Читать книгу Im Land der Nuria - Annina Safran - Страница 19
Elftes Kapitel
Wie Margot ihren Schatten verlor
ОглавлениеMargot überfiel die blanke Panik, als sie begriff, was geschehen war. Das wohlbehütete Geheimnis der Dena-Familie war gelüftet worden. Sie war enttarnt. Enttarnt vom Hausmeister Franz. Der langjährige Freund der Familie, den immer alle für integer gehalten hatten, nur sie nicht. Wie ging er mit dem Unmöglichen um? Hielt er sie jetzt für ein Monster? Würde er jemanden hinzuziehen? Einen Arzt? Eine Behörde? Margot lief schwer atmend vor dem Spiegel auf und ab.
»Was mache ich jetzt nur?«, murmelte sie unentwegt. Plötzlich blieb sie stehen. Arden, durchfuhr es sie. »Ich muss Arden fragen.« Arden hatte immer eine Antwort parat gehabt. Schon fast hatte sie das leuchtende Spiegelglas berührt, das sie nach Eldrid beförderte, da schreckte sie zurück. Arden verachtete sie. Sie hatte ihren Schatten verloren. Schattenlose Wesen waren für ihn Abschaum. Dass ein Mitglied der Dena-Familie, ein Schützling seines Spiegels, den Schatten verloren hatte, grenzte für ihn an Verrat. Der Spiegelwächter hatte sie verstoßen. Nicht die Wesen des Lichts, sondern Arden. Er hätte ihre Anwesenheit noch nicht einmal im Dorf der schattenlosen Wesen ertragen. Dort wäre sie lieber geblieben als eingesperrt in diesem Haus. Doch Arden hätte ihr selbst das nicht gegönnt.
»Wie kannst du es wagen?«, hatte er sie angeschrien.
Sie hatten in seiner Höhle im Wald von Teja gestanden. Margot schattenlos und in Tränen aufgelöst. »Er hat mich getäuscht. Er hat uns getäuscht«, hatte sie gewimmert.
»Das interessiert mich nicht. Du bist schattenlos, Margot!« Wutentbrannt war er im Kreis durch seine Höhle gerannt. »Du hast deinen Schatten verloren. Eine Dena. Ohne Schatten. Wie konntest du mir das antun?«
Sie hatte nur die Schultern gehoben und ihn verzweifelt angeblickt. »Ich wollte das nicht, Arden. Bitte glaub mir doch. Ich würde nie etwas tun, was dich enttäuscht.«
Er hatte nur höhnisch aufgelacht und plötzlich trotz seiner kleinen Statur über ihr gestanden. Sein runzliges blasses Gesicht hatte in dunklen Goldtönen geschimmert, und seine Augen wie Glut in der Asche geglitzert. Sie hatten eine ungewöhnlich dunkle Farbe, die Margot bei ihm noch nie zuvor gesehen hatte.
»Du hast mich enttäuscht, Margot Dena. Nicht nur enttäuscht. Du hast Schande über mich gebracht. Ich bewache nicht nur den Dena-Spiegel, sondern ich wache auch über die Mitglieder der Dena-Familie, die durch Eldrid reisen. Hast du auch nur einen Hauch einer Ahnung, wie ich jetzt dastehe?« Er hatte so geschnaubt, so dass sich rote Funken von seinem Körper erhoben hatten und durch den Höhlenraum geschwebt waren.
Zusammengesunken hatte sie auf dem warmen Boden gesessen und verzweifelt zu ihm aufgeblickt.
»Das werde ich dir nie verzeihen.«
»Und was wird jetzt aus mir?«, hatte sie so leise geflüstert, dass es kaum zu hören war.
»Mit dir? Du kehrst zurück. Auch ohne deinen Schatten. Du wirst es nicht wagen, mich mit deiner bloßen Anwesenheit in Eldrid auch nur für einen Moment daran zu erinnern, was du getan hast.«
Tränen waren ihr in Strömen über das Gesicht gelaufen. »Ich kann nicht zurück. Ein Mensch ohne Schatten in unserer Welt? Was werden meine Eltern sagen? Sieh doch nur, was sie mit Mina gemacht haben. Sie haben sie eingesperrt. Mina ist verzweifelt. Sie darf bei Tageslicht das Haus nicht verlassen, weil ihre Eltern Angst haben, dass ihre Schattenlosigkeit bekannt wird. Und meine Eltern? Meine Eltern sind viel strenger als die Scathans. Ich werde für den Rest meines Lebens das Haus nicht mehr verlassen dürfen, ohne Schatten.«
Arden hatte höhnisch aufgelacht. »Und du denkst wirklich, dass mich das interessiert, Margot?«
Sie hatte bitterlich geschluchzt. »Bitte, Arden. Bitte glaub mir, ich wollte das nicht. Es ist nicht meine Schuld. Bitte gib mir eine Chance, es wieder gut zu machen. Ich hole mir meinen Schatten zurück.«
Sein Gelächter war immer lauter und grausamer geworden. »Du willst dir deinen Schatten zurückholen, Margot? Das ist lächerlich. Niemand kann sich seinen Schatten zurückholen und schon gar nicht so ein kleines dämliches Menschenmädchen, wie du es bist.« Mit diesen Worten hatte er den Dena-Spiegel aufleuchten lassen und sie mit einer einzigen Handbewegung hindurchbefördert.
