Читать книгу Die Lagune - Armand Marie Leroi - Страница 51
XXXVIII
ОглавлениеDas Problem besteht vor allem darin, dass sie schwer zu erkennen sind. Aristoteles hat viel gegen Platons Ansatz zu sagen, aber weniger über seinen eigenen. Dennoch lassen seine Praxis und verschiedene programmatische Abschnitte eine ausgeklügelte Methode der Unterteilung erahnen, die auf zwei wichtigen Einsichten beruht.
Die erste ist die Erkenntnis, dass tierische Merkmale sich an verschiedenen Stellen der natürlichen Hierarchie in unterschiedlichem Ausmaß unterscheiden. Die diaphorai – Unterschiede – zwischen Sorten einer beliebigen größten Sorte, zum Beispiel zwischen einem Spatz und einem Kranich, sind relativ gering. Beide haben dieselben grundlegenden Körperteile und unterscheiden sich nur in Form und Größe. Sein Begriff für solche Variationen ist »das Mehr und das Weniger«:
Die Unterscheidung zwischen Vogel[-Sorten] umfasst Überschuss und Mangel in ihren Teilen und ist eine Angelegenheit des Mehr und des Weniger. Manche sind langbeinig, andere kurzbeinig, manche haben breite, andere schmale Zungen und so fort bei den anderen Teilen.
In großen Teilen seiner beschreibenden Biologie geht es denn auch darum, wie sich Schnäbel, Blasen, Därme und Gehirne in Größe und Proportionen unterscheiden.
Die Unterschiede zwischen den größten Sorten, etwa Vögeln und Fischen, sind wesentlich radikaler. Sie liegen darin, welche Teile diese Tiere besitzen und wie sie angeordnet sind. Sie sind also architektonisch. Moderne Zoologen sprechen von einem »Bauplan«; Aristoteles hatte keinen entsprechenden Begriff, aber er bedient sich desselben Konzepts. Die relative Position harter und weicher Teile und die Anzahl der Beine sind besonders wichtig. Manche Weichtiere (Kopffüßer) haben eine harte innere Struktur (der Gladius eines Kalmars und der Schulp eines Tintenfisches)[∗], aber Weichschalige (Krebstiere) und Hartschalige (Schnecken, Muscheln, Seeigel) haben einen äußeren harten Teil oder, wie wir sagen würden, ein Exoskelett. Fische haben keine Beine, Menschen und Vögel haben zwei, Vierfüßer haben vier, Kerbtiere und Weichtiere viele.
Größte Sorten unterscheiden sich auch in ihren Geometrien. Für Aristoteles hat ein Tier drei Achsen mit sechs Polen: oben – unten, vorne – hinten und links – rechts.[∗∗] Das Oben ist der Pol eines Tieres, der die Nahrung aufnimmt, das Unten derjenige, der sie ausscheidet; das Vorn ist der Pol, in dessen Richtung die Sinnesorgane eines Tieres ausgerichtet sind und in dessen Richtung es sich bewegt, das Hinten ist sein Gegenteil; sein Rechts und Links sind dieselben wie bei uns. Diese Geometrie basiert auf dem Menschen und unterscheidet ihn von den Vierfüßern. Bei einem Vierfüßer ist Oben (Lage des Mundes) und Vorn (Ausrichtung der Sinnesorgane) derselbe Pol und Unten (Lage des Anus) und Hinten (gegenüber den Sinnesorganen) ebenfalls. Das ist ein Grund dafür, dass Aristoteles uns nicht zusammen mit den lebend gebärenden Vierfüßern (Säugetieren) einordnet.
Moderne Zoologen werden diese Geometrisierung von Körpern recht befremdlich finden.[∗∗∗] Aber es gibt keinen Grund, warum er es genauso machen sollte wie wir. Und es verschafft Aristoteles in der Tat echte Einsicht in die seltsame Geometrie der Kopffüßer. Da ihre Füße um ihren Mund herum angeordnet sind und ihr Darm zu einem U geschlungen ist, behauptet Aristoteles, der Tintenfisch besäße die Geometrie eines zusammengeklappten Vierfüßers, sodass sein Oben und Unten und sein Vorn und Hinten sich alle an derselben Stelle treffen.
Das ist ziemlich brillant.[∗] Aber seine Geometrie verleitet ihn auch zu einigen weniger scharfsichtigen Behauptungen. Da er nichts von der Fotosynthese weiß, stülpt er den Pflanzen ein tierisches Ernährungsmodell über. Pflanzen, glaubt er, beziehen ihre Nahrung über ihre Wurzeln, die daher analog zum Maul der Tiere sind. Sie müssen auch am anderen Ende etwas ausscheiden – nämlich Früchte. Diese Analogien bringen ihn zu dem Schluss, dass das Oben-Ende einer Pflanze im Boden vergraben liegt, während ihr Unten-Ende sich im Wind wiegt.
