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XXXV

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Im Vogelsaal des Londoner National History Museum stehen vier alte Vitrinen. Sie zeigen drei verschiedene Betrachtungsweisen der Natur. Die erste ist aus Walnussholz, stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert und ist mit vielleicht tausend Kolibris gefüllt (sie sind allerdings schwer zu zählen). Man hatte sie in der gesamten Neuen Welt gesammelt und in großen Schwärmen installiert, wie um einen unmöglichen Garten Eden der Vogelwelt oder auch den Anflug auf Heathrow darzustellen. Hier, so besagt das erklärende Schild, sieht man die Trochilidae in all ihrer Pracht. Man beachte die Vielfalt und Brillanz ihres Gefieders (im Laufe der Zeit inzwischen verblasst), die unterschiedlichen Längen ihrer Schnäbel und die wechselnde Form ihrer Schwänze; man beachte die endlosen Variationen eines gemeinsamen Themas, geschaffen von einem Schöpfer, aber geordnet vom Menschen. Diese Betrachtungsweise ist typisch für das 18. Jahrhundert, sie steht für die Wissenschaft von Linné und Banks, ihre Freude an den Lebewesen der Neuen Welt und ihren Wunsch, sie festzunageln.

Die zweite Vitrine in der Mitte des Saals ist aus Eichenholz, stammt aus dem Jahr 1881 und enthält weder Arten noch Einzeltiere, sondern Körperteile. Die Vögel wurden zerlegt, sodass nun der Schwimmfuß einer Ente den Fängen eines Greifvogels gegenübersteht und der gebogene Schnabel eines Papageis dem schlanken eines Wiedehopfs. Die Vitrine ist ein Essay zum Thema Funktionalismus. In winzig beschrifteten Etiketten erklärt sie voll pingeliger Didaktik, warum Vögel so unterschiedliche Schnäbel, Füße und Federn haben. Einst muss das sehr modern gewirkt haben.

Die dritte und vierte Vitrine stehen hinten im Saal. Die ausgestopften Vögel sitzen auf Ästen und Blättern, ganz, paarweise, mit ihren Nestern und ihren Jungen. Sie gehören zur Gruppe »Britische Vögel – Nistreihe«. In einer Vitrine drückt sich ein Paar Sturmschwalben gegen hebridische Felsen; in der anderen blickt ein Amselmännchen von einer Weißdornhecke herab, während seine Gefährtin ihre elfenbeinfarbenen Eier bewacht. Diese jüngsten Ausstellungsstücke zeigen die Natur, wie die Romantiker sie besangen und wie wir sie uns gern immer noch vorstellen würden, auch wenn das nicht ganz leicht ist: voller Tiere, die in einer ungestörten, zeitlosen Welt zu Hause sind und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, also ums Paaren und um die Jungenaufzucht. Sie sind auch eine Vision von England, dem England aus Selborne, Der Heukarren, Adlestrop und The Lark Ascending, im Fluge erwischt und in einer Vitrine verewigt. Von den Etiketten erfahren wir ohne Überraschung, dass es dort, wo jetzt zwei Vitrinen stehen, einmal 159 gab, und dass der Rest 1944 von der Luftwaffe zerstört wurde.[]


Vogelteile, Natural History Museum, London, 2010

Die Schönheit der Lebewesen entsteht aus ihrer endlosen Vielfalt, dem Gefühl von Einheit in der Vielfalt, das sie vermitteln, und der Komplexität ihrer Beziehungen. Angesichts der Freigiebigkeit der Natur ist es allzu leicht, sich einem unartikulierten Gefühl der himmlischen Verbundenheit aller Dinge hinzugeben oder aber alles in einem kaleidoskopischen Wirbel vorbeiziehen zu lassen. Haeckel sah auf die Korallengärten von Al-Tur herab und faselte von den magischen Hesperiden, Darwin betrat die Mata Atlântica in Rio und entdeckte die Hingabe – im Angesicht eines Regenwaldes kann schließlich jeder weiche Knie bekommen. Wenn wir jedoch die natürliche Welt verstehen möchten, müssen wir uns auf ihre Bestandteile konzentrieren, sie isolieren und benennen. Wir müssen sezieren, analysieren und etikettieren. Aber wie der Vogelsaal zeigt, gibt es viele Möglichkeiten, sich die Wirklichkeit zurechtzumeißeln, und jeder Schlag enthüllt eine andere Facette. Die Frage, die sich uns stellt, ist also: Wo setzte Aristoteles seinen Meißel an? Was für eine Art von Wissenschaft erfand er?

Die Lagune

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