»Nein, Arden, nein, tu das nicht. Bitte!«, hatte sie noch geschrien, aber ihre Worte hatten sich nur im Haus ihrer Eltern wiedergefunden.
Margot schreckte aus ihrer Erinnerung hoch. Sie war verloren. Arden würde ihr auch heute nicht helfen. Er hatte noch nicht einmal an die Möglichkeit gedacht, ihr Spiegelbild einzufrieren, so dass sie in Eldrid bleiben durfte. Verbittert kaute sie auf ihrer welken alten Unterlippe. Sie musste sich woanders Hilfe suchen. Hier konnte sie nicht bleiben. Nicht bei diesem Spiegel und nicht in diesem Haus. Als sie den Entschluss gefasst hatte, fiel ihr Blick auf den Spiegel, der zur Begrüßung sanft aufleuchtete. Sie lächelte ihn an. Erinnerungen stiegen in ihr hoch. Noch mehr Erinnerungen. Schöne Erinnerungen an wundervolle Begegnungen in Eldrid. Auch mit Arden. Sie hatte Arden vergöttert. Trotz seiner Erscheinung und Statur war er für sie immer unerreichbar gewesen. Sein Wissen, sein Charme – ja, Arden konnte charmant sein –, seine Eleganz hatten sie beeindruckt, und sie hatte für ihn geschwärmt. Er war der perfekte Spiegelwächter gewesen. Der Wächter über das Portal, die Welt und seine menschlichen Besucher. Ihn umgab eine Aura, ein gewisser Glanz, der sie faszinierte. Arden war alles, was sich junge Mädchen unter einem galanten perfekten Gentleman vorstellten. Dass die äußere Erscheinung nicht dazu passte, störte Margot nicht. Ganz im Gegenteil. Sie sah hindurch, war verzaubert von diesem Wesen, das so viel wusste, so viel Magie und Macht besaß. Für Margot, mit ihren damals zarten 18 Jahren, hatte Arden eine ganz besondere Anziehungskraft.
Als Mina ihren Schatten verlor und die Schattenwolke über Eldrid wuchs, veränderte sich Arden plötzlich. Er wurde argwöhnisch, launisch und unbeherrscht. Seine Fassade, die er vor der Dena-Familie stets aufrecht erhalten hatte, fing an zu bröckeln. Arden war kein galanter perfekter Vorzeige-Spiegelwächter mehr. Er war auch nicht wohlwollend und gutmütig. Die Veränderung in Eldrid bewirkte, dass er sich nicht mehr so gut unter Kontrolle hatte und öfter die Fassung verlor. Er hatte keine Geduld mit Margot, herrschte sie an, dass sie dumme Fragen stelle und dass er keine Zeit für ihre Reisen habe. Er sei nicht ihr Babysitter und sie alt genug, allein durch Eldrid zu reisen. Dabei war es genau das, was er früher nicht erlaubt hatte. Nun war sie ihm lästig geworden, und er schob wichtige Aufgaben vor. Arden schickte sie manchmal direkt wieder nach Hause, wenn sie in seiner Höhle landete. Wenn sie dann auf einem Ausflug bestand, ließ er sie allein in die Welt ziehen. Sie kenne sich ja aus, höhnte er. Er kannte das Risiko, seit Mina ihren Schatten verloren hatte. Er ging jedoch nicht davon aus, dass noch mehr Mitglieder der Spiegelfamilien ihre Schatten verlieren würden. Kelbys Bedenken und Warnungen wischte er einfach beiseite. Doch genau das war sein Fehler, denn bei einem dieser Ausflüge, die Margot ohne ihn unternommen hatte, hatte sie ihren Schatten verloren.
Sie hatte sich mit ihrer Freundin Hedda Ardis und mit Edmund Taranee getroffen. Edmund hatte das Treffen angeregt, um ungestört über die jüngsten Entwicklungen in Eldrid zu sprechen. Edmund Taranee. Der Schützling von Zamir. Sie hätte erkennen müssen, was Edmund im Schilde führte, aber sie war zu naiv. Hatte Edmund zu sehr vertraut. Und das, obwohl sie genau wusste, wie nahe sich Zamir und Edmund standen. Zamir, der Schattendieb. Der Wahnsinnige unter den Spiegelwächtern. Nur – das hatten sie alle erst viel zu spät begriffen. Zamir hatte sie alle getäuscht, seine Brüder, die Wesen von Eldrid und die Mitglieder der Spiegelfamilien. Er hatte mit ihnen allen sein böses hinterhältiges Spiel gespielt, und keiner hatte ihn durchschaut. Keiner! Auch Arden nicht. Sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern, als er Hedda und sie zu dem Treffen in Eldrid überredet hatte. Er stehe unter Zamirs Schutz, hatte er behauptet. Und wenn er diesen Schutz habe, dann sie auch.
»Von wegen«, murmelte Margot vor sich hin. »Was für ein Schutz?«
Zamir hatte ihnen allen dreien die Schatten genommen. Einfach so. Und natürlich hätten sie es besser wissen müssen. Uri hatte sie gewarnt und wollte, dass die Spiegel vorsichtshalber nicht mehr genutzt würden. Jedoch hatte niemand auf ihn gehört. Auch Arden nicht. Der fand diese Bedenken vollkommen überzogen. Er unterschätzte Zamir maßlos.
Ein verbittertes Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. Sie hätten alle auf Uri hören sollen. Schon viel früher. Dann wäre das alles vielleicht nicht passiert.