Читать книгу Der letzte Vorhang - Annette Meyers - Страница 6
1. Kapitel
ОглавлениеDie Schießerei begann, als Wetzon den Schlüssel im Schloß umdrehte. Zwei Schüsse, einer, dann noch einer. Sie stieß die Tür mit dem Knie auf.
»Major Strasser ist tot.«
Die zwei wichtigsten Menschen in Wetzons Leben lagen im Halbdunkel auf dem Boden ihres Wohnzimmers. Sogar der Hund Izz, wie ein kleiner weißer Vorleger auf Silvestris Brust drapiert, wirkte wie hypnotisiert, während der Film sich dem Ende näherte.
Dann sagten Silvestri, Carlos und Rick, der Mann im Film, einstimmig: »Louis, ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.«
Während Bogart und Claude Raines auf dem Bildschirm in die Nacht hinausgingen, langte Wetzon hinter sich um den Türrahmen, legte den Finger auf die Türklingel und drückte fest.
»Hu!« hörte sie Carlos sagen, und Izz begann zu bellen. Silvestri setzte sich auf und starrte sie an.
»Ich bin’s bloß, Gentlemen, von einem langen, grausamen Tag auf dem Markt zurück. Bleibt doch sitzen.« Wetzon stellte die Aktentasche auf den Boden und hängte den Mantel auf. Es war ein einigermaßen erfolgreicher, aber scheußlich langer Tag gewesen. Sie war rechtzeitig zu einem Frühstück um halb acht im Warwick in Philadelphia angekommen, hatte den Broker abgefertigt und um halb neun mit einem anderen Broker gefrühstückt. Dann um zehn in einer Schlichtungsverhandlung ausgesagt. Lunch um zwölf, ein weiteres Essen um eins, ein drittes um zwei, Drinks um vier und fünf, dann schnell zum Zug nach New York gerannt, während das ganze Sprudelzeug in ihr hin und her schwappte.
Also war es nicht der Hunger, was sie in die Küche führte, sondern eher der flüchtige Anblick einer Zabar’s-Tasche auf der Theke, aus deren Inhalt das Abendessen für Carlos und sie bestehen würde. Sie arbeiteten an den Arrangements für Combinations in concert, eine nur für zwei Aufführungen geplante Wiederaufnahme des legendären Musicals, deren Erlös der Aidsgruppe Show Biz Shares zugute kommen sollte. Schnuppernd packte sie schottischen Lachs, geräucherten Weißfisch und Karpfen, schwarze Oliven, Crème fraîche, Bagels und ein kleines Rad Ziegenkäse aus. Den großen Behälter mit Garnelencremesuppe entleerte sie in einen Kochtopf. Der Duft war himmlisch.
Als sie aus der Küche kam, war das Licht an, der Fernseher ausgeschaltet, und Carlos und Silvestri saßen einfältig grinsend da.
»Häschen, Liebes.« Carlos krempelte die Ärmel seines schwarzen Seidenhemdes hoch. »Du hast mir nie verraten, daß Silvestri ein Filmfan ist.«
»Wirklich? Es wird mir wohl entfallen sein, da ich jeden Tag mit meiner verrückten Partnerin schufte, die entschlossen ist, lieber Broadway-Shows zu produzieren, als Headhunterin auf der Wall Street zu spielen.«
»Bestimmt nicht lange.« Silvestri hatte seine Fassung wiedergewonnen. Er ließ selten seine empfindsame Seite sehen, nicht einmal bei ihr.
Carlos stimmte zu. »Wenn diese Barrakuda-Dame merkt, daß es weder glanzvoll noch lukrativ ist, wird sie sich sofort wieder um die Wall Street kümmern, wo sie hingehört.«
Silvestri kam langsam auf sie zu, und nun schob er seine Hände unter ihre blaue Nadelstreifenjacke und zog sie an sich. »Mmmm, du riechst gut.«
»Vitriolextrakt«, bemerkte Carlos. Seine Stimme verlor sich in der Küche.
»Moi?« kicherte Wetzon. »Non-non-non.« Ihr Versuch im Französischen ging in Silvestris Lambswoolpullover, türkis wie seine Augen, unter.
Er küßte sie auf die Wangen und jedes Augenlid. »Ich bin schon unterwegs«, sagte er, während er seine dicke Marinejacke um die Schultern legte. »Und ich nehme Izz mit.« Er hob den zappelnden Malteser hoch, dessen rosa Zunge über die Kerbe in Silvestris Kinn sabberte.
»Sie wird allmählich zum Stammgast. Du müßtest ihr eigentlich einen Anteil vom Gewinn abtreten.«
Silvestri hatte sich angewöhnt, Izz zu seinem wöchentlichen Pokerspiel – freier Abend für die Jungs – mitzunehmen, das immer in seiner Wohnung in Chelsea stattfand. Die Tradition hatte ihren Anfang genommen, als er merkte, daß der kleine Hund die anderen Spieler gerade genügend ablenkte, um ihm einen Vorteil zu verschaffen.
