch nicht schlecht war. Sie freute sich darauf, Das Wasserwerk zu lesen, das Buch von Doctorow, das sie gestern als Taschenbuch erstanden hatte.
Auf Nancys Schreibtisch herrschte zwanghafte Ordnung. Projekte waren in einzelnen Drahtkörben aufgereiht, jedes in einem schwarzen Hefter mit Etikett. Die Pappschachtel vor ihr war mit Combinations, Fotos beschriftet. Ein Computer, CD-ROM kompatibel samt Lautsprechern, stand auf einem rechtwinklig zum Schreibtisch stehenden Beistelltisch. Er hatte einen blauen Schirm und summte. Das perfekte Zubehör für das Büro eines Musicalregisseurs.
Wetzon erhob sich und sah auf die Uhr. Carlos müßte jede Minute hier sein. Durch die geschlossene Tür, die, wie sie annahm, in Morts Büro führte, drang kein Laut. Neugierig legte sie die Hand auf den Griff – sie konnte sich jederzeit entschuldigen – und öffnete die Tür einen Spalt, gerade weit genug, um Mort auf dem Rücken auf einem roten Ledersofa liegen zu sehen, mit offenem Mund in tiefem Schlaf.
Die Wände um Nancys Schreibtisch waren mit gerahmten Fotografien bedeckt, die während der vielen verschiedenen Shows aufgenommen worden waren. Sie sah Bilder von Mort ohne Bart, als er noch Haare auf dem Kopf hatte, bevor er anfing, die Mütze zu tragen, die sein Markenzeichen geworden war. Es gab mehrere Schnappschüsse von Proben für Combinations. Eine sehr junge Leslie Wetzon in Trikot und Beinwärmern, mit Rog Battles Arm um die Schultern. Die Party des Ensembles in Boston, alle mit müden, aber glücklichen Mienen, weil die Kritiken wunderbar gewesen waren. Terri und Mort, die für die Kamera die Lippen spitzten. Rog und Medora, Medora mit gestikulierenden Händen, so daß ihr Armband aus getriebenem Gold das Licht reflektiert. Foxy am Klavier mit Rog, Davey und einigen aus der Truppe. Andere im Hintergrund. Carlos bei der Trommelnummer. Ein Ensemblefoto, gestellt, jeder mit einer Requisite. Rog und Medora, die mit Davey über eine Änderung der Handlung berieten, Medora mit abgespanntem Gesicht.
Wetzon setzte sich wieder an den Schreibtisch und rief Arthur an. Im Rückblick waren es aufregende Zeiten gewesen, aber nach ihrer Erfahrung gab es solche erregenden Momente nie umsonst.
»Arthur Margolies.« Arthurs gelassene, beruhigende Stimme floß durch die Telefonleitung.
»Arthur, ich bin froh, daß ich dich erwischt habe.«
»Erwischt … nein, Leslie. Ich werde mindestens den halben Abend hier sein.«
»Gut. Ich bin heute abend ebenfalls verwitwet, also könnten dein junger Assistent und ich uns an irgendeinem netten Ort gegenseitig trösten.«
Arthur lachte, dann machte er eine Pause und räusperte sich. O weh, dachte sie, jetzt kommt’s.
»Leslie, in dem Fall Hartmann hat sich etwas ergeben.«
»Das dachte ich mir, Arthur. Die Peiser hat versucht, mich zu erreichen. Worum geht es?« Was sollte die Frage? Wußte sie es nicht? Spürte sie es nicht in den Knochen? Knochen … Nein, an Knochen wollte sie jetzt nicht denken. Hartmann hatte sie bedroht. Das genügte als Ursache für den Schauder, der sie durchlief.
»Ja, also«, sagte Arthur, »ich fürchte, du wirst vor einer Anklagejury aussagen müssen.«