Читать книгу Der letzte Vorhang - Annette Meyers - Страница 24
10. Kapitel
Оглавление»Siehst du«, sagte Carlos, »ich habe recht. Mort vermietet uns seine eigene Ausstattung.«
»Also ich weiß nicht, Schatz. Das wäre wirklich hinterhältig, wenn es stimmt. Wenn er den Kram besitzt, soll er ihn für diese Produktion stiften. Das ist doch das mindeste, was man erwarten kann.«
»Rechne nicht damit, Häschen.«
»Nein? Na ja, glaub nicht, daß ich es bei der nächsten Sitzung nicht zur Sprache bringe.«
»Los, komm«, sagte Terri.
»Wir haben nicht mal eine Stunde.« Leslie Wetzon, die junge Tänzerin, zog die Füße aus den Stepschuhen und bewegte sie, dann zog sie ihre Turnschuhe an.
»Es ist doch ganz in der Nähe.« Terri nahm ihre Hand, und sie rannten die drei Treppen zum Bühnenausgang hinunter.
Regenwände, vom Wind wie Laken an einer Wäscheleine gebläht, fegten über die Tremont Street. So stark regnete es nur in Boston, viel häufiger als überall sonst, wenigstens erschien es Leslie so, die Boston von zwei Premieren kannte, beide mit Tourneetheatern. Combinations würde ihre dritte sein und die erste, die danach an den Broadway gehen sollte.
Sie hatten zehn Stunden hintereinander geprobt und nur zu den von der Gewerkschaft geforderten Pausen unterbrochen. Die Technikprobe hatte sich endlos hingezogen, bis alle – Darsteller, Autoren, Produktionsmannschaft, selbst die Bühnenarbeiter – vor Müdigkeit doppelt sahen. Die Stimmung war gefährlich gereizt. JoJo und Rog Battle wären sich beinahe in die Haare geraten, weil JoJo den Einsatz zum Singen immer wieder im falschen Moment gab und dadurch eine komische Stelle verdarb. Es war JoJos erste Show als Dirigent und musikalischer Direktor; als seine Mentorin fungierte Foxy Reynard, die Komponistin und Songdichterin. Ke ne schlechte Mentorin für einen Korrepetitor. Foxy hatte JoJo bei ihrer letzten Show auf seinem Motorrad entdeckt – er sah aus wie einer von den Hell’s Angels, mit Tätowierungen und allem – und ihn der Vergessenheit entrissen. Die beiden hätten was miteinander, sagte Carlos.
Überraschung, Überraschung: Foxy stellte sich bei der Kabbelei zwischen JoJo und Rog auf JoJos Seite. Davey, dieser einmalige Regisseur, der nie müde oder nervös zu werden schien, war herbeigeeilt und hatte eine Pause angesagt. Deshalb standen Leslie und Terri an der Bühnentür, am hinteren Ende der wilden Jagd der Darsteller vom Theater in die umliegenden Speiselokale. Die langen Stunden und die Anspannung regte den Appetit der Akteure stets an.
In Ohio geboren und aufgewachsen, umgab Terri Matthews jenes goldene Leuchten, mit dem manche glücklichen Blondinen geboren werden und von dem sie, was ein noch größeres Glück war, auch als Erwachsene umgeben sind. Es schien, als leuchte ein helles Licht unter ihrer porenlosen Haut. Ihre Stupsnase war mit winzigen Sommersprossen gesprenkelt; sie wirkte frisch und hübsch und auf eigenartige Weise sexy. Leslie hatte JoJos Blicke des öfteren zu Terri schweifen sehen, aber es war nichts passiert, wenigstens soweit Leslie das wußte.
Sie rannten durch überflutete Straßen und sprangen wie Gazellen über Pfützen, freigelassene Tänzerinnen eben. Bis auf die Haut durchnäßt und lachend kamen sie zu Filene’s und drängten sich an den Kunden vorbei, die sich unter der Markise an der Washington Street gestellt hatten, um trocken zu bleiben. Ohne Aufenthalt steuerten sie das Untergeschoß an.
