Читать книгу Der letzte Vorhang - Annette Meyers - Страница 26
11. Kapitel
Оглавление»Ich zeichne das nicht ab, Carlos, tu du’s bloß auch nicht. Nichts unterschreiben, bis ich mit Mort gesprochen habe.«
»Dein Wunsch ist mir Befehl, Herzallerliebste.«
In der Morgendämmerung überzog ein eisiger Sprühregen die Stadt mit strahlendem Glanz.
Sie hatte Silvestri die Namen der Originalbesetzung und des Regieteams gegeben – von allen, die ihr einfielen –, sowie die Telefonnummer ihrer Freundin Ann Ledley von der Schauspielergewerkschaft. Silvestri saß am Telefon und redete mit Nina Wayne, als Wetzon ging.
Wie viele Menschen, fragte sich Wetzon, als sie in den wartenden Wagen stieg, entschwanden mit den Jahren einfach so dem Gesichtskreis? Menschen, die man mochte – oder auch nicht mochte –, die man aber nie wieder sehen würde. Man war für kurze Zeit sehr vertraut miteinander, dann trennten sich die Wege. Man dachte nur noch ab und zu an sie, wenn überhaupt. Wann hatte sie zum letztenmal an Terri gedacht?
Der Familienkreis – denn um einen solchen handelte es sich – eines Musicals ergab sich aus Notwendigkeit. Normalerweise gab es eine Mutterfigur und eine Vaterfigur. Intimität entstand beinahe spontan, besonders wenn das Musical auf Tournee ging. Später löste sich der Kreis auf, wenn die Show abgesetzt wurde oder man zu einer anderen Show wechselte. Und das wurde verstanden und akzeptiert.
An diesem Morgen war sie froh für die Anonymität des Mietwagendienstes. Der Chauffeur, jung und bärtig, trug ein kleines goldenes Kruzifix als Ohrring, das von dem einen Ohrläppchen baumelte. Er hatte es darauf angelegt, das Rotlicht zu überfahren, während er durch den Central Park raste. Er brummte und stöhnte über den städtischen Bus, über einen Bauwagen der Stadtwerke – der natürlich genau in der Mitte der Columbus Avenue geparkt war, wo sie einen größeren Krater aushoben – und über den allgemeinen Verkehr, der sich für ihn nicht schnell genug voranbewegte.
Sie hätte ihm gern gesagt, daß einem, wenn man so durchs Leben hetzte, Augenblicke heiterer Gelassenheit entgingen – Menschen, die man mochte, die eben noch hier waren und im nächsten Augenblick für immer fort. Aber sie sagte nichts. Er hätte es nicht verstanden. Sie blickte durch das vom Regen gestreifte Fenster des Autos und versuchte sich an die Feier nach der Schlußvorstellung von Combinations vor siebzehn Jahren zu erinnern, als sie sich zum letztenmal als Familie in der Tavern on the Green eingefunden hatten.
Der Chauffeur parkte in der zweiten Reihe vor Smith’ Gebäude in der East 77. Street, stieg aus und sprach mit dem Portier. Natürlich hatte Smith Verspätung. Es war schon halb acht, was bedeutete, daß die Chancen schlecht standen, rechtzeitig zum Frühstück zu kommen. Smith bevorzugte den eindrucksvollen, wenn auch verspäteten Auftritt, weil sie die Ansicht vertrat, die wichtigsten Personen tauchten nirgendwo pünktlich auf.
»Ich könnte anrufen und ihnen sagen, sie sollen ohne uns anfangen«, sagte Wetzon halblaut, als Smith zehn Minuten später angeschlendert kam.
Ihre Partnerin warf ihr einen bösen Blick unter kakaofarbenen Lidern zu und wedelte mit einem Fünfzig-Dollar-Schein, der aussah, als wäre er gerade gedruckt worden, in Richtung des Chauffeurs. »Der gehört Ihnen, wenn Sie uns in fünfzehn Minuten zum Rosenkind Luwisher Tower gegenüber dem World Trade Center bringen.«
»Um Himmels willen, Smith, in welchem Jahr leben wir? Niemand tut das mehr. Du beleidigst den Mann. Er könnte seine Zulassung verlieren.«
»Ah, Lady«, schnurrte der Chauffeur, der Smith im Rückspiegel beobachtete, »Sie sprechen meine Sprache.«
Unter halbgeschlossenen Lidern glänzten Smith’ Augen. Ihr selbstgefälliges Lächeln sagte alles.
