Читать книгу Im Land der Nuria - Annina Safran - Страница 20
Zwölftes Kapitel
Arden, der Spiegelwächter
ОглавлениеNoch während Margot gedankenverloren in dem Zimmer stand, leuchtete der Spiegel erneut auf. Sanft, als begrüßte er einen alten Freund nach langer, langer Zeit. Margot lächelte, als sie es bemerkte. Ja, es könne nicht schaden, einen Blick hineinzuwerfen. Nach all den Jahren vermisste sie ihn immer noch genauso wie am ersten Tag.
Sie fingerte in ihrer Schürzentasche und holte eine Brille mit dickem Gestell hervor. Langsam schob sie sie sich auf die Nase, und da leuchtete der Spiegel stärker auf. Er stand an die leicht vergilbte Wand gelehnt und erhellte den gesamten Raum. Schön war er. Das helle Holz glänzte, als wäre es gerade erst geölt worden. Ein schlichter Rahmen mit Standfüßen und einem hohen Kopfteil. Eine feine kleine Holzleiste schmückte das glatte Holz, ansonsten befanden sich keine Verzierungen auf dem schmalen Rahmen. Das Holz war fast weiß mit einem leichten goldenen Schimmer und wies eine sehr feine Maserung auf. In der Mitte des Kopfteils, auf dem sich ein Bogen absetzte, saß ein Puttenkopf. Ein schmales kleines Gesicht wie das eines kleinen Jungen, mit akkuratem Seitenscheitel, feiner Nase, dünnen Lippen und ausdruckslosen Augen. Auch ohne die opulenten Verzierungen der anderen Spiegel der Scathan- und Taranee-Familie hatte der Dena-Spiegel eine mächtige Aura. Das Spiegelglas war blank und ohne jeden Kratzer oder Rostspuren. Einwandfrei. Aalglatt, ganz wie sein Wächter.
Margot lächelte bei dieser Erinnerung. Wie hatte sie sich so in Arden täuschen können? Und nun? Nun würde sie sich Hilfe suchen müssen und den Spiegel zurücklassen. Sie konnte es nicht riskieren, dass Franz mit einer Entourage von Ärzten und Wissenschaftlern zurückkam. Oder auch nur allein, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht getäuscht hatte. Sie hatte es in seinem Blick gesehen. Ihm war ihr fehlender Schatten aufgefallen.
Seufzend wandte sie sich vom Spiegel ab, schloss bedächtig die Tür und zog an der Klinke, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich zu war. Dann eilte sie, soweit es ihre alten wackligen Beine erlaubten, die Treppe hinab zum Haustelefon. Sie kramte in der Schublade des Tischchens, auf dem sich ein altertümlicher Telefonapparat mit Wählscheibe befand, und zog ein Notizbuch heraus. Wen würde sie anrufen? Wen könnte sie um Hilfe bitten? Es musste ein Mitglied der anderen Spiegelfamilien sein. Scathan, Solas, Ardis und Taranee. Natürlich würde sie sich nicht an Edmund Taranee wenden. Eher würde sie tot umfallen.
Bei dem Gedanken huschte ein Lächeln über ihre feinen runzligen Lippen. Wen dann? Mina Scathan? Oder Arndt Solas? Arndt hatte seinen Schatten nicht verloren. War er überhaupt noch in der Stadt? Vielleicht hütete längst ein anderes Solas-Familienmitglied den Spiegel. Auf einen Versuch ließ sie es ankommen. Mit zittrigen Fingern bediente sie die Wählscheibe, wobei sie das Telefon weit von sich hielt, um die Ziffern besser sehen zu können.
Es klingelte am anderen Ende. Erleichtert atmete sie auf, um sofort wieder die Luft anzuhalten. Was sollte sie sagen? Unschlüssig stierte sie vor sich hin, während es unentwegt läutete. Keiner nahm ab. Entweder war Arndt nicht zu Hause oder er lebte nicht mehr im Solas-Haus. Wieder schlug sie das Notizbuch auf und suchte nach Minas Nummer. Sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, was sie sagen sollte. Es musste schnell gehen.
