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XXXI

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Im Hinblick auf die physiologoi räumt Aristoteles ein, dass einer von ihnen nicht vollkommen ahnungslos war. »Wer auch immer sagte, dass in der Natur wie in den Tieren der Geist als Ursache aller Ordnung und Gliederung gegenwärtig sei, stand wie ein besonnener Mann da im Vergleich zu den wahllosen Äußerungen derer, die vor ihm kamen.« Der Adressat dieses zweifelhaften Kompliments war Anaxagoras von Klazomenai (um 500–428 v. Chr.). In Anaxagoras’ Kosmologie, denn auch er hatte eine verfasst, begann der Kosmos mit einer Mischung verschiedener Arten ewig bestehender Materie. Diese Mischung wurde durch das Handeln von nous – »Intelligenz« – in Bewegung gesetzt, sodass sich die Zutaten teilweise trennten und zu den verschiedenen Arten von Materie wurden, die wir heute sehen. Die Fragmente verraten uns weder, was die Zutaten waren noch die Rezepte für bestehende Materie oder die Quelle der Intelligenz; es scheint jedoch, als sei Anaxogoras’ Intelligenz nicht so sehr ein Konstrukteur gewesen als vielmehr die Energiequelle des kosmologischen Mixers.

Im Phaidon tut Sokrates seine Enttäuschung darüber kund. Damals, sagt er, als er sich noch für Naturwissenschaften interessierte, hatte er gehofft, als Anaxagoras die Intelligenz zur Ordnung und Ursache der Dinge machte, dass er, Anaxagoras, auch erklären würde, warum die Dinge so geordnet sind, wie sie es sind, warum eigentlich sie auf die bestmögliche Weise geordnet sind. Aber dann kaufte er Anaxagoras’ Bücher und erkannte, dass »der Mann keinen Nutzen aus der Intelligenz zog und ihr keine Kausalität für die Ordnung der Welt zuschrieb, sondern Ursachen wie Luft und aithēr und Wasser und viele andere Absurditäten dafür anführte«.

Das ist genau die Reaktion, die wir von Sokrates erwarten würden. Unerwarteterweise stößt Aristoteles größtenteils ins selbe Horn. Denn einige Seiten nachdem er Anaxagoras zu seiner Beschwörung der Intelligenz beglückwünscht hat, macht Aristoteles einen Rückzieher und beschuldigt ihn, die Intelligenz als deus ex machina zu missbrauchen, sie nur hervorzuziehen, wenn er nicht weiterweiß, und allgemein Ereignisse durch die Berufung auf alle möglichen anderen Ursachen zu erklären. Das Problem ist nicht, dass Anaxagoras die Intelligenz beschwört, sondern dass er ihr nicht freien Lauf lässt. Wenn wir Sokrates/Platon und Aristoteles, Ersterer der Wissenschaft gegenüber so feindlich eingestellt, Letzterer ihr so unbedingt verschrieben, in ihrer Schmähung eines dritten (oder ist es ein vierter?) Philosophen so traut vereint sehen, können wir sicher sein, dass wir eine tiefe Verbindung zwischen ihnen entdeckt haben. Und genau das stellt sich auch heraus. Denn Aristoteles’ Überzeugung, dass der Kosmos durch Ziele oder Zwecke erklärt werden muss, hat er als junger Mensch bei Platon gelernt.

Erklärungen, die auf Ziele oder Zwecke oder Zweckursachen Bezug nehmen, sind als »teleologische« Erklärungen bekannt. Der Begriff leitet sich von telos – »Ende« – ab und wurde 1728 von dem deutschen Philosophen Christian Wolff geprägt. Die immerwährende Faszination teleologischer Erklärungsansätze besteht darin, dass sie die Existenz zweckhaft wirkender Prinzipien zu fordern scheinen, indem sie der Welt einen Zweck zuschreiben; tatsächlich werden die Phänomene, die sie erklären, zu Belegen dafür, dass solche Prinzipien existieren. Aus diesem Grund beschrieb William Paley in seiner Natural Theology (1802) die funktionelle Perfektion des Augenlids:

Unter allen Außenwerken des tierischen Körpers kenne ich keines, das nach Verrichtung und Bau mehr Aufmerksamkeit verdiente als das Augenlid. Es schützt das Auge, es reinigt es, es schließt es zum Schlafe. Kann bei irgendeinem Werk der Kunst der Zweck, den der Künstler sich vorgesetzt, deutlicher in die Augen springen als bei den Diensten, die das Augenlid leistet? Oder wäre wohl eine Einrichtung denkbar, die diesen Zwecken auf angemessenere, sinnreichere Weise entspräche?