»Bitte ohne uns umzubringen«, fügte Wetzon hinzu, während das Auto nach Osten zum East River Drive raste. Sie spürte, wie ihre Stimmung sank.
Schon ein leichter Sprühregen sorgte in New York für Staus. Der Verkehr geriet ins Stocken, sobald die Straßen naß wurden. Keiner wußte, warum. Niemand fuhr jemals langsamer, doch bei regnerischem Wetter gingen nicht so viele zu Fuß. Vielleicht benutzten mehr Leute Taxis und Mietwagendienste, wodurch eine größere Anzahl Autos als sonst die Straßen verstopften. Was auch immer der Grund sein mochte, der Chauffeur bekam sein Fünfzig-Dollar-Trinkgeld nicht, und Smith und Wetzon kamen zu spät.
Der Rosenkind Luwisher Tower erhob sich achtundsechzig Stockwerke hoch, von denen die Maklerfirma jetzt die oberen zwölf einnahm. Einst hatte die Firma den Luwisher Brothers allein gehört, aber Luwisher Brothers hatten die Flut der Fusionen und Aufkäufe nach dem Crash von 1987 nicht überlebt und einen schnellen Kapitalzufluß benötigt. Rosenkind Partners, eine Gruppe von risikofreudigen Aufkäufern, hatten das Kapital beschafft und die Firma übernommen.
»Du trödelst!« rief Smith. »Da kommt der Aufzug – schnell.«
»Trödeln? Verdammt. Smith. Warum sind wir so spät dran? Das nächstemal nehme ich die U-Bahn, und dann werden wir sehen, wer schneller ist.«
Der Aufzug war mit gestepptem braunem Leder verkleidet und programmiert, direkt zum sechsundfünfzigsten Stock zu fahren. Als sie einstiegen, kam die Ansage: »Guten Morgen. Dieser Aufzug fährt nur zu Rosenkind Luwisher Brothers. Bitte wählen Sie die Etage.«
»Wie üblich?« fragte Wetzon.
Smith legte ihren behandschuhten Finger auf das glänzende Messingquadrat mit der 67. »Der Speiseraum der Leitenden«, sagte sie, als antwortete sie der Computerstimme. Der Aufzug stieg weich wie ein Heliumballon in die Höhe.
Als sie ausstiegen, fielen Wetzon kaum Veränderungen auf. Doch, ja, vielleicht die Farbe des Teppichs, der jetzt blaß olivgrün war, und die Wände in gebrochenem Weiß mit olivfarbenem Schimmer. Die mehrdeutigen Gemälde von Georgia O’Keeffe waren verschwunden. An ihrer Stelle hingen die verzerrten Visionen Francis Bacons, eines Künstlers, den Mike Rosenkind sammelte. Rosenkind liebte die Hinweise auf seine Tätigkeit als Kunstsammler und hatte es gern, wenn in Forbes und Fortune Artikel über die Firma erschienen.
Der siebenundsechzigste Stock war integriert mit dem achtundsechzigsten, über dem ein Oberlicht ein Gefühl von Ewigkeit projizierte, genau das Richtige für eine Maklerfirma. Vielleicht war Calvin Klein vorbeigekommen, um ein Geschäft abzuschließen, und hatte sich inspirieren lassen.
Wo einmal ein richtiger, in Hydrokultur gezogener Baum durch die zwei Stockwerke bis zum Oberlicht gereicht hatte, stand jetzt die gigantische Boteroskulptur eines dicklichen Mannes, in Rückansicht nackt auf einer Leiter, von dem berühmten Kunstsammler Mike Rosenkind in Auftrag gegeben. Die geschwungene Marmortreppe, auf der Wetzon vier Jahre zuvor Carlton Ashs Leiche gefunden hatte, war unverändert.
Unter dem Oberlicht im achtundsechzigsten Stock verfügte der Speiseraum der Leitenden auf drei Seiten über Fenster, von denen aus man das untere Manhattan und den Finanzdistrikt überblickte. Trotz des starken Nieselregens ragte die Freiheitsstatue mit ihrer leuchtenden Fackel über dem Nebel.