Nach einer schnellen Tour durch die Garage begannen sie, die Kleiderständer zu durchkämmen, hielten sich Kleider an Bügeln vor die Körper und warteten auf den Kommentar der anderen. Terri fand ein Kostüm aus elfenbeinfarbener Seide, sehr körpernah geschnitten, und probierte die Jacke über dem Trikot an.
»Was meinst du?« wollte sie wissen.
Leslie hielt den Kopf schräg. »Sehr schön. Aber elfenbeinfarben? Ich hätte nie den Mumm, so etwas zu tragen.«
Terri lächelte sie wehmütig an. »Ich sage nie mehr nie. Außerdem habe ich vielleicht einen besonderen Anlaß, es anzuziehen.«
»Was, du und Peter, habt ihr beschlossen …?« Peter Koenig war Schauspieler und Terris beständigster Freund.
Terri sagte nicht mehr, machte aber eine geheimnisvolle Miene.
Mit nur einem Abstecher, um sich Hamburger und Cola zu kaufen, rannten sie zur Probe zurück, Terri mit ihrem elfenbeinfarbenen Kostüm, Leslie mit einem budgetsprengenden Chanelkostüm – das einen kleinen Riß im Futter hatte – im gleichen Magentarot wie das Logo von Combinations.
An der Bühnentür des Shubert schaute Terri sie strahlend an und sagte: »Gott, war das lustig, was?«
Tränen strömten über Wetzons Wangen. »Ja, es war lustig, Terri«, murmelte sie. »Verdammt lustig.« Combinations war von den Kritikern bejubelt worden; sie waren zusammen durch dick und dünn gegangen, die ganze Truppe. Dann wurden sie alle vom Beruf und anderen Shows in Anspruch genommen und verloren sich aus den Augen. Wetzon nahm die Kachel und die Fotos und rollte sich auf dem Sofa zusammen.
Sie starrte auf die Fotografien des Schädels und der Knochen im Schrankkoffer. Wie konnte dies passiert sein? Aber Moment mal, vielleicht war es gar nicht Terri, und sie zog voreilig falsche Schlüsse. Dann klang ihr Terris heisere Stimme im Ohr. Hat mich denn keiner vermißt?
In einem Beruf, wo die Karriere vor Lebensgefährten, Freunden und Kindern kam? Das war nicht sehr wahrscheinlich.
Terri hatte allen aus heiterem Himmel mitgeteilt, daß sie nach Cincinnati zurückkehren wollte, um eine Tanzschule zu eröffnen. Und dort war sie vermutlich in ebendiesem Augenblick. Wetzon wischte sich die Tränen vom Gesicht, doch die Angst und das Schuldgefühl konnte sie nicht auslöschen.
So tief in sich gekehrt war sie, daß sie das klick, klick, klick auf dem Holzboden nicht hörte und erschrak; als plötzlich Izz, die weiße Pelzkugel, auf ihrem Schoß saß und freudig ihr Gesicht leckte. Die Kachel flog ihr aus der Hand und schlug mit einem Knall, der wie ein Gewehrschuß klang, auf dem Boden auf. Im Zeitlupentempo, sich wie eine Blume öffnend, begann die Kachel zu splittern, von der Mitte nach außen, bis die Oberfläche ein dichtes Netz aus spinnwebartigen Linien war.
»Was zum Kuckuck war das?« fragte Silvestri. Er stand dort, wo der Flur ins Wohnzimmer mündete. »Es ist drei Uhr, und du bist …«
Sie sah ihn an in seinen Boxershorts, barfuß, mit zu Berge stehenden Haaren, und ein Lachanfall schnürte ihr die Kehle zu. Dann, ohne Vorwarnung, kamen wieder die Tränen.
»Les?« Er saß neben ihr, hielt sie fest. »Willst du mir nicht sagen, was los ist?«
Sie lehnte sich an ihn; der Drang zu lachen war ihr vergangen, und sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals so trostlos gefühlt zu haben. Izz sprang vom Sofa und schnupperte an der zersprungenen Kachel auf dem Boden, während sie sie umkreiste.