Aber Aristoteles beschreibt nicht nur detailliert seine größten Sorten anhand ihrer Baupläne. Er fragt auch, ob sie dieselbe Art von Körperteil besitzen. Dazu eignet er sich einen bestehenden Begriff an, analogon – Analogon oder Gegenstück. Er definiert es nirgendwo, aber seine Beispiele lassen vermuten, dass er etwas meint wie »ein Teil in einer Sorte Tier, der dieselbe Funktion oder Position wie ein Teil in einem anderen Tier hat, aber sich dennoch auf eine fundamentale Weise von ihm unterscheidet«. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Mathematik: »Wie sich A zu Y verhält, so verhält sich B zu Z.« In seiner Tierkunde wendet er es metaphorisch an: »Was die Feder für den Vogel ist, das ist die Schuppe für den Fisch.« Wenn zwei Lebewesen analoge Teile haben, dann gehören sie zu verschiedenen größten Sorten. Analoga unterscheiden sich in ihrer Feinstruktur oder ihren physikalischen Eigenschaften. Krebse und Schnecken haben beide harte äußere Teile, aber tritt man auf einen Krebs, ist sein Panzer zerdrückt; tritt man auf eine Schnecke, ist ihr Haus zerbrochen. Panzer und Schneckenhäuser müssen sich also auf eine grundlegende Weise unterscheiden[∗∗] und ebenso die Sorten, die sie besitzen.
Aristoteles findet eine ganze Menge Analoga. Lebend gebärende Vierfüßer, Menschen und Delfine haben Skelette aus Knochen, aber Fische, Haie, Tintenfische und Kalmare haben Knochen-Analoga: »Gräten«, Knorpel, Schulpe und Gladii. Alle diese Strukturen üben dieselbe Funktion aus: Sie erhalten und stützen das Weichgewebe. Sowohl Vogelfedern und Fischschuppen sind offensichtlich Körperbedeckungen. Bluttiere haben Herzen, aber blutlose Tiere – vor allem Kopffüßer – haben etwas Analoges zum Blut und etwas Analoges zum Herzen, um es zu bewegen. Lungen sind die Analoga zu Kiemen. Manchmal scheint er unsicher, ob zwei Teile Analoga sind oder eigentlich nur Varianten desselben Teils. In einem Abschnitt sagt er, die Kopffüßer hätten nur ein »Gehirn-Analogon«, in anderen wiederum schreibt er, sie hätten »ein Gehirn«, was eine Gleichheit mit dem Gehirn der Vierfüßer zu implizieren scheint. Aristoteles erfand kein Antonym für analogon für gleiche Teile »ohne Einschränkung«. Erst 1843 schloss Richard Owen die terminologische Lücke mit dem Begriff »Homologon«. Aristoteles glaubt vermutlich, dass die meisten inneren Organe der Wirbeltiere Homologa in diesem vorevolutionären Sinn sind; zumindest spricht er ohne jede Einschränkung von Herzen, Mägen, Lebern, Gallenblasen etc. bei Eier legenden Vierfüßern, lebend gebärenden Vierfüßern, Vögeln und Fischen.
Die Geometrie der Lebewesen nach De animalium incessu 4
Kleinere Sorten – Rassen, Arten – unterscheiden sich also durch die Vielfalt derselben Teile in Größe und Form; größte Sorten – höhere Taxa – unterscheiden sich durch die Vielfalt in ihren Bauplänen und die Analogie ihrer Teile. Um es abstrakter zu formulieren: Aristoteles korrigiert die Gewichtung seiner Merkmale je nachdem, wo in seiner Klassifikation er sich befindet. Diese Logik ist heute noch die Grundlage der modernen Systematik. Doch sein Sinn für Einheit in der Vielfalt ist oft sehr scharf. Er erkennt, dass seine Begriffe »Analogie« und »das Mehr und das Weniger« zweideutig sind. Wann schließlich ist ein quantitativer Unterschied so ausgeprägt, dass er zu einem qualitativen wird? Vergleicht man das Skelett etwa einer Kuh mit dem einer Sardine, scheint die Unterscheidung zwischen echten Knochen und Gräten eindeutig (für ihn jedenfalls): Sie sind Analoga. Aber, wie Aristoteles anmerkt, während Vögel und Schlangen allgemein Knochen haben, ähneln die von kleinen Vögeln und Schlangen eher den Fischgräten. Bei solchen Tieren, beobachtet er, »schafft die Natur einen Übergang in kleinen Schritten«. Er räumt ein, dass die Grenzen zwischen seinen größten Sorten nicht trennscharf sind, sondern ineinander übergehen. Zu Schlangen und Echsen sagt er: »Schlangen als Sorte haben Teile, die mit denen der Echsen vergleichbar sind (wenn man ihre Länge erhöht und ihre Beine wegnimmt)«, und er nennt sie sogar sungenis – Verwandte. Und obwohl Robben im Wasser leben, sind ihre Flossen nur seltsame Gliedmaßen; sie sind, sagt er, »unvollkommene« oder »verkrüppelte« Vierfüßer.