Читать книгу Die Lagune - Armand Marie Leroi - Страница 52
XXXIX
ОглавлениеAristoteles’ zweite methodologische Einsicht besteht in seiner Lösung für eins der größten Probleme der biologischen Klassifizierung, nämlich die leidige Tendenz von Lebewesen, eine Mischung offenbar unvereinbarer Merkmale zu zeigen. Die Hierarchie der Natur ist nicht ordentlich, genau genommen ist sie ein einziges Chaos. Ordnet man Tiere nach ihrer Fortpflanzungsmethode (Eier legende und lebend gebärende), erhält man zwei Gruppen; klassifiziert man sie nach ihren Gliedmaßen (Beine und Flossen), erhält man ebenfalls zwei Gruppen – aber zwei ganz andere. Es liegen, wie die Taxonomen sagen, Konflikte in den Daten vor, und jede Lösung, wie Aristoteles sagt, birgt die Gefahr, Sorten auseinanderzureißen. Dies ist genau das Problem, das Platons Methode nicht löst. In der Platon’schen Zweiteilung werden die einzelnen Merkmale nacheinander betrachtet, mit unvermeidlich arbiträren Ergebnissen. Aristoteles hat jedoch ein weitaus besseres Gefühl für die Ordnung der Natur. Hier entscheidet er über die Aufteilung einiger Landtiere:
Alle Vierfüßer ohne Flügel haben Blut, aber die lebend gebärenden haben Haare, die Eier legenden haben Schuppen, entsprechend den Fischschuppen. Die Schlangen sind eine Tiersorte, die Blut hat, sich an Land bewegen kann, aber die natürlich keine Beine hat und dazu verhornte Schuppen. Schlangen legen in der Regel Eier, aber die echidna (Kleinasiatische Bergotter) bildet eine Ausnahme, da sie lebende Junge zur Welt bringt. Doch nicht alle lebend gebärenden Tiere haben Haare, manche Fische bringen ebenfalls lebende Junge zur Welt.
Der Trick scheint darin zu bestehen, mehrere Merkmale gleichzeitig – Beine (vier oder keine), Fortpflanzung (lebend gebärend oder Eier legend) und Körperbedeckung (Haare oder Schuppen) – und in Kombination zu betrachten. Drei Merkmale mit jeweils zwei Zuständen ergeben acht mögliche Kombinationen und damit acht mögliche Sorten von Tieren. Aber nur vier gibt es tatsächlich:
behaarte, lebend gebärende Vierfüßer
beschuppte, Eier legende Vierfüßer
beschuppte, Eier legende Keinfüßer
beschuppte, lebend gebärende Keinfüßer
Die ersten drei sind größte Sorten: zōiotoka tetrapoda, ōiotoka tetrapoda, opheis (Schlangen). Die vierte Kombination, die außergewöhnliche Bergotter, ist in jeder Hinsicht eine Schlange mit der Ausnahme, dass sie lebende Junge zur Welt bringt. Wo also sollte sie eingeordnet werden? Ein Platon’scher Taxonom hätte die Bergotter definiert als »beschuppten, lebend gebärenden Keinfüßer« und sie so von allen anderen Schlangen abgesondert. Aristoteles ist scharfsinniger. Für ihn ist eine Sorte eine Gruppe ähnlicher Lebewesen, aber mit unscharfen Rändern.[∗] Recht vernünftig stellt er sodann eindeutig fest, dass die Bergotter, auch wenn sie lebende Junge zur Welt bringt, dennoch eine Schlange ist. Dieser Pragmatismus ist typisch für Aristoteles. Er spricht ständig über Dinge, die »überwiegend« wahr sind, als sei die organische Welt voller Ausnahmen, die man feststellen, von denen man aber nicht allzu viel Aufhebens machen sollte.
Das klingt beiläufig, aber tatsächlich stellen die Herangehensweisen von Platon und Aristoteles an die Einteilung zwei ganz unterschiedliche Arten dar, die Welt zu zerlegen. In »monothetischen« Klassifikationen ist das Vorhandensein eines Merkmalszustandes (z.B. lebend gebärend) notwendig und hinreichend, damit ein Gegenstand in eine Klasse aufgenommen wird (die der lebend gebärenden Tiere); in »polythetischen« Klassifikationen werden Klassen durch die zentrale Tendenz aller Merkmale definiert und für die Klassenzugehörigkeit ist das Aufweisen eines einzelnen Merkmalszustands weder notwendig noch hinreichend.[∗∗] Bei der Beschreibung von genē nimmt Aristoteles eine implizit probabilistische Haltung ein und analysiert Merkmalsmatrix und Merkmalscluster. Er braucht dazu keinen Computer. Bei der Klassifikation achten Menschen natürlicherweise auf viele Merkmale und suchen nach Verbindungen zwischen ihnen. In diesem Sinne sagt Aristoteles, wir sollten mit den genē beginnen, die die meisten Menschen benutzen (Vögel, Fische) – jedenfalls, wenn sie sie richtig benutzen.
Die Bergotter ist nicht der einzige Störfaktor in Aristoteles’ Bestiarium. Strauße, Menschenaffen, Fledermäuse, Robben und Delfine lassen sich ebenfalls schwer klassifizieren. Die meisten dieser Tiere haben Merkmale, die auf entfernte Verwandtschaften hindeuten. Der Ursprung dieses Problems ist für uns so klar, wie er für Aristoteles im Dunkeln lag: die Unwägbarkeiten der Evolutionsgeschichte. Eng verwandte Arten teilen oft viele Merkmale, weil sie von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen. Entfernt verwandte Arten jedoch können aufgrund konvergenter Evolution ebenfalls gemeinsame Merkmale aufweisen – Vögel und Fledermäuse haben Flügel, aber das bedeutet nicht, dass sie verwandt sind. Tiere können auch verwirrende Mosaiken aus ursprünglichen und abgeleiteten Merkmalen sein – man nehme nur das Eier legende, behaarte, Milch absondernde, Schnabel tragende Schnabeltier. Die Geschichte der Systematik lässt sich als die Suche nach einer Lösung für solche Wirren schreiben. Aristoteles hat vielleicht nicht den Grund verstanden, aber er sah die Konsequenzen und beschäftigte sich mit ihnen. Er nannte Tiere, deren Körper in zwei Richtungen zeigten, epamphoterizein – eine Zwischenstellung einnehmend.
Aristoteles klassifiziert einige Zwischentiere, indem er wie bei der Bergotter die Grenzen einer bestehenden größten Sorte verwischt. Der strouthos Libykos (Strauß, wörtlich »libyscher Spatz«) scheint, alles in allem, ein Vogel zu sein. Beim Berberaffen meidet er Schlussfolgerungen. Er sagt, er habe einige menschliche Merkmale (Gesicht, Zähne, Wimpern, Gliedmaßen, Hände, Brust, weibliche Genitalien, kein Schwanz), einige Vierfüßermerkmale (Haare, Hüften, allgemeine Proportionen, männliche Genitalien) und einige einzigartige Merkmale (Hinterfüße, die wie Hände aussehen), nicht aber, an welche Stelle seiner Klassifikation er gehört. Zum Delfin dagegen äußert er sich entschieden radikal.