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5. Kapitel

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»Nancy, ich glaube, die ursprünglichen Spazierstöcke waren aus schwarzem Bambus.«

»Ich weiß, Leslie, aber Mort meint, sie sollten etwas mehr Schmiß haben, deshalb ersetzt er Bambus durch Neonstäbe.«

»Hat er sich mit Carlos abgesprochen? Ich hoffe doch. Carlos ist der Co-Regisseur.«

Es herrschte Totenstille. »Ich richte es Mort aus, Leslie.«

Wetzon hielt einen Augenblick lang die Luft an. Der Raum begann sich zu drehen.

»Les?« Silvestri langte über den wirbelnden Tisch, während besorgte Falten auf seinem Gesicht erschienen. »Das war ein dummer Einfall, Nina. Stecken Sie die Fotos weg, und vergessen wir das Ganze.«

Wetzon blinzelte, um ihn deutlich sehen zu können. Er verkündete: »Ich bin gleich zurück«, dann stand er auf und ging in den vorderen Raum.

Nina griff nach den Fotografien. Mit einem Ruck hörte der Raum auf, sich zu drehen, und Wetzon legte die flache Hand auf die Bilder. »Nein, warten Sie.«

»Geht es wieder?« fragte Nina. »Sie sind so bleich wie das Tischtuch hier geworden.«

Wetzon nickte. »Ich weiß nicht, was passiert ist. Es war, als wäre jemand über mein Grab gegangen …«

»Ich dachte, vielleicht hätten Sie …«

»… sie gekannt?«

Nina nickte.

»Nach ihren Knochen? Ist das nicht ein wenig weit hergeholt?«

»Mag sein.«

Silvestri stellte ein Gläschen Hochprozentigen vor sie. »Trink einen Schluck«, befahl er.

Wetzon schielte zu ihm hoch. Er leckte unbewußt einen Tropfen von dem Glas an seinem Finger ab. »Es geht mir gut.«

»Trink«, sagte er. »Keine Debatten.«

Sie sah Nina vielsagend an und nahm einen Schluck. Purer Malzwhisky. Sie behielt die Flüssigkeit im Mund, kostete sie, ließ dann ihre Wärme durch die Kehle gleiten.

Zufrieden setzte sich Silvestri. »He …« Er hatte bemerkt, daß die Fotos noch auf dem Tisch lagen.

»Sie möchte sie betrachten«, erklärte Nina.

»Ich möchte sie betrachten«, bestätigte Wetzon. Sie vertauschte den Scotch mit Kaffee und bedachte Silvestri mit einem scharfen Blick, der besagte: Schreibe mir nicht vor, was ich zu tun habe. Aber sie schaute nicht auf die Fotos unter ihrer Hand. Sie konnte nicht. Noch nicht. »Erzählen Sie, was Sie von ihr wissen. Woher wissen Sie, daß es eine Frau ist?«

»Na ja …« Nina sah Silvestri an, der die Schultern zuckte. »Frauen haben glattere Brauenbögen, und das Becken ist breiter als bei einem Mann. Wir bestimmen als erstes das Geschlecht, dann die Rasse – sie ist weiß –, dann die Statur. Die Weisheitszähne waren vorhanden und kaum abgenutzt. Danach war sie zwischen vier- und siebenundzwanzig, als sie starb, aber die Verwesung war sehr stark, so daß wir kein weiches Gewebe untersuchen konnten. Zum Glück war der Keller trocken; es gab keinen Hinweis auf Feuchtigkeitsschäden, und der Schrankkoffer, in dem sie gefunden wurde, war nicht porös.«

»Du lieber Himmel«, murmelte Wetzon.

Silvestri schob ihr den Scotch hin, und sie leerte das Glas ohne Widerrede.

»Habe ich richtig gehört, Nina, ein Schrankkoffer?«

Nina sah Silvestri an.

Er langte über den Tisch und zog die Fotos unter Wetzons Hand hervor, dann blätterte er sie durch, bis er die gesuchten gefunden hatte. Er hielt sie nebeneinander: »Vor sechs Monaten wurde dieses Wohnhaus an der Ecke Eleventh und Hudson von einem Architekten und seiner Frau gekauft. Es gab einen Mieter in einer Maisonettewohnung in den zwei oberen Stockwerken. Sie begannen, die drei unteren für eine Dreietagenwohnung zu renovieren. Der Schrankkoffer befand sich im Keller mit einer Menge sonstigem Gerümpel, das frühere Mieter zurückgelassen hatten.« Er hielt die Fotografie eines großen schwarzen Metallkoffers mit Messingecken hoch, so ähnlich wie der, mit dem Wetzon das College bezogen hatte, nur kam dieser ihr sogar noch bekannter vor; es waren Aufkleber von einer Tourneetruppe darauf. Sie erkannte Cabaret, West Side Story und andere Musicals.

Silvestri schob ein anderes Foto über das mit dem Schrankkoffer. Die gleiche Ansicht, nur daß der Koffer jetzt geöffnet war.

Sie starrte auf einen Schädel über einem Durcheinander von Knochen. An einigen hafteten Stoffetzen, die aussahen, als wären es vielleicht einmal Jeans gewesen. Der Schädel war mit stumpfem goldenem Haar bedeckt.

