Читать книгу Im Land der Nuria - Annina Safran - Страница 18
Zehntes Kapitel
Bodans Flucht
ОглавлениеBodan wurde durch ein dumpfes Brummen geweckt, das immer lauter wurde. Vorsichtig öffnete er die Augen und sah sich verwirrt um. Gegenüber der Stelle, an der er lag, landete ein großer Schwarm Feen, die etwas zu tragen schienen. Der Spiegelwächter stöhnte auf, als er sich bewegte. Seine Glieder schmerzten ihn genauso wie vorher. Langsam richtete er sich auf und lehnte sich an die Felswand, an der er eingeschlafen war. Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, kam Desmond auf ihn zu geeilt.
»Du bist wach.« Er zog ein Gefäß aus seiner Hosentasche und führte es an Bodans Lippen. »Trink, mein Lieber, trink«, flüsterte er.
Bodan wollte die Flüssigkeit erst nicht schlucken und versuchte, den Kopf abzuwenden. Er wollte Desmond erklären, dass er davon nichts brauche und er es für sich aufbewahren solle, aber dann berührte die Flüssigkeit seine Lippen, und es schmeckte nach purem Gold. Nach gleißendem Licht. Und es beflügelte ihn regelrecht. Als hätte er plötzlich wieder Magie. Seine Schmerzen ließen nach, und Kraft durchströmte ihn. Bodan konnte gar nicht genug bekommen von dieser Flüssigkeit. Er umklammerte das Gefäß voller Gier, bis Desmond es ihm vorsichtig aus den Händen nahm. Er spürte seinen festen Griff nicht, die Bestimmtheit, mit der er seine Finger von der Flasche löste, und selbst seinen eigenen Widerstand nahm er nicht wahr. Er war wie im Rausch. Während Desmond sich vor ihn kniete und ihn sanft gegen die Felswand drückte, blickte er kurz an sich hinunter in der Hoffnung, seinen Schatten zu sehen. Diese Flüssigkeit hatte ihn zu Kräften kommen lassen, ihm jedoch nicht den Schatten zurückgebracht. Es musste ein Zaubertrank sein. Ein sehr starker offenbar.
»Durchatmen, Bodan«, flüsterte Desmond. »Du brauchst diese Kraft, damit wir hier rauskommen.« Seine dunklen Augen funkelten bei diesen Worten.
Bodan starrte ihn an, als hätte er nicht richtig verstanden. »Hier raus? Wie?«
Desmond lächelte. »Vertrau mir, Bodan. Wir schaffen das. Ich habe einen Plan.«
Der Spiegelwächter versuchte zurückzulächeln, wobei der Rausch des Tranks anhielt, so dass er übertrieben grinste. Seine Gedanken überschlugen sich. Wie sollten sie es aus dem Krater herausschaffen? Ganz ohne Magie? Er blickte an dem Menschen hinunter, der vor ihm hockte, und dachte: Desmond hatte einen Schatten, und dieser war mächtig. Wenn er seine Magie einsetzte, dann hätten sie eine Chance. Aber da war nichts. Es war dunkel an der Stelle, an der sie saßen, jedoch auch im Dämmerlicht hätte dort auf dem Boden ein Schatten neben Desmond liegen müssen.
»Hast du deinen Schatten verloren?«, keuchte Bodan.
Desmond lächelte ihn an. »Das ist nicht schlimm. Wir brauchen keine Schatten, um von hier zu verschwinden.« Er sah ihm fest in die Augen und drückte seine Hand. »Wir schaffen das. Du musst mir vertrauen, bitte. Lieber alter Bodan. Mein Spiegelwächter, Spiegelwächter der Solas-Familie. Du hast uns immer gute Dienste erwiesen und unseren Spiegel bewacht. Es wird Zeit, dass wir etwas von deiner Güte und Großzügigkeit zurückzahlen. Lass mich dir helfen.«
»Dein Schatten«, stammelte Bodan.