Dieses Mal dauerte es ein paar Klingelzeichen, dann hob jemand ab. »Ja, hallo, hier bei Scathan«, meldete sich eine raue männliche Stimme.
Margot hielt kurz inne. »Ist Mina da?«
Schweigen am anderen Ende. »Wer will sie sprechen? Wer ist da?«
»Ich möchte sie sprechen.«
»Und wer ist ich?« Die Stimme wurde ungeduldig.
»Das tut hier nichts zur Sache und geht Sie nichts an«, fauchte Margot. »Ist sie da oder nicht? Oder ist sie schon verstorben?«
Wieder Schweigen am anderen Ende. »Nein«, blaffte es. »Natürlich nicht.« Nach einer kurzen Pause: »Ich kann ihr was ausrichten. Dazu benötige ich Ihren werten Namen.«
»Wann kann ich sie denn sprechen, es ist dringend.«
»Hören Sie«, die Stimme wurde jetzt aufgebrachter. »Ich habe für solche Spielchen keine Zeit. Mina wird Sie in der nächsten Zeit nicht anrufen können. Also nennen Sie mir ihren Namen und ihr Anliegen und ich gebe es an sie weiter.«
»Warum denn? Warum kann sie mich nicht sofort zurückrufen?«, Margot war bestürzt und verzweifelt zugleich. »Ich muss sie sprechen. Es geht um Leben und Tod. Oder wissen Sie zufällig, wie ich Arndt Solas erreichen kann?«
Ein tiefes Schnaufen war die Antwort: »Das gibt es doch nicht. Margot? Bist du das? Das kannst nur du sein. So sturköpfig und ungeschickt wie immer.«
Sie japste auf. »Das ist ja wohl eine Unverschämtheit.«
»Ich bin es, Arndt«, unterbrach er sie, bevor sie noch weiterzetern konnte.
»Arndt!« Sie machte eine erleichterte Pause. »Was machst du bei Mina?«
»Ich kümmere mich um ein paar Dinge für sie.«
»Geht es ihr gut?«
»Nein, es geht ihr nicht gut, aber sie wird schon wieder.« Er machte eine Pause. »Wie geht es dir, Margot? Warum rufst du hier an, nach all der Zeit? Was willst du von Mina? Oder von mir?«
Tränen standen ihr in den Augen. »Ich bin aufgeflogen, Arndt. Meine Familie ist fort, und der Spiegel leuchtet. Jemand hat mich gesehen. Ohne Schatten. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Rühre dich nicht vom Fleck, ich hole dich ab.«
Sie lachte bitter. »Wohin sollte ich schon gehen, Arndt. Ich habe seit über fünfzig Jahren das Haus nicht mehr verlassen.«
Er hörte sie nicht mehr, denn er hatte schon aufgelegt.
Unschlüssig sah sie sich um und trat auf die Haustür zu. Wie lange würde er brauchen? Ob sie noch einen Blick auf den Spiegel werfen konnte? Wie eine Süchtige zog es sie in den ersten Stock. Sie sehnte sich so sehr danach, nach Eldrid. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wäre sie nicht zurückgekehrt. Lieber hätte sie sich selbst verbannt und den Rest ihres Lebens im Dorf der schattenlosen Wesen verbracht als eingesperrt in einem Haus und einer Welt, in der sie sich völlig deplatziert fühlte.
Vielleicht hatte Arden ihr inzwischen verziehen? Ein Versuch war es wert. Im Nu stand Margot vor dem Spiegel, der sie mit einem flackernden Leuchten begrüßte. Schriftzeichen loderten wie kleine Flammen über dem Rahmen. Sie wurde erwartet. Die Frage war nur, ob Arden sie dann nicht sofort verstoßen würde? Ihr Herz begann wie wild zu klopfen. Verstoßen in Eldrid? Schlimmer als in dieser Welt konnte es nicht sein. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und hob die Hand. Noch während sie das Spiegelglas berührte, verschmolz es auch schon mit ihrem Arm und zog sie hinüber. Nach Eldrid.
