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XIV

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Um nach Lesbos zu gelangen, nimmt man am besten die Abendfähre von Piräus. Wer jung oder arm oder abgehärtet ist, nimmt einen Platz an Deck – für dreißig Euro kommt man so über die Ägäis. Man muss sich dann allerdings einen Platz zwischen den Sinti- und Roma-Familien suchen, die in den Treppenaufgängen kampieren, den Soldaten, die zu ihren Inselgarnisonen zurückkehren und die Bar belagern, oder den Bauern, die in ihre Olivenhaine zurückfahren und sich in der Lounge häuslich niederlassen. Oder man nimmt doch lieber eine Kabine – die Reise dauert immerhin zwölf Stunden.

Athen fällt zurück und man ist mitten im Blau. Um drei Uhr morgens dockt das Schiff in Chios an. Es ist so groß, wie der Hafen klein ist, und so dreht es sich mit heulenden Turbinen um seine eigene 135-Meter-Achse, um hineinzugelangen. Weiß uniformierte Hafenpolizisten lassen im Flutlicht ihre Pfeifen schrillen und schwenken ihre Arme, um die Containerfahrzeuge und die eigentlich unkontrollierbaren Fußpassagiere zu choreografieren. Und doch läuft alles unwahrscheinlich effizient ab. Eine halbe Stunde später dröhnt das Schiffshorn über die schlafende Stadt, die Fähre dreht sich erneut und sieht sich wieder der Ägäis gegenüber.

Vor der roten Morgendämmerung tauchen die schwarzen Umrisse der türkischen Küste auf. Lesbos erscheint im zunehmenden Licht, erst der kiefernbestandene Olympos und dann die felsige Südküste. Kap Malea wird umrundet: Lesbos liegt jetzt backbord, Assos bugseitig steuerbord und bald kommt Mytilini in Sicht, die Marmorkuppel der Kathedrale blendend weiß in der Morgensonne.

Ich habe ein Mytilini-Ritual. Sobald das Schiff andockt, rufe ich Giorgos K. an und verabrede mich mit ihm in einem Hafencafé. Er ist theoretischer Ökologe an der örtlichen Universität und mein ältester und liebster Freund auf der Insel. Unsere Gespräche schlagen immer denselben Bogen: erst Wissenschaft, dann Frauen – Fortschritte und Schwierigkeiten auf beiden Gebieten. Er ist von unberechenbarer Sinnlichkeit, verströmt seinen Charme allzu großzügig und, da sind sich seine Freunde einig, verdient seine wunderschöne Frau nicht. Diese Gespräche sind für uns wie die Jahresringe unserer Freundschaft.

Ich erwähne ihn hier, weil er es war, der mir Kalloni zeigte. Wir fuhren in Richtung Norden aus Mytilini heraus, umrandeten den Golf von Gera, Kallonis graue kleine Schwester, schlugen uns dann in südwestlicher Richtung durch die kiefernbestandenen unteren Hänge des Olympos und kamen bei Achladeri heraus, wo die Lagune sich überraschend weit vor unseren Augen auftat. Es gibt dort eine ausgezeichnete Fischtaverne, Olivenhaine und, so heißt es, ein paar Überreste der alten Stadt Pyrrha, die sich einst die Küste hinunter bis in die benachbarten Dörfer zog, die ich jedoch nie gefunden habe.

Die Archäologie liefert hier jedoch nicht die Grundlage, sondern das Buch und die Insel. Von allen Orten in der östlichen Ägäis, an denen Aristoteles gelebt hat, ist Lesbos der bezauberndste. Hier, an dieser öden, ausgedörrten Küste, ist die Natur so üppig präsent und verführerisch wie nirgends sonst; und nirgendwo auf Lesbos so wie bei Kalloni. An einem Frühlingsmorgen in einem der Dörfer an der Küste von Kalloni an die Hafenmauer zu gehen, ist so, als sähe man Historia animalium zum Leben erwachen. Man sieht Aristoteles’ Fische – perkē, skorpaina, sparos und kephalos – hinten auf den Kleinlastern der Käufer nach Luft schnappen.[] Dies sind die Namen, die Aristoteles verwendete und für diese Fische zumindest gilt, dass man sie immer noch unter diesen Bezeichnungen kaufen kann. Man kann auch einen Eimer Tintenfische kaufen und sie seinem Text folgend sezieren. Man kann sich über die Hafenmauer lehnen, ins Wasser greifen und Seescheiden, Seeanemonen, Seegurken, Napfschnecken und Krabben heraufholen – die er alle beschrieben hat. Die Decks der Fischerboote sind übersät mit den Häusern und Eihüllen der Murex-Schnecken, die den Boden der Lagune überschwemmen und deren Fortpflanzungsgewohnheiten ihn so faszinierten. Man sieht Bienenfresser, die hübschesten der Frühlingszieher, mit ihrem türkis-golden-ocker-grünen Gefieder auf den Sandbänken nisten, genau wie er es beschreibt. Thompson drückt es so aus: »Der glückliche Naturforscher, der einmal einen ruhigen Sommer an dieser stillen Lagune verbringt, wird dort all den natürlichen Reichtum, ὅσσον Λέσβος… έντὸς ἐέργει[∗∗] finden und zu seinen Füßen die Kreaturen erkennen, die Aristoteles kannte und liebte.« Ich habe es ausprobiert: Er hat recht.

Meine lesviotischen Freunde mögen mir nachsehen, dass ich die Insel »Lesbos« nenne und nicht »Lesvos« nach ihrem offiziellen heutigen Namen, da sie Aristoteles in dieser Form bekannt war und auch den meisten Lesern so bekannt sein dürfte.

Wenn Aristoteles das Meer bei Pyrrha nennt, meint er gewöhnlich die euripos oder »Meerenge«, den Eingang zur Kolpos Kolloni. Die Lagune selbst wird treffender beschrieben als limnothalassa oder »Seemeer«.

bl. = blühte; wenn weder Geburts- oder Todesdatum bekannt ist, der Zeitraum des Auftretens jedoch belegt ist.

∗∗ Für die Beschreibung von Thales’ Ansichten benutzt Aristoteles Begrifflichkeiten, die erst nach Thales’ Tod erfunden wurden (z.B. archē – Ursprung oder Prinzip). Allein daraus ergibt sich schon eine gewisse Unsicherheit, ob wir wirklich wissen, was Thales tatsächlich meinte.

Man beachte, dass der Spott sich auf einen Versuch richtet, ein ernsthaftes wissenschaftliches Problem zu lösen: die kognitiven Grundlagen der Harmoniewahrnehmung.

Altgriechische – moderne griechische Namen: perkē – perka; skorpaina – skorpiomana; sparos – sparos; kephalos – kephalos. Deutsche Trivialnamen und lateinische Artnamen: siehe Anhang A2.

∗∗ »alles, was es auf Lesbos gibt«: Ilias XXIV.

Die Lagune

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