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Trotz der Strenge, mit der er seine Vorgänger behandelte (und Aristoteles nahm wirklich nie ein Blatt vor den Mund), bediente er sich dennoch bei ihnen allen. Demokrit und Empedokles zeigten ihm die Macht der Materie, Anaxagoras, Sokrates und Platon das Vorherrschen des Zwecks, Platon den Ursprung der Ordnung. Sein eigenes Erklärungsschema enthält all diese Elemente.

Das musste es auch. Das ganze Problem bestand darin, dass keiner seiner Vorgänger sah, dass Naturen auf mehrere unterschiedliche Weisen verstanden werden konnten, ja verstanden werden sollten. Unsere Herzen schlagen – aber nicht nur wegen der Chemie, nicht nur, um uns am Leben zu halten, und auch nicht nur, weil eins in unserem Embryotorso heranwuchs, oder weil unsere Eltern auch Herzen hatten; unsere Herzen schlagen vielmehr aus all diesen Gründen. Alle diese verschiedenen Ursachen ergänzen einander, sind sogar eng miteinander verwoben. So jedenfalls argumentiert Aristoteles in einem berühmten methodischen Ausspruch, der als die »vier Ursachen« bekannt ist. Dabei ist »Ursachen« hier nicht ganz richtig: »vier Fragen« oder »vier Arten ursächlicher Erklärungen« treffen besser, was er meint:

Es gibt vier grundlegende ursächliche Erklärungen: erstens, wozu etwas da ist (was also sein Ziel ist); zweitens die Formursache oder »Definition des Wesens« (die ersten beiden sollten als etwa dasselbe behandelt werden); drittens seine materielle Grundlage und viertens seine Wirkursache oder der Ursprung seiner Bewegung.

Nehmen wir sie in umgekehrter Reihenfolge auf. Die Wirkursache (oder Bewegungsursache) ist eine Darstellung der Mechanik von Bewegung und Veränderung. Heute entspricht es dem Bereich der Entwicklungsbiologie und Neurophysiologie. Die Materialursache ist eine Darstellung der Materie – des Stoffes –, aus der bzw. dem Tiere bestehen, und ihrer Eigenschaften. Das ist der Bereich der modernen Biochemie und Physiologie. Die Formursache ist eine Darstellung der übertragenen Informationen, die jedes Lebewesen von seinen Eltern erhielt und die verantwortlich sind für die Merkmale, die es mit anderen Mitgliedern seiner Art teilt – also der Gegenstand der Genetik. Die Zweckursache ist die Teleologie, die Analyse der Teile von Tieren im Hinblick auf ihre Funktionen. Dies gehört heute zur Evolutionsbiologie, die sich mit der Anpassung beschäftigt. In dem Maße, wie die Funktion den Stoff formt, aus dem Tiere bestehen, wie sie sich entwickeln, wie sie gegen die Widrigkeiten der Welt bestehen und wie sie sich vermehren und sterben, umfasst die Zweckursache, wie Aristoteles sagt, die anderen drei. Er gibt uns die Struktur unserer Gedanken vor, auch wenn wir das gar nicht wissen.

Auch ihre Verwerfungslinien. Seit ihrer Wiederauferstehung im 17. Jahrhundert wurde die Biologie oft von großen Konflikten aufgewühlt. Häufig handelte es sich nur um Streitigkeiten darüber, wie man etwas erklären sollte. In den 1950er-Jahren tobte die Schlacht zwischen den formal-materialistischen Molekularbiologen und den teleologisch gesinnten organismischen Biologen. Einige der heutigen Wissenschaftler haben es noch erlebt. Die Zoologen Ernst Mayr und Niko Tinbergen versuchten, Frieden zu stiften – oder wenigstens den Triumphalismus der Molekularbiologen in Schach zu halten –, indem sie für die gleichmäßige Anerkennung von »vier Ursachen« oder »Problemstellungen« plädierten. Ihre Ursachenliste war nicht ganz identisch und entsprach nicht ganz der von Aristoteles (schließlich waren sie Evolutionsbiologen), aber die Erkenntnis, dass Lebewesen auf mehrere verschiedene Arten erklärt werden müssen, deckt sich auf jeden Fall mit der von Aristoteles. Heutzutage hat in den meisten Universitäten jeder Erklärungsansatz einen eigenen Fachbereich.

Ist es Aristoteles’ Gedanke, der uns so beeinflusst hat? Einige Gelehrte deuteten auf die Quellen für Aristoteles’ System und behaupteten, er sei nur eine sehr fleißige Elster gewesen. Karl Popper nannte ihn in einem Anfall von Majestätsbeleidigung einen »Denker von geringer Originalität« (obwohl er auch zugab, offenbar ohne sich des Widerspruchs bewusst zu werden, dass Aristoteles die formale Logik erfunden hatte). Platon-Fans – einige hat er noch – neigen besonders dazu, Aristoteles als Nachahmer seines Lehrers zu betrachten. Das kann man nur, wenn man beflissen ignoriert, wie Aristoteles Platons Konzepte veränderte. Als Student las Darwin Paleys Natürliche Theologie und erfreute sich an ihr, und vielleicht hat er sogar daher sein feines Gespür für die Ausgestaltung von Lebewesen. Doch wer würde Darwin einen Paley-Anhänger nennen? Aristoteles einen Platoniker zu nennen, ist in etwa das Gleiche.

Denn Aristoteles brachte nicht nur ein neues Erklärungssystem hervor, sondern wandte es auch an. Seine Vorgänger betrachteten die Welt wie vom Olymp herab. Sie lag weit unter ihnen, verschwommen in der Entfernung oder ganz im Nebel verborgen, und Spekulationen füllten die Lücken dort, wo sie nichts sehen konnten. Aristoteles hingegen ging an den Strand hinunter. Er beobachtete, wandte seine Ursachen auf seine Beobachtungen an und verwob sie in den Büchern miteinander, aus denen sein großer Kurs der Zoologie besteht: De partibus animalium, De longitudine et brevitate vitae, De juventute et senectute, De vita et morte, De spiritu, De generatione animalium, De motu animalium und De animalium incessu. Als er damit fertig war, waren Materie, Form, Zweck und Veränderung nicht mehr die Spielzeuge der spekulativen Philosophie, sondern ein Forschungsprogramm.

Dasselbe Argument brachte der Astronom Fred Hoyle in einem Radiointerview 1982 vor: »Die Wahrscheinlichkeit, dass auf der Erde Leben [durch natürliche Auslese] entsteht, ist nicht größer als die Chance, dass ein Wirbelsturm, der über einen Schrottplatz fegt, rein zufällig eine Boeing 747 zusammenbaut.« Das Argument, bekannt unter dem Namen »Boeing-747-Gambit«, ähnelt dem von Aristoteles insofern, als beide behaupten, dass Zufall allein nicht zur regelmäßigen Entstehung einer komplexen Struktur (wie Kinderzähnen oder einer Boeing 747) führen kann, es müsse ein zweckhaftes Agens geben, das dafür sorgt. Beide erkennen nicht, dass die Selektion kein »Zufall« ist, sondern ein festgelegter, kreativer Prozess.

Die platonisch-aristotelische Terminologie der Teilung eidos/species und genos/genus sickerte durch die Werke römischer Enzyklopäden, neoplatonischer Kommentatoren, mittelalterlicher Gelehrter und Naturforscher der Renaissance bis zu Linné, von dem wir sie übernommen haben.

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