Ungebremst und ungeübt stolperte sie in Ardens Höhle hinein. Etwas benommen schaute sie sich um. Arden stand ihr gegenüber und blickte sie mit eisigen Augen an.
»Margot«, schnurrte er. Keine Freundlichkeit schwang in seinem Ton. »Du hast den Spiegel aktiviert. Darf ich fragen, warum?«
Sie schnaufte. »Es ist auch schön, dich zu sehen, Arden.«
Er presste die Lippen aufeinander. Seine Haut wies noch mehr Falten auf als früher, außerdem wirkte er schmaler und blasser, als sie ihn in Erinnerung hatte. Die goldschimmernden Haare fielen ihm in sanften Locken auf die Schultern. Sie konnten aber nicht von der ausgeprägten Zornesfalte auf der Stirn ablenken und ebenso wenig von den herabfallenden Mundwinkeln.
Sie betrachtete ihn traurig. »Ist es so schlimm?« Ihre Stimme klang nun sanft und fast mitleidig.
Arden funkelte sie an. »Was soll denn das heißen? Warum bist du hier?«
Sie hob die Schultern. »Ich wollte dich einfach noch einmal sehen. In meiner Welt bröckelt nun die Fassade, und ich weiß nicht wohin.«
»Hier kannst du jedenfalls nicht bleiben.«
»Bitte, Arden. Ich verbanne mich auch freiwillig.«
»Diese Diskussion führe ich nicht noch einmal mit dir, Margot.« Er sprach mit ihr wie mit einem kleinen Kind und schüttelte dabei den Kopf. »Denke an dein Spiegelbild, das du in deiner Welt zurückgelassen hast. Es wird Unfug treiben. Hier kannst du jedenfalls nicht bleiben.«
»Ich bin verzweifelt. Arden, bitte!«
Der Spiegelwächter betrachtete sie voller Abscheu. Doch plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er schien zu überlegen. Dann sagte er langsam: »Wenn ich es mir recht überlege, könntest du tatsächlich etwas für mich tun. Erledigst du diese Aufgabe gut und gewissenhaft, dann könnte dies meine Meinung ändern.«
Margot nickte eifrig. »Alles, Arden. Alles, was du willst. Was soll ich tun?«
Ein schmales Lächeln umspielte seinen Mund. »Es ist auch gar nicht schwer. Selbst eine so alte und gebrechliche Frau, wie du es inzwischen bist, kann das spielend erledigen.«
Gierig nickte sie.
»Ich benötige alle Informationen rund um die Scathan-Familie. Ich muss wissen, wo sich Mina aufhält und was das Spiegelbild ihrer Enkeltochter Ludmilla treibt oder ob Ludmilla inzwischen wieder aus Eldrid zurück ist. Bringe alles in Erfahrung, was im Scathan-Haus vor sich geht.«
Sie erstarrte. »Ich soll für dich die Scathan-Familie ausspionieren? Warum das? Frag doch Uri. Er weiß das alles. Dazu brauchst du mich nicht.«
»Belehre mich nicht«, donnerte der kleine zierliche Spiegelwächter mit der Stimme eines Bären. »Stell keine unnötigen Fragen. Meine Gründe gehen dich nichts an. Mach, was ich dir sage, und ich überlege mir, ob du hier in Eldrid bleiben darfst. Als Schattenlose.« Ein bösartiges Lachen entfuhr ihm. »Und nun geh. Dein Spiegelbild. Du weißt schon. Außerdem soll keiner bemerken, dass du hier warst. Erzähl es keinem. Auch nichts von unserer Abmachung. Du warst nie hier, verstanden?«
Sie nickte verwirrt, während er sie unsanft in den leuchtenden Spiegel bugsierte. Im nächsten Moment landete sie hart auf den Knien in ihrem Haus.