Und aus demselben Grund tat es auch Sokrates:

Und von alledem abgesehen, meinst du nicht, dass dies Voraussicht ist, dieses Schließen der empfindlichen Augäpfel mit Augenlidern wie mit Falttüren, die, wenn sie für irgendeinen Zweck gebraucht werden, weit geöffnet werden können und im Schlafe wieder fest geschlossen?

Sokrates argumentiert weiter, dass die Voraussicht und der Zweck, die sich im Augenlid manifestieren, von Gott stammen, »einem weisen Handwerker voller Liebe für alles Lebendige«. Zum ersten Mal in der Geschichte tritt hier das Argument vom Plan in Erscheinung, auf das sich Paleys Natural Theology und die Bridgewater Treatises (1833–40) gründen. Es ist eine Geste gegenüber den Darstellungen, die Sokrates vergeblich bei Anaxagoras und anderen physiologoi suchte, die ihn aus der phänomenalen Welt zum Schönen und Guten und Göttlichen führen würden. Es handelt sich mit größter Wahrscheinlichkeit um Sokrates’ Argument, denn es taucht in Xenophons Memorabilien auf statt in Platons Werken. Aber wo Sokrates sich nur vor einer Darstellung der Welt verneigte, schrieb Platon eine – oder etwas, das wie eine aussieht.

Der Timaios mag ein »Schöpfungsmythos« sein, aber da Platon ihn verfasste, wuchern zwischen den Scherzen und den moralisierenden Teilen die Konzepte. Natürlich enthalten auch die Genesis und der Rigveda Konzepte, und die im Timaios wären für die Wissenschaftsgeschichte ebenso irrelevant wie diese, wenn nicht Aristoteles den Timaios gelesen und seinen konzeptionellen Ansatz in das Gold wissenschaftlicher Erklärung verwandelt hätte.

Die Schöpfungsgeschichte, die Platon erzählt, handelt von intelligenten Entwürfen. Der Kosmos und seine Lebewesen existieren und sind schön, weil ein göttlicher Handwerker, der Dēmiourgos, sie so erschaffen hat. Platon, kein Zoologe, erwähnt nur sechs Arten von Lebewesen: die himmlischen Götter (alias Sterne und Planeten), Menschen, Landtiere, Vögel, Fische und Schalentiere. Dennoch hat er viel darüber zu sagen, wie und warum der Dēmiourgos sie so erschuf, wie sie sind.

Seine Darstellung unseres Verdauungstraktes enthüllt die Prioritäten in der Konstruktion des Dēmiourgos. Unsere Eingeweide, sagt Platon, sind in Schlingen aufgerollt, um dafür zu sorgen, dass die Nahrung nicht zu schnell hindurchfließt. Die Schlingen beschränken also die Menge an Nahrung, die wir essen können. Das ist gut, denn wenn wir essen, werden wir »taub gegenüber dem Befehl des göttlichsten Teils unserer Natur« – wir fressen uns wortwörtlich dumm und dämlich – und können daher nicht denken, und das ist schlecht. Philosophie, so scheint es, beginnt im Darm.

Der Dēmiourgos ist auch bemerkenswert weitsichtig. Platon erklärt, dass wir Fingernägel haben, »denn unsere Gestalter wussten, dass eines Tages aus Männern Frauen und auch Tiere werden würden und dass viele Lebewesen Nägel (Klauen und Hufe) für viele Zwecke brauchen würden; daher legten sie die Rudimente dieser Anhängsel gleich bei der Entstehung der Menschheit an«. Man ist versucht anzunehmen, dass Platon hier an Evolution denkt und dass Fingernägel Voradaptationen für Klauen sind. Das würde diese Passage seltsam, aber interessant machen; tatsächlich ist sie aber seltsam und langweilig. Es ist nur einer seiner bizarren Umwandlungsfantasien, ähnlich der, nach der aus Astronomen Vögel werden.

Nicht, dass im Timaios keine interessanten Konzepte enthalten wären. Aristoteles nutzt viele von ihnen in seinen zoologischen Abhandlungen. Aber Platon glaubt typischerweise nicht, dass wir seine göttliche Teleologie aus wissenschaftlichen Gründen annehmen sollten. In Die Gesetze erklärt er, dass Materialismus – der Materialismus des Empedokles und des Demokrit – bösartig sei, denn da er auf den göttlichen Zweck verzichte, führe er in den Atheismus und damit in die soziale Unordnung. In jeder von Platons Geschichten steckt ein moralischer Stachel.

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