Читать книгу Die Lagune - Armand Marie Leroi - Страница 34
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ОглавлениеAristoteles beschreibt die innere Anatomie von etwa 110 verschiedenen Tieren. Bei etwa 35 davon sind seine Angaben so umfassend oder akkurat, dass er sie selbst seziert haben muss. Die Qualität seiner Arbeit in ihrer besten Form lässt sich an dem messen, was er über die Anatomie des Tintenfisches sagt. Hat man ein Exemplar vor sich, ist es einfach, seiner Beschreibung zu folgen.
Wir legen unseren Tintenfisch – schlaff, bleich, klebrig – auf den Tisch. Wir beginnen, so wie er, mit den äußeren Teilen: dem Mund, seinen beiden scharfen Kiefern, den acht Armen, zwei Tentakeln, dem Mantelsack und den Flossen. Dann müssen wir hinein. Aristoteles sagt uns nicht, wie. Vielleicht hat er einfach die Tentakeln mit einer Hand festgehalten, den Mantel mit der anderen und ihn auseinandergerissen – so jedenfalls hätte es eine griechische Hausfrau gemacht. Wir sollten ihm nicht die Geschicklichkeit, Geduld und feinen Instrumente eines modernen Anatomen zuschreiben, aber etwas vorsichtiger war er sicherlich. An anderer Stelle beschreibt er, wie er die Haut vom Gesicht eines Maulwurfs schneidet, um die verkrüppelten Augen darunter freizulegen.
Wie dem auch sei, wir schlitzen den Mantel von den Tentakeln zum Schwanz längs auf. Ein Bauchschnitt legt die Fortpflanzungsorgane frei, ein Schnitt in den Rücken den Schulp und darunter eine große rote Struktur, die er mytis und Verdauungssystem nennt. Wir wollen an dieser Stelle seinen anatomischen Beschreibungen nicht in allen Details folgen, sondern nur auf zwei bemerkenswerte Dinge hinweisen, die er tut.
Zunächst fällt ihm auf, dass sich zwischen den Augen mit ihren irisierenden Spiegelhäuten und den schwarz geschlitzten Pupillen ein Knorpel befindet. Trägt man ihn vorsichtig ab, legt man zwei kleine, weiche, gelbliche Wölbungen frei: das Gehirn des Tintenfisches. Es ist sehr leicht zu übersehen oder versehentlich zu beschädigen, aber er findet es. Hat man es erst entdeckt, ist die Struktur des Neuralgewebes unverkennbar.
Zweitens folgen wir dem Verdauungstrakt. Wir beginnen am Mund, folgen der Speiseröhre durch das Gehirn und durch die mytis bis zum Magen, den Aristoteles so treffend mit dem Kropf eines Vogels vergleicht. Hier befindet sich ein weiterer Beutel, das spiralige Caecum, das er mit der Schale einer Kronenschnecke vergleicht. Der Darm entspringt aus dem Caecum, aber während er bei den meisten Tieren nach hinten verläuft, tut er das hier nicht. Stattdessen macht er eine Schlaufe nach vorn, sodass das Rektum seinen Ausgang in der Atemöffnung hat. Er bemerkte damit eins der seltsamsten Merkmale in der Anatomie der Kopffüßer: dass sie auf ihren Kopf koten.
Einiges versteht Aristoteles auch falsch. Er glaubt, dass die mytis – ein großes, zentrales Organ – das Tintenfisch-Äquivalent eines Herzens ist. Nein – es ist das Tintenfisch-Äquivalent einer Leber. Im 17. Jahrhundert entdeckte Swammerdam die wahren Herzen – alle drei. Aristoteles bemerkt auch »fedrige Wucherungen« in der Mantelhöhle, erkennt sie aber nicht als Kiemen, obwohl sie denen eines Fisches sehr ähnlich sehen. Muskeln und Nerven nimmt er gar nicht wahr.
Fehler sind zu erwarten. Aber etwas Wichtiges fehlt – nicht beim Tintenfisch, sondern im Buch. Der Historia animalium fehlt das, was jeden modernen tierkundlichen Text auszeichnet: Schaubilder. Ohne sie kann Anatomie nicht wirklich gelernt oder gelehrt werden. Erst durch Abstraktion und Visualisierung wird die logische Struktur der tierischen Form deutlich. Wie jeder Anatom weiß, kann man erst richtig sehen, wenn man zeichnet. Und gerade als wir uns fragen, wie Aristoteles ohne Schaubilder durchkam, stoßen wir auf Folgendes
Einzelheiten zur Anordnung dieser Teile sollten den Schaubildern der Anatomie entnommen werden.
Es gab ein ganzes Buch von ihnen. Acht sogar, so jedenfalls behauptet Diogenes Laertios. Philosophen bedauern den Verlust von Aristoteles’ Protrepticus, einer frühen Zusammenfassung seiner Philosophie. Aber die zumindest lässt sich über diejenigen rekonstruieren, die sie zitieren. Ich betrauere Die Anatomien, denn sie gingen vollständig verloren.
Wie sah ein anatomisches Schaubild aus dem vierten Jahrhundert aus? Vielleicht ein wenig wie die Fischbilder auf der apulischen Keramik. Aber sicherlich skizzenhafter, denn Aristoteles war kein professioneller Künstler und hatte einen didaktischen Auftrag zu erfüllen. Ein Umriss also in raschen schwarzen Pinselstrichen, mit alphabetischen Bezeichnungen (A, B, Γ, Δ) für die verschiedenen Teile – teilweise bezieht er sich explizit darauf. Wir können versuchen, seine Schaubilder zu rekonstruieren, aber tatsächlich können wir nur raten. Man hat undefinierbare alte Texte auf Papyrus gefunden, der um ägyptische Mumien gewickelt oder in sie gestopft worden war. Ein Schaubild des menschlichen Herzens von Aristoteles könnte also durchaus noch irgendwo im ausgeräumten Brustkorb einer hellenistischen Leiche existieren, aber ein befreundeter Papyrologe sagte mir, die Chancen, so etwas zu finden, seien vergleichbar mit denen, einen lebenden Dinosaurier im Kongo zu entdecken. Trotzdem, wenn ich annähme, dass ein Exemplar von Die Anatomien im ägyptischen Sand vergraben liegt, würde ich graben, bis ich es gefunden hätte, bis ich sehen könnte, was er gesehen hat, wie er es gesehen hat.
sēpia – Gewöhnlicher Tintenfisch – Sepia officinalis. Anatomie nach Historia animalium, Buch IV