Desmond schüttelte nur sanft den Kopf. »Bist du soweit? Können wir gehen?«
Bodan nickte und stand auf. Er hätte fast einen Luftsprung gemacht, so energiegeladen fühlte er sich. Desmond bahnte sich einen Weg durch die arbeitenden Städter, Bodan folgte ihm dicht auf den Fersen. Niemand beachtete sie. Anfangs nickte er noch entschuldigend, wenn er sich vorbeidrücken musste, aber die Städter schienen ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen. Es war, als wären die beiden unsichtbar. Auch die Berggeister schienen es nicht zu bemerken, dass sie die spiralförmigen Ebenen des Kraters hinaufspazierten, während die Gefangenen schufteten. Jeder ging seiner angedachten Tätigkeit nach. Die einen mehr zur Zufriedenheit der Bewacher, die anderen weniger. Es herrschte ein reges Treiben, das Gemurmel und die Arbeiten verursachten einen enormen Lärm, gemischt von dem emsigen Brummen der Feen, die das Licht erzeugten. Und genau dazwischen bewegten sich Desmond und Bodan wie Tänzer zwischen Pendeln, die an Seilen von der Decke baumelten, und denen sie versuchten auszuweichen.
So erklommen sie Stück für Stück, Ebene für Ebene, den Krater, und je höher sie kamen, desto weniger Arbeiter begegneten ihnen. Die Berggeister ließen nun tiefer im Krater arbeiten, so dass die oberen Ebenen fast leer waren. Bald konnten die beiden nebeneinanderher laufen. Bodan war immer noch ganz beschwingt von dem Trank, den Desmond ihm gegeben hatte.
»Was war das, was du mir da gegeben hast, Desmond? Es schmeckte so fremd, und auch diese Wirkung habe ich bisher noch nicht erlebt.«
Desmond lächelte. »Das hat mir eine Hexenmeisterin, die im Land der gleißenden Farben lebt, geschenkt. Sie war eine Seherin und meinte, dass mich das Elixier irgendwann einmal retten würde, unabhängig davon, ob ich Magie hätte oder nicht.«
Seine Miene verdüsterte sich. »Ich habe das damals nicht verstanden. Ich hatte meinen Schatten noch.« Er seufzte. »Hätte sie mir doch mehr über ihre Vision erzählt. Wir hätten es vielleicht verhindern können.«
»Also war es ein Unsichtbarkeitstrank?«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Sie meinte, dass der Trank das bewirkt, was man in dieser Situation am dringendsten braucht. Du kamst wieder zu Kräften, und bis jetzt scheint uns kein Wesen oder Geist wahrnehmen zu können.«
Bodan hob an, noch etwas zu fragen, aber Desmond legte den Finger auf die Lippen. In diesem Moment schwebte ein Berggeist an ihnen vorbei. Bodan hielt die Luft an und zog unwillkürlich seinen Bauch ein, obwohl er sich nirgends durchquetschen musste. Schon im nächsten Moment war der Geist verschwunden. Ungläubig blickte Bodan an sich herunter. Er war sichtbar. Oder vielleicht …?
Mehr Zeit zum Nachdenken gab es nicht. Desmond lief nun schneller voraus, und sie hatten bald die oberste Ebene erreicht. Außer Atem blieben sie stehen und blickten in den Krater hinab.
Bodans Blick blieb auf der Ebene hängen, auf der er gefangen genommen worden war. Von dort aus hatte er versucht, zu dem Gang, der zum Schneegebirge führt, zu gelangen. Das war sein Fehler und Untergang gewesen. Nun stand er hier, schattenlos und ohne Magie. Der Weg in das Schneegebirge war jetzt frei, aber machte das noch Sinn? Würden die Schneegeister ihn anhören? Ihn, einen schattenlosen Spiegelwächter?
Desmond schien sein Zögern zu bemerken. »Was ist?« Auf einmal flüsterte er. »Wir müssen weiter.«
»Wo willst du hin?«, fragte Bodan.
»Wir müssen in das Dorf der schattenlosen Wesen.«
Bodan wich zurück. »Du willst dich verbannen?«
»Nein.« Desmond blickte sich nervös um. »Ich will mich nicht verbannen. Wir müssen dorthin, um gehört zu werden.«
Bodan blickte ihn verständnislos an. »Was meinst du damit, Desmond?«
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Später, Bodan, später können wir alles besprechen.«
Oh ja, dachte Bodan. Und dann will ich erfahren, wie er seinen Schatten verloren hat. Er betrachtete nachdenklich Desmonds Rücken. Wie lange hatte er ihn nicht mehr gesehen? Er konnte sich nicht erinnern, und plötzlich, ganz plötzlich beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Wusste er, auf wessen Seite Desmond stand? Er war so wenig gealtert, hatte ihn hier aufgespürt und mit einer Leichtigkeit befreit, die sich Bodan nicht erklären konnte. Irgendetwas behagte ihm an dieser Situation nicht. Warum, konnte er sich nicht erklären.