Читать книгу Die Lagune - Armand Marie Leroi - Страница 22
XIII
ОглавлениеIm Jahre 345, als Hermias noch herrschte, brachte Aristoteles seine Braut nach Lesbos, um dort mit ihr zu leben. Der Romantiker Thompson nannte die zwei Jahre, die Aristoteles auf der Insel verbrachte, »die Flitterwochen seines Lebens«. Vielleicht waren sie das; aber tatsächlich weiß man nichts darüber, was Aristoteles tatsächlich dort tat, denn er hinterließ uns keine Tagebücher oder Notizbücher und die alten Biografen schweigen sich aus. Doch wenn D’Arcy Thompson recht hat, begann er auf Lesbos mit der großen Aufgabe, die Welt des Lebendigen zu kartieren und zu verstehen.
Vielleicht war es ein Gespräch, ein zufälliger Kommentar, der eine erregte Antwort hervorrief. Und dann mehr Reden und noch mehr, bis eine Vision des ganzen gewaltigen, beängstigenden, faszinierenden Gebildes entstand. Ein reizvoller Gedanke – dass die Biologie so ihren Anfang nahm. Und nicht einmal ein unplausibler. Denn als Aristoteles nach Lesbos ging, hatte er offenbar mindestens einen Philosophen dabei, mit dem er reden konnte: einen Mann, der einer seiner engsten Freunde werden und seinen intellektuellen Reichtum erben sollte.
Tyrtamos wurde in Eresos geboren, einer Stadt an der Südwestküste von Lesbos. Durch die Täler um Eresos zogen sich grüne Weingärten; die Stadt war berühmt für ihren Wein. Heute sind diese Wälder trocken und unbebaut, doch die Überreste der alten Terrassen sind dort noch zu sehen. Wir wissen nicht, wann und wie Tyrtamos und Aristoteles sich kennenlernten. Möglicherweise war der jüngere Mann – 13 Jahre trennten ihn von Aristoteles – einer seiner Schüler aus der Akademie, der ihm nach Assos gefolgt war. Wenn dem so war, zeigte Tyrtamos seinem Meister nun sein Heimatland. Oder vielleicht war Tyrtamos nie in Athen gewesen und lernte Aristoteles erst auf Lesbos kennen – ein eloquenter junger Einheimischer, der den berühmten Besucher beeindruckte. Wir sind noch nicht einmal sicher, wie er wirklich hieß: Strabo sagt »Tyrtamos«, Diogenes Laertios meint »Tyrtanios«. Eigentlich ist die Schreibweise nicht weiter wichtig, weil Tyrtamos/Tyrtanios bald vergessen war. Aristoteles gab dem jungen Mann den Namen Theophrastos, was so viel bedeutet wie »Göttliche Rede«. Er sollte Aristoteles’ engster Mitarbeiter werden. Sokrates – Platon – Aristoteles – Theophrastos: Wir kennen nun das nächste Glied in der goldenen Kette.
»Göttliche Rede« ist ein seltsamer Name für einen Mann, dessen Schriften bei aller Bedeutung so trocken sind wie der Boden im Sommer. Eins seiner überlieferten Bücher heißt Charaktere und ist eine Enzyklopädie von Menschen, die man besser meiden sollte – der Grobian, der Geizige, der Redselige und immer so weiter. Es ist genauso langweilig, wie es klingt. Theophrastos schrieb auch Bücher über Logik, Metaphysik, Politik, Ethik und Rhetorik – also das gesamte aristotelische Spektrum –, die jedoch nicht überliefert sind. Seine botanischen Werke jedoch haben die Zeiten überdauert. Und sie sind hervorragend.
Theophrastos verfasste zwei botanische Werke. Eins davon, Historia plantarum, ist eine beschreibende Arbeit, in der er die Teile der Pflanzen identifiziert und mit ihrer Hilfe Pflanzen in Gruppen einteilt – Bäume, Sträucher, Halbsträucher, Kräuter –, die bis in die Renaissance ihre Gültigkeit behielten. Im anderen, De causis plantarum, beschreibt er, wie Pflanzen wachsen. Er untersucht die Auswirkungen der Umwelt auf ihr Wachstum, erörtert den Anbau von Bäumen und Feldfrüchten und analysiert die Krankheiten der Pflanzen und warum sie sterben. Zusammen sind diese Arbeiten für das Studium der Pflanzen das, was Aristoteles’ Arbeiten für das Studium der Tiere sind – die Gründungsdokumente der zugehörigen Wissenschaft.
Es ist eine bezaubernde Einbildung, sich die beiden Philosophen vorzustellen, wie sie durch einen Olivenhain schlendern, nicht allzu weit von der Lagune entfernt, und die natürliche Welt unter sich aufteilen. Wie sie sich auf eine Zusammenarbeit anstelle von Konkurrenz einigen, wie es sich für zwei echte Wissenschaftler geziemt: »Du übernimmst die Pflanzen, ich die Tiere – und zusammen legen wir die Fundamente der Biologie.« Bezaubernd, aber zu einfach. Theophrastos schrieb Bücher über Tiere und Aristoteles mindestens eins über Pflanzen; in beiden Fällen sind sie jedoch nicht überliefert. Dass die Botaniker den einen als den Begründer ihrer Wissenschaft ansehen und die Zoologen den anderen, scheint größtenteils auf die Wechselfälle der Geschichte zurückzuführen zu sein – welche Texte nämlich die Mönche zur Bewahrung wählten. Dennoch kann es kein Zufall sein, dass Aristoteles sich in der Heimat des anderen großen Biologen der Antike dem Studium der Tiere verschrieb. Ihre Forschungsprogramme und Lebensläufe sind eng miteinander verknüpft. Theophrastos war nach Aristoteles Leiter des Lyzeums und erbte seinen am höchsten geschätzten Besitz: die Bibliothek.
Jedoch sind sie ganz unterschiedliche Denker. Wo Aristoteles selten vor einer kühnen Erklärung zurückscheut, ist Theophrastos zurückhaltend empirisch; wo Aristoteles synoptisch vorgeht, macht sich Theophrastos lieber Gedanken um Schwierigkeiten. Auf dieser Grundlage wird häufig angenommen, dass Aristoteles die Zusammenarbeit dominierte, und sicher konnte man ihm schwer widerstehen. Dennoch fragt man sich angesichts der Tatsache, dass beide auf Lesbos lebten, wer von ihnen wohl zuerst auf die Idee kam, Lebewesen zu studieren. Wer überzeugte wohl wen?