Die Tische waren mit weißem Leinen gedeckt, und die gedämpfte und gediegene Atmosphäre erinnerte angenehm an den alten Süden; die Kellner rekrutierten sich aus älteren Schwarzen in dunklen Anzügen und weißen Hemden, was jeden in der realen Welt daran erinnerte, daß die Wall Street dank ihres habsüchtigen Herzens durchweg in einer Zeitnische verharrte.
»Hier lang, bitte.« Die Assistentin des leitenden Direktors Neil Munchen führte sie zu einem abgetrennten Bereich. Sie sahen sofort, daß es sich nicht um ein Frühstück in kleinem Kreis handelte.
In dem Durcheinander der Gesichter erkannte Wetzon schnell ihren früheren Mitarbeiter Harold Alpert, und der rundliche kleine Mann neben ihm mußte …
»Tom Keegen«, murmelte Smith in Wetzons Ohr. »Verschwinden wir.« Sie klopfte Wetzon auf die Schulter.
Neils Assistentin riß die Augen auf.
»Erst mal abwarten, Smith. Hören wir uns an, was sie zu sagen haben. Es muß wichtig sein, wenn sie uns alle hergeholt haben.«
»Nur hereinspaziert, Mädchen. Ihr bekommt alle euren Kaffee«, sagte Doug Culver, einer der Direktoren. »Wir fangen in Kürze an.«
»Mädchen?« Smith sah aus, als wolle sie gleich explodieren. Wetzon nahm ihren Arm und steuerte sie zu einem leeren Tisch, auf dem schon ein Krug mit Orangensaft, eine Kanne voll duftenden Kaffees und ein Korb mit Muffins und Croissants standen. »Warum nimmst du es nicht gelassen?« zischte Wetzon mit einem gequälten Lächeln.
Ein Kellner brachte ihnen eine Frühstückskarte – Pfannkuchen, Waffeln, Eier, Omeletts, Obst und Hafergrütze.
»Ich könnte keinen Bissen essen«, sagte Smith. »Ich würde daran ersticken.«
»Versuch’s.« Wetzon überflog die Karte.
»Also gut. Ich nehme die Grapefruitschnitze, das Bauernomelett mit Wurst extra, gut durchgebraten, und vier Stück Siebenkornbrot, kräftig getoastet.«
Wetzon schaute ihre Partnerin belustigt an. Smith konnte essen wie ein Scheunendrescher, brauchte sich nicht zu bewegen und nahm dennoch kein Gramm zu. »Ich dachte, du würdest daran ersticken«, stichelte sie. Smith blickte finster drein. Wetzon bestellte einen getoasteten Bagel, dazu Rahmkäse.
Wenig später erhob sich Doug Culver. »Ich möchte Ihnen allen danken, daß Sie dieser so kurzfristigen Einladung folgen konnten.« Er sprach langsam und gedehnt, was bedeutete, daß er einem, wenn man keinen klaren Kopf behielt, einen Dolchstoß versetzte, während er Südstaatencharme verbreitete, verführerisch wie Rote Grütze. Ein rundlicher, gemütlicher Vertreter des alten Georgia, zeigte Doug ein friedliches Äußeres und ein breites Lächeln, die sein scharfer Verstand mit dem unheimlichen Instinkt für Eigennutz um jeden Preis Lügen strafte. Nur er und Neil Munchen hatten von der Mannschaft, die Luwisher Brothers vor der Übernahme leitete, überlebt. »Ich bin sicher, daß sich alle untereinander kennen, so daß Vorstellungen überflüssig sind.«
Wetzon sah sich um, als ihr plötzlich auffiel, daß sie und Smith die einzigen Frauen im Zimmer waren. Im selben Augenblick kam ihr Frühstück.
