Читать книгу Die Lagune - Armand Marie Leroi - Страница 26
XVI
ОглавлениеIn der Sammlung von Abhandlungen, die wir unter Metaphysik kennen, untersucht Aristoteles die fundamentale Wirklichkeit. Seine Konzepte sind nicht einfach zu begreifen: Mit der Exegese seiner 13 Bücher beschäftigen sich Gelehrte schon seit Jahrhunderten und werden das sicher noch weitere Jahrhunderte tun. Glücklicherweise müssen wir ihnen nicht folgen, um das Lichte in seinen einleitenden Worten zu erkennen:
Alle Menschen verlangt es von Natur aus nach Wissen. Ein Hinweis darauf ist die Freude, die uns unsere Sinne machen; unabhängig von ihrer Nützlichkeit lieben wir sie um ihrer selbst willen, vor allem den Gesichtssinn. … Der Grund dafür liegt darin, dass er uns von allen Sinnen am meisten mit vielen Unterschieden zwischen den Dingen bekannt macht und sie ans Licht bringt.
Aristoteles meint »wissen« nicht nur im Sinne von »verstehen«, sondern auch im Sinne von »wahrnehmen«. Daher sollten wir seine Worte zunächst als Behauptung begreifen, dass der Mensch sich an der Benutzung seiner Sinne erfreut, und der Grund dafür liegt darin, dass sie ihm die Wahrnehmung all der verschiedenen Dinge ermöglichen, aus denen die Welt zusammengesetzt ist. Das ist jedoch nur sein Eröffnungszug. Denn Aristoteles argumentiert weiter, dass »wissen« im Sinne von »wahrnehmen« die Grundlage für »wissen« im Sinne von »verstehen« ist, ja sogar eine Voraussetzung für Weisheit. Warum er diese Aussage ganz am Anfang der Metaphysik macht, ist klar. Aristoteles stellt seine Schlachtstandarte auf und erklärt dem Idealismus der Akademie den Krieg. Sein Projekt ist nicht das von Platon, denn es betrifft diese Welt – und er möchte, dass wir das wissen.
Um von der Wahrnehmung zur Weisheit zu gelangen, gibt uns Aristoteles eine Hierarchie des Verstehens an die Hand. Wenn wir etwas wahrnehmen, sagt er, eignen wir uns eine Erinnerung davon an. Und viele Erinnerungen an eine Sache ermöglichen es uns, allgemeine Rückschlüsse über sie zu ziehen. Anhand von Erinnerungen an Sokrates und Platon zum Beispiel können wir verallgemeinernde Aussagen über »Menschen« treffen. Hier eröffnet Aristoteles eine weitere Front gegen Platon, der behauptete, dass wir mit allem Wissen geboren werden, das wir besitzen – sogar mit allem Wissen, das wir besitzen können, allem Wissen der Welt. Nur leider haben wir es vergessen; unsere Aufgabe ist es daher, dieses Wissen wiederzuerlangen. Eine solche Epistemologie ist natürlich ein Aufruf zu empirischem Quietismus. Wenn wir schon alles wissen, dann brauchen wir die Welt nicht wirklich zu untersuchen; wenn wir nur genügend über sie reden, erinnern wir uns vielleicht wieder an alles. Es ist kein Zufall, dass Platon Dialoge schrieb.
Aber Worte sind für Aristoteles nur Schall und Rauch. Selbst Erfahrung, auch wenn sie für Kunst und Wissenschaft nötig ist, reicht nicht. Aristoteles erklärt, warum das so ist, indem er einen nicht sehr klugen, aber praktisch veranlagten Arzt heraufbeschwört. Einen von der Art, die annehmen, dass eine Medizin, die bei einem Menschen wirkt, bei einem anderen wahrscheinlich auch wirken wird, die aber weder verstehen noch sich darum kümmern, warum sie überhaupt wirkt. Ein solcher roher Empirismus hat seinen Nutzen, sagt Aristoteles, verdient aber nicht wirklich Bewunderung. Tatsächlich ist er sehr streng mit dem reinen Empirismus und vergleicht Arbeiter, die durch Routine erlernte Aufgaben ausführen, mit »leblosen Dingen«: Sie tun, was sie tun, einfach deshalb, weil sie es tun.[∗] Werkmeister, die das Warum ihrer Handwerkskunst begreifen, sind »ehrenhafter und wissen in einem wahreren Sinn und sind weiser« als solche Maschinenmenschen. (Politik 1253B31: »Ein Sklave ist ein lebendes Werkzeug …«)
Der Mensch, der lehren kann, ist dem Menschen überlegen, der es nicht kann, weil er versteht. Dies ist eine ganz natürliche Sichtweise für jemanden, der sein Leben genau damit verbracht hat. Er kann außerdem Dinge erfinden und, fährt Aristoteles fort, Erfinder sind zu bewundern. Aber – man ahnt, wohin das steuert – manche Erfinder sind bewundernswerter als andere. Erfinder, die nützliche Dinge herstellen, sind denen unterlegen, die Erfindungen machen, die »der Unterhaltung dienen«. Das klingt verdreht, aber er meint damit, dass das Hervorbringen reinen Wissens besser ist als das Hervorbringen nützlichen Wissens. Wie in seiner gesamten Argumentation erweitert er hier unglückliche Unterscheidungen zwischen den Formen des Verstehens auf die Menschen, denen sie zu eigen sind. Und so verfällt er in den offenen Snobismus – inzwischen ausgestorben, aber noch zu unseren Lebzeiten bestehend – des reinen Wissenschaftlers gegenüber dem Ingenieur und des Ingenieurs gegenüber dem Gärtner. Genau diese Haltung ist mit unseren eigenen egalitären Instinkten schwer vereinbar, aber ich möchte den verärgerten Leser an dieser Stelle daran erinnern, dass Aristoteles eine neue Art von Philosophie begründet: eine, die sich weder mit der Suche nach absoluten Werten befasst noch auf einer perfekten Welt jenseits der Sinne basiert. Seine Philosophie schließt Schmutz, Blut, Fleisch, Wachstum, Kopulation, Fortpflanzung, Tod und Verfall mit ein – die täglichen Erfahrungen des Bauern und des Fischhändlers. Er muss seine Zuhörer überzeugen, die Elite einer stark stratifizierten Gesellschaft, dass das Wissen, das aus der Betrachtung solcher Dinge erwächst, von hohem Wert ist und dass diejenigen, die nach ihm streben, es auch sind.