Obwohl er den größten Teil seiner Zeit bei Wetzon wohnte, hielt Silvestri an seiner Wohnung in Chelsea fest, als wäre sie ein Beutestück. Sie würde der Mietpreisbindung unterliegen, erklärte er. Wo könnte er heutzutage in der Stadt etwas Vergleichbares finden?
Wer sagt denn, daß du etwas finden mußt, lag Wetzon immer auf der Zunge, doch sie sagte nichts, weil sie immer noch sehr behutsam miteinander umgingen. Keiner von beiden wollte noch einmal verletzt werden.
»Ciao, Carlos!« rief Silvestri; Carlos antwortete genauso.
»Ciao!« Ciao? Was war bloß in ihn gefahren, dachte Wetzon, während sie Izz’ Leine am Halsband des kleinen Hundes festhakte. »Sei jetzt ganz lieb, Isabella«, befahl sie, indem sie das rosa Schnäuzchen küßte. Dann ging sie mit ihnen zum Aufzug.
»Ach«, sagte Silvestri beiläufig, »hast du morgen oder am Mittwoch zum Mittagessen Zeit?«
»Morgen geht’s nicht. Smith hat mir gesagt, ich soll morgen den ganzen Tag für eine Überraschung freihalten.« Wetzon stöhnte. Sie hätte es fast vergessen. Bei Smith konnte man nie wissen, was sie sich ausgedacht hatte.
»Dann bleibt es bei Mittwoch?«
»Abgemacht. Worum geht es?« Sie sah ihn neugierig an, doch sein Gesicht verriet nichts. Er spielte den Lieutenant von der New Yorker Polizei. »Du ißt doch mittags nie.«
Der Aufzug kam, und die Türen gingen auf. Drei Personen blickten ihnen erwartungsvoll entgegen.
»Ich möchte, daß du jemand kennenlernst.« Er hob Izz auf, ging hinein und sagte, während sich die Türen schlossen: »Ich rufe dich an. Halt dir den Mittwoch frei.«
Ihr Herz machte eine Pirouette, dann einen Salto rückwärts. Seine Mutter! Endlich würde sie die sagenhafte Rita kennenlernen, die in Forest Hill wohnt. Sie hatte ein Jurastudium absolviert, nachdem Silvestris Vater, ein Polizist, getötet worden war, als er versuchte, einen 10-64, einen häuslichen Streit, zu beenden. Rita Silvestri hatte daraufhin ihre Berufung in Rechtsfragen gefunden, die Frauen, und zwar besonders mißhandelte Frauen betrafen.
Wetzon ging in die Wohnung zurück und schloß die Tür. »Ich ziehe nur diese Lumpen aus!« rief sie Carlos zu, warf ihre Wall-Street-Haut ab und schlüpfte in Leggins, Sweatshirt und Socken, die sich dick um die Knöchel ringelten. Dann ging sie auf die Barre in ihrem kombinierten Eß- und Wohnzimmer zu.
Bei der Renovierung ihrer Wohnung nach dem Wassereinbruch vor zwei Jahren hatte sie die Zwischenwand herausnehmen, die Balken in der vier Meter hohen Decke freilegen und die in Vorkriegshäusern in Manhatten üblichen Bögen entfernen lassen. Ihre Freundin, die Bauunternehmerin Loui (Louise) Armstrong, hatte Wetzons Barre fast an der gleichen Stelle installiert, an der sie sich früher im nun aufgelösten Eßzimmer befunden hatte, und dahinter eine Spiegelwand angebracht.
Sie stellte sich vor die Barre und begann mit einem Plié. Die Frau im Spiegel sah noch immer wie ein Mädchen aus, mit grauen Augen, schmalem Gesicht und spitzem Kinn. Als Wetzon den Hals reckte, sah sie keine Falten. Ihr aschblondes Haar hatte noch die gleiche Farbe, wenn sie auch hier und da einen weißen Faden entdeckte. Es war wieder lang, berührte gerade eben die Schultern, aber sie hatte es nicht wieder zum Ballerinenknoten oben auf dem Kopf zusammengesteckt. Sie würde es aber tun, sagte sie sich. Irgendwann.
Die prickelnde Erregung, in die sie die Verabredung mit Silvestri versetzt hatte, wurde jäh durch Vorsicht gedämpft. Sie war nicht bereit – richtig. Sie war zu jung – falsch. In wenigen Monaten würde sie vierzig. Plié, relevé. Auf ihrer Oberlippe erschienen Schweißtröpfchen.
»Häschen! Wir haben einen Berg Arbeit vor uns.« Sie hatte Carlos nicht einmal gehört, aber er war da, saß an ihrem Eßtisch, umgeben von Eßtellern und Stenoblöcken.
Sie feixte ihn im Spiegel an und steppte lautlos zum Tisch hinüber, wo sie sich anmutig auf einen Stuhl fallen ließ.