»Sie hatte blondes Haar?« Für die eigenen Ohren klang Wetzon gelassen und professionell, aber im Innern spürte sie Angst und eine sonderbare Verwandtschaft mit der Frau, vielleicht weil auch Wetzons Becken und Zehen wahrscheinlich irgendwelche Streßsymptome aufwiesen.

Nina sagte: »Ja, aber nicht diese Farbe.«

»Kaum zu glauben, daß so ein kleiner Haufen Knochen eine erwachsene Person ausmachte.«

»Und gar keine so kleine. Ich denke, sie war beinah einssiebzig groß und wog um die fünfundfünfzig Kilo.«

»Das können Sie alles feststellen?« Hatte die Tote diese Jeans geliebt? fragte sich Wetzon. Hatte sie sie steif und neu gekauft und unter der Dusche an ihren Körper angepaßt?

Nina nickte. »Mit Hilfe der Länge des Oberschenkelknochens und einer mathematischen Gleichung: ein wenig Multiplizieren und Addieren, und Sie haben es. Das Gewicht können wir auch aufgrund der Größe des Gürtels, den wir im Koffer gefunden haben, schätzen.«

»Der Gürtel ist nicht zerfallen?«

»Er war aus Plastik.«

»Sie hatte keinen Ausweis?«

»Nein.«

»Ich dachte, heute könnte man Personen anhand der Zähne identifizieren.«

»Das Dentoskopieprogramm in Colorado hat nichts ergeben.«

Silvestri reichte die Fotos Nina Wayne, die sie alle in den braunen Laschenumschlag schob und Silvestri zurückgab. »Das ist Ihr Satz. Ich habe noch einen dabei.«

Wetzon starrte in ihre fast leere Kaffeetasse. Keiner sprach, obwohl Nina sich vorbeugte, als wollte sie etwas sagen.

Plötzlich meldete sich Silvestris Piepser. »Bin gleich wieder da«, sagte er, während er an ihrem Kellner vorbeiging, der mit zwei Kaffeekannen zum Nachschenken auf sie zukam.

»Noch was zum Aufwärmen?« fragte der Kellner.

»Das wird Ihnen nicht gelingen«, entgegnete Wetzon. Er lächelte höflich und räusperte sich, weil sich ihre Stimme rauh anhörte.

»Also?« sagte Nina, als der Kellner fort war.

»Warum liegen die Knochen so auf einem Haufen? Hat man sie zerstückelt?«

»Nein. Die Verwesung war so stark, daß das Skelett sich auflöste. Dadurch fielen die Knochen aufeinander.«

»Sie meinen, ich könnte sie gekannt haben.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Es besteht eine vage Möglichkeit. Die Welt des Tanzes ist wohl eine kleine, geschlossene Gesellschaft.«

»Stimmt, aber sie könnte Ballettänzerin gewesen sein. Dann habe ich sie vielleicht nicht gekannt, es sei denn, sie wäre ein Star oder ich hätte mit ihr den gleichen Kurs absolviert.«

»Probieren Sie es so: Haben Sie jemand gekannt – eine Tänzerin –, die vor ungefähr fünfzehn Jahren in der Eleventh Street gewohnt haben könnte? Eine, die sie seit langem nicht mehr gesehen haben?«

»Eine Menge Tänzer haben im Village gewohnt – wohnen immer noch dort. Es ist so lange her. Darüber muß ich nachdenken. Ich kann mich umhören. Können Sie mir Vergrößerungen von den Aufklebern auf dem Koffer besorgen?«

»Ja.«

Silvestri kam zurück. »Ich habe die Rechnung bezahlt«, sagte er, setzte sich aber nicht mehr. »Ich muß zurück.«

Wetzon schaute auf die Uhr. Halb drei. »Ich auch.« Sie stand auf und zog den Mantel an.

»Les? Sehen wir uns noch?«

Sie nickte. Neben ihm stehend war Nina Wayne größer als Silvestri. Wetzon war nahe daran zu lächeln, als sich ein anderer Gedanke vordrängte. »Moment«, sagte sie, während sie die beiden abwechselnd ansah, »ihr habt mir noch gar nicht gesagt, wie sie gestorben ist.«

»Oh.« Nina seufzte.

Silvestri legte den Arm um Wetzon, schob sie durch das Restaurant und winkte Casey. Auf der Straße kroch der mittägliche Verkehr vorbei, und die Leute eilten zur Arbeit zurück, die Kragen hochgeschlagen. Es war beißend kalt an diesem Novembertag. Eingerahmt von den Türmen der Wall Street schwebte ein Goodyear-Zeppelin lautlos über dem Finanzdistrikt.

Ein Lastwagen hatte eine Fehlzündung, und für einen Moment erstarrte Silvestri. Er hatte den Arm nicht von Wetzons Schulter genommen. Nina, die einen langen weinroten Wollmantel trug, der ihre Größe noch unterstrich, schloß sich ihnen an.

»Kann ich jemand unterwegs absetzen?« fragte Wetzon. »Ich fahre die East 49. entlang.«

Silvestri schüttelte den Kopf.

»Ich unterrichte am John Jay«, sagte Nina, »aber für mich ist es bequemer, wenn ich einfach in die U-Bahn steige.«

»Wie ist sie gestorben, Leute?«

Silvestri winkte einem Taxi und hielt ihr die Tür auf. »Sie wurde erschossen, Les. Irgend jemand jagte ihr eine Kugel in den Kopf.«

Der letzte Vorhang

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