»Wir hier bei Rosenkind Luwisher Brothers«, fuhr Doug Culver fort, »glauben, während wir auf das Jahr Zweitausend zugehen, daß wir uns in die Lage versetzen müssen, die Veränderungen, die sich an der Wall Street anbahnen, auszunutzen. Wir schätzen, daß vielleicht nicht mehr als zehn Firmen bis zum Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts durchhalten und wir rechnen damit, eine davon zu sein.« Er legte eine Pause ein, um diese ganze wunderbare Information wirken zu lassen. »In diesem Sinne werden wir einiges umstrukturieren.«
Wetzon stieß Smith mit der Schuhspitze an. »Jetzt kommt’s«, flüsterte sie.
»Wir meinen, daß wir eine großartige Geschichte zu erzählen haben, und wenn Sie sie richtig weitererzählen und diese Burschen – von den Topfirmen, versteht sich – herbringen, damit sie mit uns reden, können wir mit Ihnen ins Geschäft kommen.«
Richtig, dachte Wetzon. Das sagten sie alle. Jede Firma glaubte ernsthaft, sie sei absolut singulär. (Sie hatte einmal gegenüber einem Direktor bei Loeb Dawkins geäußert, daß sich im Grunde alle großen Firmen in dem, was sie einem Broker boten, glichen. Der Unterschied lag im Direktor. Unausgesprochen blieb die Tatsache, daß Direktoren umfielen wie Kegel durch eine Bowlingkugel, wie jeder in der Branche wußte. Doch dieser Direktor hatte protestiert. »Es gibt keine Firma an der Wall Street mit der Qualität von Loeb Dawkins«, hatte er erklärt. Wetzon hatte zugestimmt: »Sie haben absolut recht.«)
»Also«, sagte Doug Culver, »stellen wir unsere eigenen Anwerber ein.«
Es wurde so still im Raum, daß man hören konnte, wie jemand ein Tütchen Süßstoff in seinen Kaffee schüttete.
»Was bedeutet das für uns?« Der Mann, der die Frage stellte, hatte ein junges Gesicht unter krausem weißem Haar.
»Wer ist das?« fragte Wetzon durch eine Mundvoll Bagel.
Smith blickte von ihrem Omelett auf. »Howard Rivkin.«
»Ah, das ist Howard Rivkin. Die Broker mögen ihn.«
»Ein Schleimscheißer«, fauchte Smith. »Wie alle.«
Vermutlich wir auch, dachte Wetzon.
»Das bedeutet«, fuhr Doug Culver fort, »daß Sie dann alle nicht mehr so angestrengt arbeiten müssen …«
»Etwas ist hier faul«, murmelte Smith. »Seit wann machen sie sich Sorgen darüber, wie angestrengt wir arbeiten müssen? Ich denke, sie haben uns eingeladen, um …«
»Blasen Sie schon zur Jagd, Dougie!« rief Wetzon. Als er in ihre Richtung blickte, zeigte sie ihm ihr charmantestes Lächeln.
»Ah, Wetzon, ich wußte doch, daß ich mich auf sie verlassen kann – gut, daß Sie mich davon abhalten, vom Thema abzuschweifen. Kurz und gut, wir ändern unsere Taktik mit den Anwerbern.«
Wetzon schaute sich im Raum um. Jeder versuchte, niemanden anzusehen. Es war wie das letzte Abendmahl, nur daß es ein Frühstück war. Ein Scheißfrühstück. Eine Henkersmahlzeit.
»Wir haben das sehr gründlich überlegt, wie Sie sich vorstellen können …«
»Natürlich haben Sie das«, sagte Smith in einem Ton, der vor Sarkasmus triefte.
»… und finden in diesem Zusammenhang, daß die sechs Prozent, die Sie bekommen, zu hoch sind in diesen schwierigen Zeiten, weshalb wir Ihre Honorare kürzen werden.«
Smith erhob sich wie eine Walküre. »Davon träumen Sie wohl, Doug Culver.«
Culver ließ ein gütiges Lächeln wie einen leisen Rülpser vom Stapel. »Auf vier Prozent.«
Smith wandte sich an Wetzon. »Schulden die uns noch was?«
Wetzon schüttelte den Kopf und stand ebenfalls auf. »Was hast du vor?«
Smith setzte sich in Bewegung, und Wetzon mußte sich beeilen, um hinterherzukommen. Erst als sie im Aufzug standen, beantwortete Smith die Frage Wetzons. Sie sagte: »Vergewaltigen, plündern und brandschatzen!«