Vor achtzehn Jahren hatten Wetzon und Carlos in einem zeichensetzenden Musical mitgewirkt, über das die New York Times schrieb: »Ein kühles, doch bewundernswertes Musical über Beziehungen, das für den Broadway sein wird, was Karussell seinerzeit bedeutete; ein Ereignis, das die Hör- und Sehgewohnheiten des Musicalpublikums für immer verändern kann.« Solches Lob konnte vernichten, und genau das tat es diesmal. Wie es häufig geht, werden sogenannte »zeichensetzende« Musicals wie West Side Story oder Company, um nur zwei zu nennen, nie so gut besucht wie den Publikumsgeschmack bedienende Musicals der Art von Cats und Grease. Combinations war kaum ein Jahr lang gelaufen und nie vor ausverkauftem Haus. Es war die erste große Show gewesen, in der Wetzon und Carlos zusammen aufgetreten waren.
Über die Jahre waren die mit der ursprünglichen Truppe von Combinations verbundenen Personen von Schicksalsschlägen getroffen worden, die über das übliche Maß hinausgingen: Roger Battle, der Mitautor des Librettos, hatte kurz nach der letzten Vorstellung einen Herzinfarkt nicht überstanden. Davey Lewin, der Regisseur und Choreograph, war vor vier Jahren an Aids gestorben; Larry Saunders, einer der Tänzer, war der Krankheit vor einem Jahr erlegen. Nach Larrys Tod hatte Carlos den Einfall gehabt, alle übrigen Mitglieder der Truppe für zwei konzertante Aufführungen während der Weihnachtswoche zugunsten von Aidskranken zusammenzuführen. Er wollte sie mit Mort Hornberg inszenieren, der achtzehn Jahre zuvor Daveys Assistent bei Combinations gewesen war, und Mort, Carlos und Wetzon würden sie produzieren, wobei der gesamte Reingewinn an Show Biz Shares fließen sollte, eine gemeinnützige Organisation, die Aidskranken aus allen Bereichen der Theatergemeinde half.
»Wir machen es zusammen, Häschen«, hatte Carlos vorgeschlagen. »Denk nur, du und ich, wir tanzen wieder.« Seine Begeisterung steckte an. Wetzon war dabei.
Einen nach dem anderen spürte sie beinahe alle noch Lebenden auf, die in der ursprünglichen Truppe mitgearbeitet hatten. Sogar Bonnie McHugh, die jetzt eine eigene Fernsehserie moderierte, stimmte zu, ihre alte Rolle zu übernehmen.
Die einzige, die Wetzon nicht gefunden hatte, war Terri Matthews.
»Das begreife ich nicht«, sagte Carlos jetzt, während er Crème fraîche auf eine getoastete Bagelhälfte strich und eine Scheibe Lachs darauflegte.
»Ich habe es bei der Schauspielergewerkschaft probiert, dann bei der Gewerkschaft der Fernseh- und Rundfunkkünstler, sogar bei der Gewerkschaft der Film- und Fernsehdarsteller. Kein Eintrag. Auch nicht im New Yorker Telefonbuch. Sogar beim Hilfsfonds für Schauspieler habe ich mich erkundigt. Komisch, was? Erinnerst du dich nicht, sie bei Anhörproben gesehen zu haben?«
»Eigentlich nicht, aber das hat nichts zu sagen.«
»Moment mal.« Wetzon hatte eine Eingebung. Sie zupfte mit den Fingern am Weißfisch. »Wollte Terri nicht aussteigen? Hatte sie nicht Geld geerbt oder in der Lotterie gewonnen oder so was? Ich bilde mir ein, mich zu erinnern, daß sie immer davon redete, eine Tanzschule in Cincinnati aufzumachen.«
»Du meine Güte, doch nicht dort, wo’s die vielen Maisfelder gibt?«
»Das ist Iowa, du Dussel«, sagte Wetzon. Sie wischte sich die Finger an der Serviette ab und ging zum Telefon. »Ein Anschluß in Cincinnati, Terri oder Theresa Matthews.« Sie buchstabierte den Namen. »Es ist eine private Adresse oder möglicherweise eine Tanzschule … Haben Sie andere Einträge unter Tanzschulen? Nein … Nein … Das ist nicht richtig … Trotzdem vielen Dank. Warten Sie – geben Sie mir diese Nummer.«
»Was hast du gekriegt?« wollte Carlos wissen, noch ehe sie den Hörer aufgelegt hatte.
»Nichts, nur die Nummer einer Schule mit dem Namen Ballet Broadway …«
Carlos verschluckte sich. »Das glaubst du doch selbst nicht, Häschen. Terri würde das niemals machen.«
Wetzon drohte ihm mit dem Finger. »Benimm dich, Snob.« Sie kam zum Tisch zurück und setzte sich. »Irgend jemand dort muß sie kennen. Terri ist in der Stadt zu Hause, und sie ist Tänzerin. Sie kann nicht einfach vom Erdboden verschwunden sein.«