»Das hat dich aufgeweckt«, sagte sie. »Izz hat sie mir aus der Hand gestoßen.«
»Hattest du wieder diesen Traum?« fragte Silvestri, ohne auf die Kachel einzugehen.
»Nein.« Zwei Jahre waren vergangen, seitdem sie angeschossen worden war und danach an einem posttraumatischen Streßsyndrom gelitten hatte. Mit Hilfe einer Therapie durchlebte sie den Moment kaum noch in ihren Träumen. »Ich konnte nicht schlafen. Ich dachte an das Mädchen im Koffer.«
Silvestris Blick fiel auf die offene Aktentasche auf dem Boden. »Es ist meine Schuld. Ich hätte dich da nie hineinziehen sollen. Komm mit ins Bett.« Er zog sie hoch, aber sie schüttelte ihn ab und bückte sich, um die Kachel zu betrachten.
Die ganze Oberfläche war von Sprüngen durchzogen, aber als sie mit einem Finger daranstieß, fiel sie nicht auseinander.
»Sieh dir das an, Silvestri, und dann das Tatortfoto mit den aufgereihten Gegenständen aus dem Koffer.« Sie seufzte und ging in die Küche, nahm einen Metallspatel aus einer Schublade und kam zurück. Silvestri kauerte auf dem Boden und betrachtete die Kachel. Sie sagte: »Du hattest recht, mich in die Sache hineinzuziehen.« Vorsichtig schob sie den Spatel unter die Kachel und hob sie an, wobei sie den überstehenden Teil mit der Handfläche stützte.
Silvestri kramte in seiner Aktentasche und zog eines der frisch gewaschenen Hemden heraus. Dann entfernte er die Papphülle und ließ das Hemd wieder in die Tasche fallen. »Leg sie darauf, Les.«
Wetzon schob die Kachel auf die Pappe und legte sie auf den Eßzimmertisch, dann holte sie ihr Vergrößerungsglas und das Foto.
»Laß sehen«, sagte Silvestri.
»Das ist der Grund, warum du recht hattest, mich in das hier hineinzuziehen. Davey Lewin hat jedem von uns eine Kachel mit dem Logo der Show und einer Widmung geschenkt. Ich bezweifle, daß irgend jemand das entdeckt hätte, Silvestri, außer einem aus der ursprünglichen Truppe von Combinations.«
»Was hat das mit Combinations zu tun?« Er betrachtete die Fotografie durch das Vergrößerungsglas. Gleich würde er entdecken, was sie gesehen hatte.
»Sieh dir das an und jetzt meine Kachel.« Sie beobachtete ihn; er bemerkte sofort, was sie meinte.
Das Vergrößerungsglas blieb auf der Fotografie liegen. Er legte seine Hände auf ihre Schultern, ihren Rücken und streichelte sie. Sie ließ sich von ihm zum Bett führen.
Nach einer Weile sagte sie: »Wir haben sie für die konzertante Aufführung gesucht. Keiner hat sie seit Jahren gesehen oder von ihr gehört. Es ist entsetzlich, daß dies geschehen konnte.« Plötzlich war sie furchtbar müde, als hätte jemand Hafergrütze in ihre Adern gepumpt. Sie drückte ihre Wange an seine Brust. »Uns alle trifft die Schuld daran.«
»Okay, du glaubst, du kennst sie, aber wollen wir nicht lieber warten, bis Nina es nachgeprüft hat?«
»Vielleicht ist alles ein gewaltiger Irrtum. Sie könnte die Kachel weiterverschenkt haben.« Aber noch während sie diese Möglichkeit andeutete, war ihr klar, daß es höchst unwahrscheinlich war. Schauspieler, besonders Tänzer, klammerten sich an Erinnerungen. Manchmal waren Erinnerungen alles, was sie besaßen.
»Wer war sie, Les?«
Sie biß sich auf die Lippen. Den Knochen einen Namen zu geben, würde es zur Tatsache machen. »Sie war eine der Tänzerinnen in der Show. Auf der Tournee waren wir Zimmergenossinnen, saßen in der Garderobe nebeneinander. Ihr Name war Terri Matthews.«