Читать книгу Und das ist noch nicht alles - Ansgar Röhrbein - Страница 12
1.4Was haben andere Menschen mir mitgegeben?
ОглавлениеAuch wenn sich in einigen Bereichen die Richtung des Lernens umgekehrt hat, so kommt es aus meiner Sicht dennoch weiterhin darauf an, was die Beteiligten als Essenz von wichtigen Menschen aus ihrer Familie und ihrem Umfeld für ihr Leben erhalten und in ihren »Rucksäcken« mitgenommen haben, um mit den beschriebenen Herausforderungen umgehen zu können.
Gerne greife ich in diesem Zusammenhang auf die Modelle der beiden Psychologen und Psychotherapeuten Klaus Grawe (2000) und Rainer Sachse (2002) zurück, die einige grundsätzliche menschliche Bedürfnisse und Erfahrungen beschrieben haben.
Grawe (2000) hat aufgrund seiner Forschungen vier Grundbedürfnisse als wesentlich für ein gelingendes Leben identifiziert:
1) Bindung und Zugehörigkeit:
Hiermit ist das Bedürfnis des Menschen nach Mitmenschen, nach Nähe zu einer Bezugsperson gemeint.
2) Orientierung und Kontrolle:
Dass das Leben einigermaßen sicher, verstehbar und vorhersehbar ist, weil es in gewohnten Bahnen und nach bekannten Prinzipien verläuft, und man Handlungsspielraum besitzt, sodass man mit seinem Tun tatsächlich etwas bewirken und Ziele erreichen kann.
3) Selbstwerterhöhung und -schutz:
Das Bedürfnis, sich als gut, kompetent, wertvoll und von anderen geliebt zu erleben.
4) Lustgewinn und Unlustvermeidung:
Das Bestreben, erfreuliche, lustvolle Erfahrungen herbeizuführen und schmerzhafte, unangenehme Erfahrungen zu vermeiden.
Im Hinblick auf das Kontrollbedürfnis schreibt Grawe (2004, S. 231):
»Je nach Lebenserfahrung, die das Individuum bezüglich seines Kontrollbedürfnisses (vor allem in seiner frühen Kindheit) macht, entwickelt es eine Grundüberzeugung darüber, ob Voraussehbarkeit und Kontrollmöglichkeit besteht, ob es sich lohnt, sich einzusetzen und zu engagieren, und inwieweit das Leben einen Sinn macht.«
Vergleichbares gilt für die anderen drei Bedürfniskategorien: Auf wen konnte ich mich stets verlassen? Wer hat mir Halt und Sicherheit gegeben? Wer hat mir gezeigt, dass ich ein wertvoller Mensch bin? Wer hat dafür gesorgt, dass ich vor unangenehmen Erfahrungen geschützt wurde und die Welt in meinem Tempo entdecken konnte?
Sachse benennt mit seinen sechs Beziehungsmotiven ähnliche Grundvoraussetzungen für persönliche Stabilität im Leben (Sachse 2001, S. 42 f.):
• »Das Bedürfnis nach Akzeptierung:
das Bedürfnis, von wichtigen anderen Personen um seiner selbst willen geliebt, geachtet, akzeptiert zu werden
• Das Bedürfnis, wichtig zu sein:
das Bedürfnis, für andere eine Bedeutung zu haben, in ihrem Leben eine Rolle zu spielen.
•Das nach verlässlicher Beziehung:
das Bedürfnis danach, eine Beziehung zu haben, auf die man sich verlassen kann, die tragfähig ist, die nicht ohne Weiteres infrage gestellt werden kann, die Belastung aushält; es ist ein Bedürfnis nach einer ›sicheren Bindung‹.
•Das Bedürfnis nach solidarischer Beziehung:
das Bedürfnis, dass der Interaktionspartner zu einem hält, einen unterstützt, Hilfe gibt, wenn man sie braucht, Geborgenheit realisiert, ›auf der eigenen Seite ist‹.
• Das Bedürfnis nach Autonomie:
das Bedürfnis danach, in seiner Selbstbestimmung, Selbstdefinition und Selbstentwicklung akzeptiert [zu] werden.
• Das Bedürfnis nach territorialer Unverletzlichkeit der eigenen Domäne:
das Bedürfnis danach, Bereiche des Lebens als eigene Bereiche definieren zu dürfen, Grenzen zu ziehen, und das Bedürfnis, dass diese Grenzen von Interaktionspartnern ernst genommen und respektiert werden und dass diese Partner die eigene Domäne nur betreten, wenn sie eine Erlaubnis dazu haben.«
Diese für Sachse zentralen Beziehungsmotive spielen für jeden Menschen eine wesentliche Rolle, auch wenn sie in der Reihenfolge und Wichtigkeit individuell eine andere Bedeutung haben können. Die Beziehungsmotive können sich laut Sachse in unterschiedliche positive Richtungen (wenn sie gut erfüllt werden) und negative Richtungen (wenn sie wenig, unsicher oder gar nicht erfüllt werden) entwickeln.
Wie leicht zu erkennen ist, fußen beide Modelle auf ähnlichen Erfahrungswerten und Grundannahmen, die sich in erster Linie in der Interaktion mit anderen (exklusiven) Bezugspersonen bewähren (müssen). Ganz wesentlich ist dabei die verlässliche Bindung (Bowlby 1969), deren Bedeutung sich inzwischen in zahlreichen Untersuchungen bestätigt hat. Der Psychologe Klaus Fröhlich-Gildhoff (2013, S. 65) fasst den hohen Wert so zusammen:
»Der wesentlichste Schutzfaktor, der am stärksten zu einer gelingenden Entwicklung beiträgt und viele Risikofaktoren abpuffern kann, ist eine stabile, wertschätzende, emotional warme Beziehung zu einer (erwachsenen) Bezugsperson.«